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2.Sachlicher Schutzbereich

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a) Allgemeine Verhaltensfreiheit.

Fall 2:17 Wegen Verunreinigungen an Gebäuden und hygienischen Bedenken erlässt die Stadt S eine Satzung, in der bestimmt wird, dass in Teilen der Innenstadt das Füttern von Tauben verboten ist. Dadurch sollen die Tiere einen Anreiz verlieren, sich in der Innenstadt anzusammeln. Rentner R, der gerne Tauben füttert, ist empört und hält es für undenkbar, dass das Grundgesetz ein solches Verbot zulasse. Ist der sachliche Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet?

360Art. 2 Abs. 1 spricht von der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Diese Formulierung lässt nicht ohne weiteres erahnen, dass der Schutzinhalt dieses Grundrechts heute in die „banale“ Formulierung gekleidet wird, „jeder kann tun und lassen was er will“. Man kann Art. 2 Abs. 1 damit i. S. einer allgemeinen Verhaltensfreiheit interpretieren. Dieses weite Verständnis des Schutzbereichs lag der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 aber nicht von Anfang an zugrunde. Vielmehr wurde anfänglich unter dem Einfluss der sog. „Persönlichkeitskerntheorie“ Art. 2 Abs. 1 so interpretiert, dass der Schutzbereich der Vorschrift auf einen Kernbereich der Persönlichkeit beschränkt war; darauf, was das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmache.

361Ein grundlegender Wandel vollzog sich spätestens mit der berühmten Elfes-Entscheidung18 des BVerfG.

Elfes, ein rheinischer CDU-Politiker und innerparteilicher Gegenspieler von Konrad Adenauer, wurde die Verlängerung seines Reisepasses unter Hinweis auf eine Vorschrift des Passgesetzes, nach der ein Pass zu versagen sei, wenn der Antragsteller die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik gefährde, verweigert. Elfes wollte sich damit nicht zufriedengeben und klagte erfolglos vor den Fachgerichten. Seine gegen deren Entscheidungen gerichtete und im Wesentlichen auf Art. 11 gestützte Verfassungsbeschwerde hatte ebenfalls keinen Erfolg.

Das BVerfG verneinte zunächst die Eröffnung des Schutzbereichs der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1). Die Vorschrift schütze (Wortlautargument: Freizügigkeit im Bundesgebiet) nur die Einreise-, nicht aber die Ausreisefreiheit.

Gleichzeitig entschied das BVerfG die zuvor19 noch offen gelassene Frage, wie der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 zu konturieren sei. Es wies die Persönlichkeitskerntheorie u. a. mit einem auf die Schranken des Grundrechts bezogenen Argument zurück:

„Das Grundgesetz kann mit der ‚freien Entfaltung der Persönlichkeit‘ nicht nur die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit gemeint haben, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht, denn es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können.“20

Seitdem und bis heute wird Art. 2 Abs. 1 so verstanden, dass von seinem Schutzbereich die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne erfasst wird.21 Ihr Schutzgegenstand ist kein bestimmter, begrenzter Lebensbereich, sondern jegliches menschliche Verhalten“.22

362Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 ist damit sehr weit, er darf aber nicht ­gänzlich konturenlos sein. Die erforderliche Konkretisierungsarbeit kann auf die Erkenntnis Bezug nehmen, dass bestimmte, abgegrenzte Teilbereiche der allgemeinen Handlungsfreiheit normative Verdichtungen aufweisen (etwa die Privatautonomie oder die Vertragsfreiheit), die sie von den genannten banalen Verhaltensfreiheiten (Taubenfüttern, Reiten im Walde) abheben. Es handelt sich um noch nicht dem Gewährleistungsgehalt des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuzurechnende Segmente des durch Art. 2 Abs. 1 gewährten Schutzes, die aber gegenüber der bloßen Gewährleistung allgemeiner Handlungsfreiheit Verdichtungen aufweisen.23

Angesprochen sind damit neben den schon genannten Bereichen der Privatautonomie (d. h. der „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“24) und der Vertragsfreiheit25 (d. h. dem Recht, Verträge im Rahmen der zivilrechtlichen Ordnung frei zu schließen und aufzulösen26, sie inhaltlich zu gestalten oder zu kündigen27) auch die Ausreisefreiheit28 oder der Schutz vor kompetenzwidrigen oder sonst rechtswidrigen Abgaben.29 Das BVerfG aktiviert Art. 2 Abs. 1 auch gegenüber der Pflichtmitgliedschaft in Kammern bzw. der damit verbundenen Beitragslast.30. Werden Aufgaben wahrgenommen, die außerhalb der Kompetenz einer Kammer liegen, kann aus Art. 2 Abs. 1 ein Austrittsanspruch entstehen.31 Die skizzierten unbenannten Freiheitsrechte fallen – überwiegend wohl aufgrund rechtlicher Verfestigungen in anderen Teilen der Rechtsordnung – nach allen Auffassungen in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1. Ihre gewisse Privilegierung gegenüber sonstigen Ausprägungen menschlicher Handlungsfreiheit zeigt sich zuvörderst in einer strikteren Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit erhöhter Rechtfertigungslast seitens des Staates bei Eingriffen.32

363Jenseits dessen eröffnet sich aufgrund des weiten Schutzbereiches eine potentiell unendliche Bandbreite menschlicher Verhaltensweisen, die den Schutz des Art. 2 Abs. 1 genießen können. Die Bandbreite reicht vom „Banalen“ bis zum wahrhaft „Existentiellen“, vom Taubenfüttern oder dem Reiten im Walde bis zu einem aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Krankenbehandlung in Fällen lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlich verlaufender Erkrankungen.33

Geschützt wird alles menschliche Verhalten, ohne dass es darauf ankäme, ob es sich um eine unter sozialethischen Gesichtspunkten wertvolle Verhaltensweise handelt oder ob sich das in Rede stehende Handeln lediglich als Ausdruck personaler Willkür darstellt.34 Auch bei auf die Rechtspositionen anderer übergreifenden35, sozialschädlichen36, gefährlichen37 oder auch selbstgefährdenden38 Verhaltensweisen ist die Berufung auf den Schutzbereich nicht ausgeschlossen.

