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Walt Whitman

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Als sich die ersten Ströme weißer Einwanderer über die Prärien des mittleren Westens ergossen, als Männer und Frauen, die zeitlebens nur enge Dörfer und eingefriedete Landschaften gekannt hatten, plötzlich vor Weiten standen, denen keine Grenze gegeben schien, da zogen viele hinein in diese Schrankenlosigkeit wie im Rausch.

Nicht ein Griff nach Land war diese erste Besiedlung der Tiefen Nordamerikas, sondern ein Griff nach dem Ungemessenen selbst. Was sich Jahrhunderte lang in den Engen Europas zusammengestaut hatte, an Sehnsucht nach Ferne, fand nun Raum.

Seit Menschengedenken hatte es dergleichen nicht mehr gegeben, denn selbst Kreuzzüge und Völkerwanderung waren Züge in voll besiedeltes Land.

Hier aber schenkte eine horizontlose Welt denen, die nach ihr griffen zur eigenen Freiheit, alle Weiten der Erde.

So konnte der Glaube entstehen, dieses Land sei wirklich das der unbegrenzten Möglichkeiten. Nur mussten die Herzen weit genug sein um so viel Unbegrenztheit lang ertragen zu können, und viele flohen zurück. Zwar nicht in die Enge Europas, doch in die Enge überkommener Vorurteile.

Einzelnen nur blieb der Rausch der großen Fernen, aber nur einer fand Worte dafür, und brachte das Schweigen der Felsengebirge, das Rauschen des Mississippi und den Gesang der großen Städte hinein in die Katarakte seiner ungebärdigen Verse. Nur einer dichtete Amerika: Walt Whitman.

Und seine Worte waren so unerhört nach Auswahl und Rhythmus und knüpften, so schien es wenigstens, so wenig an bisher Gewesenes, dass die Kritiker ratlos vor diesem Naturwunder standen, und bis heute – 100 Jahre nach ihm – nicht Klarheit darüber besteht, ob Whitman neben Homer zu stellen sei, oder neben Goethe oder Nietzsche, oder gar Christus, oder ob er bloß ein maßloser Allesschreiber gewesen sei, ein dichtender Asphaltjournalist und großsprecherischer Häufer von Worten – oder – wie Knut Hamsun von ihm meinte – „das letzte Exemplar eines zivilisierten Menschen, der als Wilder geboren wurde….“

Mag in der letzten Bemerkung mehr Anerkennung liegen oder mehr Ablehnung, sie beantwortet in jedem Fall die Frage, ob Whitman einen Anfang bedeutet oder ein Ende.

Bezeichnend zunächst, dass er stärksten Widerhall nicht in Amerika fand, sondern diesseits des Ozeans, und hier nicht in England, sondern – wieder bezeichnenderweise – trotz aller Unvollkommenheiten der Übersetzung – in Deutschland.

Hierzu Stefan Zweig: „Whitman ist die stärkste Energiequelle, das höchste Maß an Menschlichkeit in der neueren Dichtung“…. eine Größe, die…. einzig der Ferne bedarf, um neben den mythischen Gestalten Dantes und Homers zu stehen.......“

Dann Thomas Mann: „Das ist Hellas, wiedergeboren aus dem Geist der amerikanischen Demokratie. Goethe ist darin, und das Beste, Zukünftigste, Erzieherischste, was in Nietzsche war, und die Tempelandacht des Novalis.“

Und er verstieg sich soweit zu behaupten: „dass es mit Goethe allein denn doch nicht getan wird, sondern dass ein Schuss Whitman dazugehört, um das Gefühl der neuen Humanität zu gewinnen.“

Ähnlich Hermann Bahr: „Mit Whitman hat eine neue Menschheit begonnen“. Er sei „der erste Dichter seit Goethe, der der Kunst wieder ein neues Motiv gegeben hat. Alle anderen seither sind schon in Goethe enthalten“….

All das – Stimmen des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts nach Whitman. Auch dessen ablehnende, (wie die Dehmels: „Walt ist nicht das wirklich Neue und seine Psalmodik so alt wie die Bibel.“) bestätigen nur das auffallende Für und Wider. Wer war Walt Whitman?

Sein Leben beginnt im Jahre 1819 als Farmerssohn auf Long Island. Der Vater war angelsächsischer, die Mutter holländischer Abstammung.

Gras, Felder, eine Welt von Millionen von Halmen sind seine ersten Eindrücke. Auf der anderen Seite der Ozean: Millionen von Wellen. Die Erde ist groß und ihre Dinge sind unzählbar:

Es war ein Kind, das ging ins Weite jeden Tag

und welches Ding es zuerst anschaute,

dies Ding nahm Besitz von ihm,

und dies Ding wurde ein Teil von ihm für den ganzen Tag,

oder für gewisse Stunden des Tags,

oder für mehrere Jahre,

oder für weite Ringe von Jahren.

