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Charles Dickens

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Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth geboren. Aber schon vier Jahre später ziehen seine Eltern nach Chatham. Und dort, in der kleinen Südenglischen Hafenstadt, empfängt Charles seine ersten bleibenden Eindrücke.

Er ist zart und kränklich. Da er wenig unternimmt, beobachtet er umso lebhafter, und was er nicht sieht, ergänzt seine Phantasie. So mehr mit Träumen als Spielen verbringt er seine Kindheit.

Er ist elf, als ein neuerlicher Umzug sein Leben von Grund auf verändert. Ursache dieser Übersiedlung sind finanzielle Schwierigkeiten seines Vaters. Offenbar waren Schulden nicht die gewünschte Empfehlung für einen Zahlmeister der britischen Flotte und eines Tages sah sich der muntere Dickens ziemlich plötzlich aus Chatham versetzt und abgeschoben nach London.

Und nun sitzen sie dort – in der Stadt, die schon seit Generationen alle auffängt, die irgendwo im Vereinigten Königreich ins Rutschen gekommen sind. Aber noch geht es weiter abwärts. Zuerst erscheint der Gerichtsvollzieher, dann ziehen Vater und Familie ins Schuldgefängnis.

Sie finden eine ausgesuchte, aber bunte Gesellschaft in ihrer neuen Behausung vor, denn die merkwürdigsten Ursachen haben hier die merkwürdigsten Leute zusammengeführt. Mit weit aufgerissenen Augen erfasst Charles das groteske Nebeneinander der Tragik und Komik, das dieser Versammlung gestrandeter Existenzen ziemlich ausnahmslos anhaftet.

Das Lächerliche stets neben dem Ernsten zu finden, erscheint ihm seither bezeichnend für jedes menschliche Schicksal. Und er wird später nicht müde werden, uns das ewig Tragikomische unseres Daseins vor Augen zu halten.

Hätte England nicht aus angeborener Trägheit für gut befunden, seine Schuldgefängnisse bis ins 19. Jahrhundert hinein unverändert bestehen zu lassen – allein Dickens und seine Geschichten hätten es von der Weisheit seines Unterlassens überzeugen müssen.

Zunächst jedoch hat Charles wenig Ursache, zu lachen. Indessen er, der Bildungshungrige, seinen verlorenen Büchern nachweint, zwingt ihn bitter Not, in einer Schuhwichsefabrik Etiketten zu kleben.

Er beißt die Zähne zusammen, aber er tut seine Arbeit mit brennender Scham. Er ist viel zu sehr Realist, viel zu sehr Bürgerkind, um das Herabgekommene seiner Lage nicht zu begreifen. Aber auch viel zu sehr Idealist, um seine kleinen Leidensgenossen in der Fabrik jemals vergessen zu können und um nicht eines Tages einer der Ersten zu sein, die ihre Stimme gegen das Laster der Kinderarbeit erheben werden.

Aber noch ist er elf Jahre alt. Und erst nach Monaten befreit ihn ein gütiges Geschick und steckt ihn zu glücklicheren Altersgenossen in eine Schule. Und nun überschlägt sich der bisher so stille Junge in waghalsigen Streichen, gibt eine Schülerzeitung heraus, spielt Theater, verschlingt zwischendurch, was immer ihm an bedrucktem Papier zwischen die Finger gerät und scheint im Übrigen nur nachholen zu wollen, was er in den zehn vergangenen Jahren an Knaben-Torheiten versäumt hat.

Fraglich bleibt, was Charles im üblichen, schulmäßigen Sinn gelernt hat. Aber Lernen war, wie wir wissen, gar nicht der Zweck dieser englischen Schulen. Der war schon erreicht, wenn die Eltern ihre Rangen nur los waren und Berufenere ihnen die Mühe abnahmen, ihnen zu allen standesgemäßen Vorurteilen noch etwas Manieren beizubringen.

Aber auch die Schule bleibt Intermezzo. Wieder muss Charles zurück in den Kampf ums tägliche Brot. Nun ist er Bürojunge eines Rechtsanwaltes. Neuerdings lernt er eine Fülle menschlicher Gestalten kennen, die später als stereotype Figuren durch seine Romane wandern werden.

Was er dabei von Recht und Rechtsprechung zu hören bekommt, genügt, ihn mit lebenslänglichem Misstrauen zu erfüllen und er lässt bald keinen Zweifel darüber, dass er seine Zukunft auf diesem Gebiet nicht suchen wird.

