Читать книгу Alexanders letzter Traum - Heinz-Joachim Simon - Страница 8

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2.

Es begann damit, dass eine Raupe herankroch. Ich stand im Hof unter der mächtigen Eiche, von der mein Vater behauptete, dass sie dort schon gestanden habe, als Ajax sich nach Troja aufmachte, was natürlich eine genau so eine blödsinnige Behauptung war wie seine Tiraden, dass wir von den trojanischen Helden abstammen. Jeder, der etwas auf sich hält, hat in unserer Gegend einen trojanischen Ahnen. An deren Frauen kann sich jedoch niemand erinnern. Da auch mein Vater dazu mit keinem Namen herausrückte, ist meine Abstammung von Priamos’ Untertanen als sehr unsicher anzusehen.

Was unter uns den Berg hochkroch, war keine Raupe, und ich war auch nicht besonders erpicht darauf, dass sie endlich auf dem Berg ankam. Wir wussten, dass sie kommen würde und mein Vater hatte das Haus dazu auch entsprechend herrichten lassen. Der Hof war gefegt und der Türeingang mit Misteln bekränzt. Ein anderer als mein Vater hatte sich aufs Pferd geschwungen und wäre seiner Braut entgegen geritten. Aber so etwas war nicht seine Art. Breitbeinig stand er im Eingang des Hauses, die Hand auf den Nacken meines Bruders gelegt, was er mit mir sein Lebtag nicht getan hat. Mein Vater hasste mich und meine Gefühle standen den seinen in nichts nach. Meinen Bruder dagegen liebte er. Antiochios war sein Augapfel, der Mittelpunkt des Hauses und alle schrieben ihm Eigenschaften zu, die vermuten ließen, dass er bald vom König zu den Getreuen geholt werden würde.

Was da herankroch, konnte für mich nur Ärger bedeuten, denn alles, was mein Vater in die Wege leitete, brachte mir Ärger. Eurydike, auch sie von den Molossern abstammend, genau so wie die Mutter Alexanders, also von diesem wilden halb barbarischen Stamm, sollte nun die Frau unseres Vaters werden. Meine leibliche Mutter, die mich bis dahin vor den schlimmsten Verfolgungen des Alten bewahrt hatte, war nicht einmal ein halbes Jahr unter der Erde, als er sich eine neue Frau ins Haus holte, obwohl doch genug Mägde da waren, die ihm seinen Spaß nicht verwehrten. Auch dies hatte neben anderen tierischen Ausschweifungen dafür gesorgt, dass sie gestorben war. Ich dachte stets voller Zärtlichkeit an ihre Liebe, an ihre Hand auf meinem Kopf und hasste meinen Vater für das, was er ihr angetan hatte. Für die Schläge, für die trunkenen Worte und die Arbeit, die er ihr aufbürdete. Ihre Beziehung zu meinem Vater war, so lange ich denken kann, vergiftet gewesen. Wir gehören nicht dem Hochadel an und mein Vater herrscht nur über ein paar einfältige Bergbauern in ihren Katen, aber er war der Anführer und ließ darüber keinen Zweifel aufkommen. In Pella nannten sie ihn einen Makedonen von altem Schlag. Unsere Burg war auch nichts Besonderes und bestand hauptsächlich aus einer rauchgeschwärzten Halle, die stets im Halbdunkel lag. Genug Kammern hatte die Burg zwar, aber viele waren feucht und weil ich meine Gesundheit erhalten wollte, übernachtete ich oft draußen in der Scheune. Neben dem Haupthaus standen im Karree Gesindehaus, Stallungen und Scheunen, die mit einer mannshohen Mauer verbunden waren. Unser ganzer Reichtum bestand nur aus Schafen und Ziegen und dicht war nur das Dach des Haupthauses. Unsere Knechte und Mägde froren im Winter in den Kammern des windschiefen Gesindehauses neben den Stallungen. Anthes fror natürlich nicht, denn er saß behaglich ausgestreckt mit seinem Lieblingssohn und einem Pokal Wein auf dem Tisch vor dem riesigen Kaminfeuer des Haupthauses und grunzte genussvoll. Mich hatte er dann mit einem Fluch und einem geworfenen Knochen oder Schemel, was ihm gerade in die Hand geriet, schon längst in die Kälte vertrieben.