Der frühe Flieder wurde ein Teil des Kindes,

das Gras und rote und weiße Windenblüten

und weißer und roter Klee

und der Gesang der Amsel…..


Dann vier Jahre nach seiner Geburt, ziehen die Eltern nach Brooklyn. Wieder eine neue Welt: Unzählige Häuser, unzählige Menschen. Straßen und Schiffe. Und Walt besucht die Schule und erfährt, dass es Tausende solcher Städte gibt. Tausende solcher Welten mit Millionen von Menschen und Millionen von Gesichtern.

Ich sehe die Städte der Erde

Und bin ihr Bürger nach meinem Belieben,

ich bin ein echter Pariser,

ich bin ein Bewohner von Wien, Petersburg, Berlin, Konstantinopel,

ich bin aus Adelaide, Sidney, Melbourne

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Ich lasse mich nieder in all´ diesen Städten

Und hebe mich wieder aus ihnen…

Und dann:

Wenn ich über das Pflaster schlendere

Oder reite den Feldweg entlang –

Sieh diese Gesichter !

Gesichter der Freundschaft, Entschlossenheit, Vorsicht, Milde, Idealität.

Das Gesicht, das immer in geistige Fernen schaut ,

das immer willkommene, gutmütige Alltagsgesicht.

Das Gesicht des Sängers beim Singen….

Das Gesicht von Jägern und Fischern….

Das reine, hochgespannte, suchende, fragende Künstlergesicht….

So schlenderte er jung, strahlend, schöngewachsen durch die Straßen von Brooklyn, sah alles, liebte alles. Alles war notwendig, alles gleichberechtigt, selbst der Tod war ihm freudevoll – ein Übergang von Leben zu Leben und damit Teil eines größeren Lebens.

Und allen war er Bruder, der Welle im Fluss, dem Baum am Ufer. Aber auch dem Neger auf der Landstraße, dem Verbrecher, der Dirne. Es gibt kein Ausgeschlossensein unter der Sonne!

Nicht eher, als s i e dich verstößt, verstoße ich dich,

nicht eher die Wasser sich weigern, zu glänzen für dich,

und die Blätter zu rauschen,

werden meine Worte sich weigern, für dich zu glänzen

oder zu rauschen.


Daher das häufige Verglichenwerden mit Christus, der mehr mit Sündern und Zöllnern umging, als mit Gerechten. Nur das zwischen Walt und Ihm die Kirchen standen und die Schranken, die in Seinem Namen und entgegen Seinem Geist errichtet wurden, um den Sinn Seiner Worte abzuschätzen oder zu verfälschen – wie das Wesen eines urgewaltigen Stroms verfälscht wird, den man ihn in sittsame Kanäle ableitet.

Auch Walt traf der Vorwurf, der einst den Gottessohn traf, er sei gegen Gesetz und Obrigkeit, und auch seine Antwort war ähnlich:

Ich höre, dass man mich anklagt, ich wollte

Institutionen zerstören.

Aber in Wahrheit bin ich weder für noch gegen Institutionen,

(Was überhaupt habe ich mit ihnen gemein?)

(Oder was mit ihrer Zerstörung?)

Einzig und allein begründen will ich in Manhattan

Und in jeder Stadt dieser Staaten ….

Die Institutionen der innigen Liebe von Kameraden.


Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist – was kümmern mich Kaiser und Präsident? Die Welt ist so schön: Und Walt war verliebt in diese Welt, sinnlich verliebt in Tier und Pflanze und Mensch und in jeden strahlenden Tag, denn jeder war neu für ihn und jeder schien neu für alle:

Nie gab es mehr Beginn als jetzt

Und nie wird es mehr Vollendung geben als jetzt

Oder je mehr Hölle und Himmel

Drang und Drang und Drang,

immer der zeugende Drang der Welt.

Daher Walts Hymnen an die Sonne, an das Meer, an das Fleisch und an das Geschlecht, an die sich im Äther paarenden Adler, aber auch an die Lokomotive, an die gleißenden, Horizonte verbindenden Eisenbahnschienen und an das Singen der Telegrafenstangen…

Ich strecke mich auf den Boden

Und lade meine Seele zu Gast

Ich liege müßig und voll Behagen

Und betrachte einen Halm des Sommergrases

Walt Whitman, ein Kosmos, Manhattans Sohn,

Aufrührerisch, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend,

kein Empfindsamer, keiner, der sich über Männer und Weiber stellt oder absondert von ihnen.

Und trunken von jedweder Schönheit, umfing er Jüngling wie Mädchen, ein Heide und völlig Unbefangener, dem alles rein und nichts fremd war:

Und in jener Nacht, während alles still war,

da hörte ich die Wasser langsam rollen

unaufhörlich die Ufer hinauf

und hörte das Zischen und Knistern von Flüssigem und von Sand,

wie an mich gerichtet:

Mir Glückwünsche flüsternd,

denn der Eine, den ich am meisten liebe,

lag schlafend bei mir

unter derselben Decke in der Kühle der Nacht.