In jene Zeit – er mag etwa 17 gewesen sein – fällt seine beginnende Leidenschaft für Maria Beadnell Es ist seine erste Liebe und sie hat vier Jahre lang gedauert. Überflüssig zu sagen, dass es eine ganz und gar unglückliche Zuneigung war, denn seine Geliebte dachte nicht daran, sich einem jungen Habenichts zu versprechen. Diese Ausdauer im Neinsagen hat ihr wie vielen ihres Geschlechtes die Unsterblichkeit eingetragen, denn Dickens hat sie später in seinen Romanen „David Copperfield“ und „Little Dorrit“ äußerst dankbar verewigt.

Mit 19 findet er endlich Gelegenheit, einen passen Beruf zu ergreifen. Er wird Parlaments-Berichterstatter – aber erst, nachdem ihn eine rechtzeitig dazwischen tretende Krankheit vor der Versuchung gerettet hat, zur Bühne zu gehen.

Denn Dickens hatte nicht nur den väterlichen Darstellungstrieb in ausgiebigem Maße geerbt, sondern überhaupt einen ausgeprägten Hang zum bunten Dasein der Komödianten. Die erforderliche Eitelkeit jedenfalls hätte er gehabt, um Schauspieler zu werden. Nun aber stürzt ihn der Zufall in das Getriebe der Politik.

Eben tobt der Kampf um die Parlamentsreform. Dickens fährt von Versammlung zu Versammlung, schreibt nachts in der Postkutsche seine Berichte und geißelt mit aufrichtiger Erbitterung jene Missstände, die das damalige England zu einem so fragwürdigen Aufenthalt für unbemittelte Menschenkinder gemacht haben.

Manches, was er sieht, gerät später in seine Erzählungen und trägt dazu bei, das hinter puritanischen Formeln verschanzte Gewissen seiner Landsleute und Mitbürger auf die sehr unheiligen Zustände in Schulen, Fabriken und Armenhäusern aufmerksam zu machen.

Allerdings, um ein erfolgreicher Politiker zu werden, dazu hat Dickens viel zu viel gesehen und viel zu wenig verschwiegen. Und niemand hat sich später gewundert, dass dieser ebenso aufrichtige wie geschwätzige Mann sich lieber der Literatur zugewandt hat.

Das begann nach einigen kleineren Skizzen mit den sogenannten „Hinterlassenen Papieren des Pickwick-Clubs“, und diese selben „Pickwickier“ machen Dickens mit einem Schlage zum meistgelesenen Schriftsteller Englands. Dabei war es gar nicht sein Kopf, dem diese „Pickwickier“ entsprungen waren, sondern der seines Verlegers. Mister Soundso, eben der Verleger, verfügte über eine Reihe namhafter Spottkarikaturen, und was er dazu haben wollte, das waren ein paar verbindende Worte. Was Dickens aus ihnen gemacht hat, wurde sein eigenes Meisterstück.

Nicht umsonst hatte er 20 Jahre lang alle Typen des damaligen England mit äußerster Sorgfalt beobachtet. Nun ergießt er den zurückgestauten Reichtum seiner Eindrücke über seine Leser, und nicht die gezeichneten Karikaturen seines Künstlerkollegen, sondern seine geschriebenen werden zum eigentlichen Zugstück dieser Veröffentlichung.

Und es kommt ihm gar nicht darauf an, nur Wirkliches oder wenigstens doch nur Wahrscheinliches zu schildern. Im Gegenteil, obgleich er sich oft recht bedenklich an bewährte Vorbilder hält, ist er doch viel zu sehr Humorist, um nicht gerade das Unwahrscheinliche zu lieben.

So bringt er seinen Mister Pickwick nebst all dessen liebenswürdigen Schwächen mit solcher Meisterschaft, dass niemand bemerkt, wie unglaubhaft der ganze Mann samt seiner Geschichte eigentlich ist. Und auch später, in seinen an dramatischen Szenen so reichen Romanen, lässt er den Leser über dem verblüffenden Realismus der Einzelheiten oft völlig übersehen, wie phantastisch zuweilen ihre Erlebnisse und wie grotesk stilisiert ihre Charaktere sind.