Auf den ersten Blick waren wir Anthes also nichts besonderes, dennoch hatte mein Vater einen hervorragenden Ruf und der große Feldherr Parmenion, der schon so lange König Philipps Gunst besaß, hielt große Stücke auf ihn. Sie waren beide von der gleichen altmakedonischen Art. Auch Parmenion glaubte an die alten Götter wie Uranos und Gaia und ließ vielleicht noch den Titan Kronos gelten, aber sie kamen nicht einmal im Traum darauf, sich als Auserwählte der Götter oder gar für Götter selbst zu halten.

Ich sah also die Raupe oder den Wurm heraufziehen und mir war nicht sehr wohl dabei zumute und meine Stimmung verbesserte sich auch nicht, als mein Vater und Antiochios zum Tor der Burg gingen, angetan mit ihren besten Chitons aus gutem Leinen, und ich hinkte ihnen in meinen Fetzen wie ein Bettler hinterher. Mein Vater war wohl zu der Erkenntnis gekommen, daß mein Anblick nicht gerade das Ansehen der Familie förderte und brüllte mir zu, dass ich mich davon scheren solle. Also hinkte ich hinter das Haus zu der großen Tanne und bestieg sie.

Ja, nun ist es heraus. Der Sohn des großen Helden Anthes ist ein Krüppel. Mein rechter Fuß ist etwas kurz geraten, sodass ich mich nie für den Stadionlauf in Olympia melden brauchte. Nicht, dass es mich sehr behindert, aber ich bin nun einmal ein Gefäß mit einem Sprung. Nur meine Mutter war immer der Meinung, dass dies mich erst wertvoll mache. Von dem Hinken einmal abgesehen sei ich ein ganz hübscher Kerl. Nun, wir wissen, wie objektiv Mütter sind. Aber auch die Mägde schienen meine Sommersprossen und die grünen Augen unter meinen rotblonden Haaren zu mögen und machten mir schon früh schöne Augen. Vielleicht hatten sie mich einfach nur gern, weil mich sonst niemand gern hatte. Mein kompakter Oberkörper machte mich zu einem guten Ringer, was ich im Kampf gegen die Bauernjungen oder meinen Bruder des Öfteren unter Beweis stellte. Trotz meiner Behinderung wusste ich mich also zu wehren. Im Klettern war ich fix, noch besser war ich auf einem Pferd, was sich in meinem Leben als sehr vorteilhaft erwies.