Hinweis: Gerade die Unterschutzstellung der zuletzt genannten Verhaltensweisen kann Verständnisschwierigkeiten bereiten. Man muss sich dabei klarmachen, dass die Bejahung der Eröffnung des Schutzbereichs nicht automatisch dazu führt, dass das in Rede stehende Verhalten nicht reglementiert oder verboten werden dürfte. Die Zuordnung eines Verhaltens zum Schutzbereich eines Grundrechts stellt nicht das Ende, sondern den Anfang des grundrechtlichen Abwägungsspiels von „Grund und Gegengrund“ (Alexy) dar. Im Zweifel gebietet eine weite Tatbestandslehre und der Gedanke, dass Grundrechte die Rechtfertigungslast für Eingriffe dem Staat aufbürden, eine möglichst weite Fassung des Schutzbereichs. Unerwünschte Ergebnisse können und sollen über die Schrankenziehungen korrigiert werden.

Mit dem BVerfG ist daher davon auszugehen, dass das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf erfasst, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.39

Lösung zu Fall 2: Die Satzung40 der Stadt S könnte materiell gegen Grundrechte verstoßen. Da keine spezielleren Grundrechte einschlägig sind, ist sie an der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1) zu messen. Dazu müsste der sachliche Schutzbereich eröffnet sein. Die enge Auslegung des Art. 2 Abs. 1 fordert eine gesteigerte Relevanz des Taubenfütterns in der Innenstadt von S für die Persönlichkeitsentfaltung des R. Dies kann kaum angenommen werden. Nach zutreffender Auffassung genügt aber jedes menschliche Verhalten, um den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 in sachlicher Hinsicht zu eröffnen. Taubenfüttern ist ein menschliches Verhalten, der Schutzbereich also betroffen.41

364Eine trennscharfe Markierung oder abschließende Beschreibung aller von Art. 2 Abs. 1 umfassten Verhaltensweisen ist naturgemäß nicht möglich, aber auch nicht erforderlich42. Entscheidend ist das Verständnis von Art. 2 Abs. 1 als Auffanggrundrecht, das immer dann Schutz bietet, wenn kein anderes Grundrecht einschlägig ist.

365b) Wirkungen des weiten Schutzbereichsverständnisses. Mit diesem weiten Verständnis von Art. 2 Abs. 1 i. S. d. allgemeinen Handlungsfreiheit (Verhaltensfreiheit) sind drei wesentliche Konsequenzen verbunden, die für die weitere Grundrechtsentwicklung und -verwirklichung von fundamentaler Bedeutung waren und sind.

366aa) Auffang- und Reservefunktion. Der weiten Auslegung des Art. 2 Abs. 1 im Sinne einer umfassenden Verhaltensfreiheit kommt eine ganz erhebliche materiell-rechtliche Wirkung zu. In sachlicher Hinsicht führt sie dazu, dass der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 offen bleibt, zukünftige Entwicklungen und Bedrohungen menschlicher Freiheit aufzunehmen und grundrechtlich zu umfangen43 und zwar namentlich dann, wenn diese Verhaltensweisen keinem anderen Grundrecht unterfallen. Art. 2 Abs. 1 fungiert als Auffanggrundrecht.44

367Im Verhältnis zu den spezielleren Grundrechten gilt, dass die allgemeine Handlungsfreiheit zurücktritt, also alles menschliche Verhalten erfasst, das nicht in den Schutzbereich eines speziellen Grundrechts fällt45. Wird ein bestimmtes Verhalten dagegen dem Schutzbereich eines speziellen Freiheitsrechts zugeordnet, scheidet Art. 2 Abs. 1 als Prüfungsmaßstab aus.46

So schützt etwa Art. 2 Abs. 1 allgemein auch die Vertragsfreiheit47. Für bereichsspezifische Inanspruchnahmen der Freiheit, Verträge zu schließen, zu gestalten, zu kündigen etc. greifen aber die Spezialgrundrechte ein, wenn es sich um berufsbezogene (Art. 12) oder eigentumsrelevante (Art. 14) Verträge handelt.48 Vergleichbares gilt hinsichtlich der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit. Nur wenn diese nicht von spezielleren Grundrechten erfasst wird, kommt Art. 2 Abs. 1 in seiner Auffangfunktion als Prüfungsmaßstab zum Tragen.49

Klausurhinweis: Für den Aufbau der Falllösung bedeutet dies, dass die allgemeine Handlungsfreiheit nach den speziellen Freiheitsrechten zu prüfen ist. Nur wenn kein spezielles Grundrecht einschlägig ist, darf auf Art. 2 Abs. 1 zurückgegriffen werden.

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