Durch den Erfolg der Pickwickier ist Dickens mit 24 Jahren ein gemachter Mann. Nun unternimmt er, was sich später nicht mehr gutmachen lässt: er heiratete, und das – um bereits im ersten Ehejahr festzustellen, dass er in seiner Frau Catherine die falsche Schwester gewählt hat, und dass eigentlich seine jüngere Schwägerin Mary diejenige ist, die er vernünftigerweise hätte wählen sollen.

Später dann, als Mary längst nicht mehr lebt, überträgt sich diese Zuneigung auf seine zweite, noch jüngere Schwägerin Georgine. Aber auch sie wird ihm, wie Mary, nur geistige Gefährtin und trägt keine Schuld an Dickens schließlicher Scheidung.

Mit dieser Geschichte von den drei Schwestern Hogarth sind seine Liebesabenteuer erschöpft. Wäre es anders, wäre er nie der Repräsentant jenes viktorianischen England geworden, das das Vorhandensein erotischer Bedürfnisse entweder hinweggeschmachtet oder hinweggeschwiegen hat. So kennen auch seine Romane nur die Liebe von Engeln oder die Zärtlichkeit von Kindern. Doch hat solche Enthaltsamkeit die Volkstümlichkeit seiner Werke – zumindest in den germanischen Ländern – wenig beeinträchtigt. Was Dickens an Pikantem verweigert, gewährt er umso freigiebiger im Sentimentalen. Und niemals lässt die scharfe Scheidung von lichten und dunklen Gestalten den Leser im Zweifel, auf wessen Seite seine Sympathien anständigerweise zu liegen haben.

Dass er altmodisch genug war, seine Leser am Gängelband dieser Sympathien nicht nur zu unterhalten, sondern auch erziehen zu wollen, hat ihm das Missfallen mancher späteren Generationen eingetragen. Dass diese Spätgeborenen an seine durchaus sinnbildhaft aufzufassenden kindlichen Helden die Maßstäbe psychoanalytischer Kritik angelegt haben, beweist andererseits, dass sie in ihrem zeitgemäßen Kinderglauben nicht weniger befangen waren, wie er in dem seinen.

Bald nach den Pickwickiern und den ihnen nachfolgenden Romanen („Oliver Twist“, „Nicholas Nickleby“ und „Barnaby Rudge“) beginnt sein Ruf über England hinauszudringen. Schon werden seine Werke ins Deutsche übersetzt und im Jahre 1842 folgt Dickens einer längeren Einladung nach Amerika.

Zurückgekehrt, setzt er sich unverzüglich hin und schreibt – als ob es dazu einer Fahrt über den Ozean bedurft hätte – seine berühmte Biographie des Egoismus: „Martin Chuzzlewit“. Indessen – nicht Martin ist die Hauptfigur dieses Buches, sondern der puritanische Erzheuchler Pecksniff.

Befremdend für kontinentale Gemüter – nicht für insulare – ist, dass jener Pecksniff nicht einmal im Augenblick seines Todes zum Bewusstsein seiner lebenslänglichen Heuchelei gelangt, und dass er in der unerschütterten Überzeugung stirbt, ein Muster an Sitte und Gerechtigkeit gewesen zu sein.

Dem allerdings kann von jenseits des Meeres mit Recht entgegengehalten werden, dass Dickens auch hier wieder einmal maßlos übertrieben hat, und Übertreibung – geschickt stilisierte Übertreibung – ist tatsächlich das eigentliche Merkmal seiner Kunst.

Und Dickens hat diese Kunst mit feingespitzter Feder weitergeübt – lächelnd manchmal und manchmal stirnrunzelnd – aber immer mit der gleichen Unternehmungslust, mit dem gleichen sprichwörtlichen Geschäftssinn und der gleichen etwas lauten Selbstzufriedenheit des hochgekommenen Bürgers, bis im Jahre 1870 ein Schlaganfall seinem Leben ein Ende setzte.

Heute ist Dickens mehr ein Stück Kulturgeschichte, als ein Stück lebendiger Literatur. Das heutige England ist gedämpfter als das robust-fröhliche, das ihn geboren, und kritischer als das viktorianische, für das er geschrieben hat.

Dass seine Epoche seinem Zauber so rückhaltlos erlegen ist, beweist, dass er nicht bloß ihrem Humor, sondern auch ihren Sehnsüchten und Wunschbildern vollendet Ausdruck verliehen hat. Denn das, was wir heute die „Traumfabrik“ nennen, das, - auch das – war Dickens den Engländern seiner Zeit.


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