Als sich mit der Raupe nun Vaters neue Bettgenossin ankündigte, stieg ich bis in die höchste Gabelung und hatte nun einen guten Überblick über unseren Berg und das Tal und in den Hof hinein. Nun war der Wurm heran und eine Sänfte wurde zu Boden gelassen und heraus sprang eine Frau, die besagte Molosserin. Selbst auf diese Entfernung konnte ich sehen, dass sie für meinen Vater viel zu jung war. Hinter ihr standen viele Diener und Sklaven, die zur reichlichen Mitgift gehörten. Sie war die illegitime Tochter eines Molosserfürsten, der sie wohl mit Anstand hatte los sein wollen. General Parmenion hatte dies eingefädelt, um seinem treuen Leibgardisten zu etwas Wohlstand zu verhelfen. Beim Festmahl, nachdem der Priester das Brautpaar unten im Tal in dem alten Uranostempel zusammengetan hatte, konnte ich sie mir ein bisschen genauer ansehen. An der Haupttafel war für mich natürlich kein Platz, sondern am Katzentisch, wo dem niederen Volk, den Bauern aus der Umgebung gnädig ein Platz zugewiesen worden war. An der Haupttafel saßen Kriegsgefährten, Hauptleute und Verwandte der Eurydike. Mein Bruder saß natürlich neben meinem Vater. Von Frauen hatte ich bis dahin nicht all zu viel Ahnung, aber dass die neue Frau meines Vaters eine harte Nuss für ihn sein würde, erkannte ich sofort. Sie war so schön wie eine der Furien, hatte dunkles lockiges Haar, einen kleinen Frauenbart und einen Vorderbau, der selbst mich bereits beeindruckte. Ihre Schultern hätten auch einem Ringkämpfer gut angestanden. Ihre Stimme klang nicht wie Zwitschern, sondern hart und selbstbewusst. Kurz, sie war ein Mannweib, jedoch nicht ohne Reiz, wenn man Frauen mochte, mit denen man sich kräftig prügeln kann. Die Braut machte ein Gesicht, als wäre ihr die Ernte verhagelt und auch die Begeisterung im Gesicht meines Vaters hielt sich in Grenzen. Nicht ihre Schönheit war der Anlass für diese Hochzeit, sondern ihre stattliche Aussteuer. Sie schien über meinen alten Herrn auch nicht besonders glücklich zu sein und schielte dauernd zu meinem Bruder.

Nun muss ich anführen, dass er das genaue Gegenteil von mir war. Als Zeus das Aussehen verteilt hat, muss er nicht einmal, sondern mehrmals „hier“ gerufen haben, jedenfalls hätte er ohne Mühe den Paris ausstechen können. Wir waren Brüder, aber waren uns nicht ähnlich, weder im Aussehen noch im Charakter. Er sah aus wie die Kourosstatuen vor den Tempeln und war groß und hatte schwarze Locken und das ganze Weibsvolk war hinter ihm her. Er war der Erbprinz und ich war der Niemand. Dabei war er kein verweichlichter Lustlümmel, sondern männlich und hatte große Körperkräfte und ihm war jene Schlauheit eigen, die oft Bauern zu gefährlichen Geschäftspartnern machen. Mein Vater liebte ihn abgöttisch, zumal er ein großer Krieger zu werden versprach, was die Anthes weiterbringen würde, wenn Parmenion nur bald erreichen konnte, dass mein Bruder in die Leibgarde des Königs aufgenommen wurde. Darum ging es. Er, Antiochios, war dazu auserwählt, den Stab der Anthes weiter zu reichen. Er war der zukünftige Held, der auf seine Berufung zu den Göttergestalten um König Philipp wartete. Ich spielte bei den Zukunftsüberlegungen meines Vaters keine Rolle und war ihm nur peinlich.

Unsere neue Mutter hatte also nur Augen für den Stiefsohn und dieser ließ es sich grinsend gefallen. Als unser Vater den vielen Weinbechern erlag, machte er der Eurydike genau so schöne Augen und diese rückte immer näher an ihn heran. Nachdem sie sich genug über das Klima in Epirus und über den Unterschied zu unseren Bergen unterhalten und auch die Verwandtschaft der hiesigen Königshäuser durchgehechelt hatten, fiel ihr Blick auf mich. Denn ich saß ihrem Tisch gegenüber und hatte mich so gesetzt, dass ich ihr Gespräch verfolgen konnte. Ich wollte mitbekommen, ob mein Bruder bereits in dieser Nacht den Vater ersetzen würde. Sie fragte Antiochios, wer der Knabe mit den rotblonden Locken und den frechen Augen sei, der dauernd auf ihre Brust schiele.

„Ach, das ist nur Leonnatos, mein Bruder!“ stellte mich Antiochios vor und genau so hätte er sagen können, das ist unser Köter, der von unseren Abfällen lebt. „Ein Krüppel. Er ist verwachsen. Ein Krieger wird der nie!“, setzte mein Bruderherz hinzu.