In der Stille,

unter den Herbstmondstrahlen war sein Gesicht mir zugeneigt,

und sein Arm lag leicht um meine Brust –

und in dieser Nacht war ich glücklich.


Und Walt bewies seine Menschenliebe auch da, wo sie nicht mehr verklärt ist von Schönheit und nicht mehr bedankt wird von Lust – in den Lazaretten der Schwerverwundeten.

Er war Schreiber zuerst, dann Dorfschullehrer, Setzer, Reporter und Redakteur, schließlich Zimmermann und Baumeister gewesen, eh´ der Bürgerkrieg ausbrach.

Dann, kaum dass Nord und Süd gegeneinander die Waffen erhoben, ließ er alles liegen und stehen, einzig um zu heilen und zu pflegen.

Er war damals 45, zu alt zum Waffendienst, aber kräftig genug, Leben und Gesundheit zu wagen.

Er tat es auf seine Weise und die Missstände, die er vorfand, bestimmten ihn, es auf eigene Kosten zu tun.

Überall fehlte das Nötigste, Lebensmittel, Verbandzeug, Betten. Viele verendeten, wie sie vom Schlachtfeld kamen, unversorgt, auf nackter Erde. Dazu Ärzte, die keine waren, habgierige Sanitäter, unfähige Kommandanten. Der Krieg war Geschäft. Man sagte wohl: Befreiung der Neger. Aber man meinte: Absatzmärkte und Dividenden. Wen interessierten da die, die zu Fall kamen? Sie hatten nichts mehr zu bieten.

Walt hat Hunderten von jungen Soldaten das Leben gerettet. Oft nur durch einige Handreichungen, die im richtigen Augenblick getan oder nicht getan, über Sein oder Nichtsein entschieden. Oft war es nur die Kraft zu hoffen und die Freude zu leben, was Walt den Verzweifelten wiedergab.

Er war ihr Seelsorger, ihr Freund, ihr Krankenpfleger. Freund und Feind waren ihm gleich, die einseitige Verherrlichung der Einen, die gedankenlose Verunglimpfung der Anderen ihm in der Seele zuwider.

Und wie zum Protest schrieb er seine berühmte Hymne auf die Besiegten – die nachahmenswerteste der Weltliteratur.

Drei Jahre schonungsloser Aufopferung in den Lazaretten von Washington kosteten Walt Vermögen und Gesundheit. Entschädigung dafür: eine kleine Schreiberstelle im Departement für Inneres. Nach sechs Monaten: Entlassung auf Betreiben seines Chefs, eines ehemaligen Methodistenpredigers, wegen angeblicher Unsittlichkeit seiner „Grashalme“.

Die „Grashalme“ waren Gedichte. Ihre Ungeschminktheit machte sie unbeliebt. Und nicht nur bei sittenbeflissenen Leuten. Sie waren auch in keinem Stück ein Buch für die Masse, wie Whitman geglaubt hatte. Denn die Einfachen lasen ihn nicht. Und die nur zum Schein Gebildeten – damals schon (und gerade in Amerika) die Einflussreichen und Maßgebenden und eigentlichen Herren der Welt – die taten ihn in Acht und Bann und brachen mit der üblichen Selbstgerechtigkeit aller Hohlen und Halben den Stab über ihn. Sie wussten, was „man“ tat und was „man“ sagte und konnten darum die Chance nicht sehen, die Amerika hatte – eine einzigartige Chance: allein zwischen zwei Ozeanen, allein zwischen China, das nach Jahrtausenden, und Europa, das nach Jahrhunderten maß, ein Land zu sein, das nur Gegenwart war – nur heute – wie der erste Tag nach der Sintflut.

Unbefangen und unbelastet –

Ohne Vor-Wissen und darum ohne Vor-Urteil

Und offen für Alles

wie das junge Griechenland.

So wenigstens erhoffte es Walt, lange bevor Sinclair Lewis und seine „ Babitts “ alle Hoffnung begruben.

Walt starb nach mancherlei Wechselfällen als weißhaariger langbärtiger Einsiedler in einem kleinen Häuschen in Camden – betrauert von seinen Nachbarn und beweint von den Kindern des Dorfes.

Vielen war er ein Heiliger und ist es noch heute. Aber Amerika ging nicht seinen Weg. Er ahnte es wohl, als er schrieb:

Als ich dem gelehrten Astronomen zuhörte,

Als Beweise und mathematische Figuren in Reihen vor mir aufmarschierten,

Als man mir Karten vorwies und Diagramme zeigte

Zum Addieren, Dividieren und Messen,

Als ich so auf meiner Bank dem Astronomen zuhörte

Der mit viel Beifall in unserem Hörsaal las, -

Wie bald fühlte ich mich da unerklärlich müde und elend

Bis ich aufstand und leise ging

Und dahinwanderte allein mit mir

In der geheimnisvollen feuchten Nachtluft

Und von Zeit zu Zeit hinaufschaute

Vollkommen still zu den Sternen.



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