Es war gemein und außerdem unwahr. Ich bin nicht verwachsen. Ich habe zugegebenermaßen eine etwas krumme Körperhaltung, so dass meine Schultern kräftig hervortreten und meinen Oberkörper unproportioniert aussehen lassen. Aber das wächst sich aus, hatte meine Mutter behauptet. Und ich vertraute darauf. Mein Bein war nur kürzer. Das ist alles. Deswegen bin ich auch nicht gut zu Fuß, was mich aber zum Ausgleich zu einem Reiter werden ließ, der es mit den besten Thessaliern aufnehmen könnte. Jawohl, bereits damals, wenn ich ein gutes Pferde gehabt hätte, wäre ich bei den olympischen Spielen nicht als letzter durchs Ziel gegangen. Ich wusste, dass ich nicht wertlos war, wie mein Vater stets behauptete, sondern hatte dank meiner Mutter und anderen Zuspruch, wovon gleich zu berichten sein wird, genug Selbstvertrauen. Deswegen ließ ich mich auch nicht durch die herabsetzenden Worte meines Bruders durcheinander bringen.

„Wir werden ja sehen, wer als erster durchs Ziel geht. Noch sind wir beide nicht einmal gestartet“, rief ich zu den beiden hinüber.

„Mit der Zunge ist er ja ganz flink“, sagte Eurydike und ich sah, dass sie unter dem Tisch nach den Schenkeln meines Bruders tastete. Sie legte ein ganz schönes Tempo vor. Wir Makedonen sind da eigentlich eher zurückhaltend. Es sei denn, wir sind betrunken.

„Wahrscheinlich war Vater besoffen, als er den Kretin zeugte!“ erwiderte mein Bruder und grinste frech meinen Vater an, der bereits so hinüber war, dass er nur noch vor sich hinstarrte.

„Aber in dieser Nacht hat er die Möglichkeit diesen Fehler gut zu machen!“ fuhr mein Bruder fort und ich sah, wie unter dem Tisch seine Schenkel auseinander gingen und sich die Hand unserer Stiefmutter weiter bewegte. Man braucht keine große Vorstellungskraft, um zu wissen, was sie dort trieben.

„Ich möchte den Bastard nicht im Haus haben!“ sagte Eurydike und sah mich unzufrieden an. „Krüppel bringen Unglück.“

„Er kann im Stall schlafen“, pflichtete ihr Antiochios bei.

Sein beseelter Eindruck hatte sicher andere Ursachen. Ich wünschte mir nicht an seiner Stelle zu sein. Dennoch hatte ich das Bedürfnis, unsere neue Mutter zu einer besseren Meinung von mir zu bewegen.

„Als Hochzeitsgeschenk werde ich dir die Tatzen eines Bären bringen!“ prahlte ich, zugegebenermaßen etwas großsprecherisch. Nun, ich hatte auch einige Becher Wein geleert, was nicht oft vorkam.

„Nimmt er den Mund immer so voll?“ fragte Eurydike geringschätzig und sah meinen Bruder an, der immer noch ein Gesicht machte, als wäre er im Olymp.

„Dazu reicht es gerade“, sagte Antiochios wegwerfend, als spräche er über etwas, das so unappetitlich war, dass man es vom Hof kehren sollte.

„Er ist ein ganz passabler Speerwerfer und Bogenschütze, dieser Waffe der Feigen. Er hat schon Wölfe, Wildschweine und einen kleinen Bären erlegt. Allerdings war der sehr klein.“

„Die Rotblonden sind mir immer unheimlich“, sagte Eurydike und sah mich nun mit nachdenklichen Augen an. Mittlerweile hatte Antiochios einen roten Kopf bekommen, was sicher nicht am Weingenuss lag. Als ihm schließlich die Augen fast aus den Höhlen sprangen, konnte ich es mir nicht verkneifen ihm zuzurufen, dass er an das Schicksal des Orest denken solle. Er achtete nicht auf meinen Zuruf und sein Kopf sank mit einem Seufzer auf die Tischplatte. Eurydike leckte sich genussvoll die Finger.

„Wenn ich dich draußen erwische, kannst du was erleben!“ drohte mir Antiochios. Das brauchte keine ausführliche Erklärung. Wir waren wie Hund und Katze und ich hatte unter seinen Anschwärzungen schon immer gehörig zu leiden. Aber ich war bereits damals ein guter Ringer. So manches Mal hatte ich meinen Bruder auf den Boden gedrückt. Obwohl mit sechzehn und siebzehn Lenzen für solche Auseinandersetzungen eigentlich zu alt, verging kaum eine Woche, in der wir nicht aneinander gerieten.

„Ihr hättet ihn als Kind aussetzen sollen“, sagte meine neue Mutter. Damit war unser Verhältnis ein für allemal geklärt. Meine Freundin würde diese Stiefmutter gewiss nicht und auf solche Handreichungen, wie sie mein Bruder von ihr erhielt, war ich ohnehin nicht scharf.

„Nimm es nicht so schwer!“ sagte neben mir ein Riese mit einem gutmütigen roten Gesicht und einer Knollennase und einem trotz seiner Jugend langen beachtlichen Bart. Er sah aus wie eine Mischung aus Herkules und einem Pan. Ich kannte ihn nicht. Er war im Gefolge der Eurydike auf unseren Hof gekommen.

„Ich bin das gewöhnt.“

„Ich heiße Phokis. Übrigens, geh ihr aus dem Weg. Sie ist ein Miststück!“ flüsterte er mir zu und zwinkerte dabei verschwörerisch.

„Hast du viel Ärger mit ihr hinter dir?“

„Nein. Noch nicht. Ihr Vater hat mich ihr erst kürzlich geschenkt. Aber alles, was ich mit ihr erlebt habe, lässt vermuten, dass du keine sehr gute Zeit mit ihr haben wirst und dein Vater auch nicht.“

„Freut mich für ihn.“

„Er ist dein Vater!“ sagte er erstaunt.

„Er ist ein Ungeheuer und hat meine Mutter auf dem Gewissen.“

„So ist das also.“

„Ja. Genau so. Wir hassen uns“, gestand ich offen.

Dass ich auf dem Hof meines Vaters wie ein Stück Dreck behandelt wurde, würde er ohnehin bald erleben. Wenn mein Vater mich sah, warf er oft genug irgendeinen Gegenstand nach mir und brüllte, dass ich ihm aus den Augen gehen solle. Und die Knechte taten es ihm nach. Wenn man dies von klein auf erfährt, macht das einen ganz schön hart. Als meine Mutter noch lebte, konnte ich wenigstens zu ihr flüchten und sie trotzte meinem Vater und schalt die Knechte und sie wagten mich nur zu quälen, wenn sie es nicht sah. Aber als sie dann starb, war ich auf mich allein gestellt. Der einzige, der mir ein wenig Schutz bot, war Andreos, der Koch. Als Koch war er eigentlich miserabel, aber meinem Vater, der sich an die Speisen der Väter hielt, war er gerade gut genug. Andreos, der Koch, war eigentlich ein Lehrer aus Thrakien, aber er gab sich sehr griechisch und kannte alle Philosophen und kam mit Feuereifer der selbst gestellten Aufgabe nach, aus mir einen halbwegs gebildeten Menschen zu machen. Also lernte ich durch einen Thraker Sokrates, Platon und die ganze Bande vor ihnen, also Heraklit, Thales und Pythagoras, kennen und selbst Empedokles war mir nicht fremd. Natürlich hat er mit mir auch die Ilias gepaukt, nicht nur gelesen, sondern sie mir so lange in den Schädel gehämmert, bis ich alle vierundzwanzig Gesänge auswendig konnte. Dass mir das später einmal nützen würde, war zu dieser Zeit nicht abzusehen. Aber ich hatte viel Freude dabei. Wenn ich über den Zorn des Achilleus las, dann wurde ich zu Achilleus, und dem Agamemnon wäre es schlecht ergangen, wenn ich ihm begegnet wäre. An manchen Tagen war ich doch lieber Hektor und hatte auf Paris eine Stinkwut, weil er uns die verdammte Helena angeschleppt hatte. So sorgte ein Koch, der ein Lehrer war und zudem noch Thraker, dafür, dass ich nicht so dumm war wie ich aussah. Denn wer mich in meinen Lumpen erblickte, musste annehmen, dass er es mit einem skythischen Sklaven oder etwas ähnlichem zu tun hatte. Mein Vater hielt nicht viel von den griechischen Weisheiten. Er hielt seine Ahnen hoch und die Erdgötter, und ich hörte ihn oft genug sagen, dass ein Mann stark und treu und trinkfest und hart und natürlich Philipp, dem König, treu ergeben sein müsse. Die Reihenfolge wechselte je nach Laune.

Seit dem Einzug der Eurydike hatte mein Vater Unterstützung darin bekommen, sich Gemeinheiten gegen mich auszudenken. Es fing bereits ein paar Tage später an. Mittlerweile wussten selbst die Pferdeknechte, dass nicht nur der Vater mit Eurydike schlief, sondern auch sein ältester Sohn.

„Sie hat eine Menge drauf, diese Eurydike“, gestand mir mein Bruder lachend. Große Mühe gab er sich nicht damit, sein Verhältnis zu verbergen, und nach einiger Zeit hatte ich den Eindruck, dass selbst Vater davon wusste, dass sein Sohn ihn darin unterstützte, die Leidenschaft der jungen Frau zu befriedigen. Es war ja auch nicht gerade eine Liebesheirat. Mit ihrer Mitgift konnte er die Scheunen ausbessern und die Zahl der Schafe vergrößern und sogar einige Weiden auf der gegenüber liegenden Seite unseres Berges dazu kaufen. Ohnehin ließ er seinem Liebling Antiochios alles, aber auch wirklich alles durchgehen und verdarb ihn dadurch.

Seit Eurydike einzogen war, ging es bei uns drunter und drüber. Mittlerweile hatte sie das Regiment übernommen und sie hatte ohnehin genug Diener und Sklaven mitgebracht, die sich ihr verpflichtet fühlten, so dass auf unserer Burg von nun an alles nach ihrer Nase ging, was Vaters Laune nicht gerade verbesserte. Ihr Streit schallte ständig durchs Haus. Theatralisch die Hände zum Himmel gereckt rief er die alten Götter an: „Hört, ihr Ahnen, hört, ihr Götter, vom Leid des Anthes. Was für eine Furie wurde in mein Haus gespült. Minderwertig ist ihr Blut, schrecklich ihr Aussehen, niederträchtig sind ihre Gedanken. Ihr Leib ist mir ein stinkender Pfuhl.“

So oder ähnliches bekam man ständig zu hören und Antiochios lachte dazu. Ihn schien das Theater bei uns zu amüsieren. Wenn man nicht darunter zu leiden hatte, konnte es auch ganz unterhaltsam sein. Es war jedenfalls bei uns ständig etwas los. Sie saß wie eine große Spinne in der rauchgeschwärzten Halle vor der großen Feuerstelle und wartete darauf, ihr Gift verspritzen zu können. Feist und groß und mit mächtigem fast entblößtem Busen saß sie auf einem thronartigen Hocker und musterte mich, als wolle sie mich verspeisen. Vater saß wie ein Zyklop an dem langen blank gescheuerten Tisch, einen Becher Wein vor sich, und blickte unwillig mit rot unterlaufenen Augen zu uns herüber. Mein Bruder lümmelte sich auf der Bank an der Wand mit ausgestreckten Beinen und wartete darauf, was dann folgte. Dies sind die Bilder aus meines Vaters Haus.

„Ich mag dich nicht“, schrie sie mich oft genug an. „Ich sage es unumwunden. Wenn ich dich geboren hätte, würdest du deine Geburt kaum überlebt haben. Nun ist es zu spät. Wir können dich jetzt kaum ohne Aufsehen ersäufen. Aber verkrümele dich, geh mir aus den Augen, du Unglücksbringer! Ich glaube, dass selbst die Schafe und Ziegen dich verabscheuen, wenn du sie besteigst.“

Sie schien dies für einen köstlichen Scherz zu halten und es gluckste aus ihrer mächtigen Brust und ihr fleischiges Gesicht mit dem kleinen Mund verzog sich zu einem grässlichen Lachen.

„Hast du es überhaupt schon einmal mit einer Frau getrieben?“ fragte sie, und mein Bruder schlug sich kreischend auf die Schenkel.

„Der Krüppel doch nicht.“

Auch meinen Vater amüsierte dies und er stimmte in sein Kichern ein.

„Lasst das!“ herrschte meine Stiefmutter die beiden an. „Ich habe gehört, dass gerade die Krüppel es wie die Kaninchen treiben. Sie sind sonst zu nichts gut, aber rammeln können sie andauernd. Es gibt Frauen, die solche Ausdauer anziehend finden.“ Ihre Zunge strich dabei lüstern über die Lippen, als laufe ihr das Wasser im Munde zusammen. Sicher dachte sie nicht daran, mich für ihre Lust heranzuziehen. Die Blicke, die sie in die Runde schickte, galten nicht mir, sondern vor allem meinem Bruder.

„Wir sollten sehen, dass wir aus diesem Auswurf das beste machen“, fuhr sie fort. „Er kann die Tochter meines Bruders heiraten. Als Mitgift bringt sie nicht viel, aber ich bin ihm verpflichtet und das Mädchen hat dann einen Kerl, und wie man ihr zu Kindern verhilft, wird er wohl bald heraus bekommen.“

Mein Vater war von diesem Vorschlag nicht sehr begeistert.

„Wenn sie keine große Mitgift mitbringt, wovon soll der Kretin dann leben? Als Krieger ist er nicht zu gebrauchen. Ich hatte an die Tochter des Mithridates gedacht, die ist fett und doof, aber kriegt ein paar schöne Wiesen als Aussteuer, die unser Land gut ergänzen.“

„Ich will ihn aus dem Haus haben. Vielleicht kann dein Parmenion ihn in der Heeresverwaltung unterbringen. Du tust doch so, als wenn der große Feldherr dein Gönner wäre. Jetzt kann er etwas für dich tun.“

„Er tut ja bereits etwas für uns. Er wird dafür sorgen, dass Antiochios bei den Gefährten des Königs oder wenigstens des Kronprinzen aufgenommen wird. Ich erwarte täglich die Nachricht, dass er es geschafft hat. Ich kann ihn jetzt doch nicht auch noch mit Leonnatos belämmern.“

So stritten sie oft und wie zu erwarten war, setzte sich Eurydike durch. Der Mond rundete sich zweimal, als wieder ein Zug den Berg hochkam und natürlich war er kleiner und recht bescheiden anzusehen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als die Sänfte in den Burghof getragen wurde. Es stimmte, was mein Bruder gesagt hatte. Bis dahin war mein Kontakt zu Mädchen äußerst spärlich gewesen, geschweige denn, dass ich bei einer Frau gelegen hätte. Alles war ich über den Eros wusste, hatte ich den Tieren auf der Weide abgesehen und die unflätigen Bemerkungen unserer Mägde und Knechte zu einer recht lückenhaften Vorstellung zusammen gefügt. Eine gute Vorbereitung für eine Hochzeitsnacht konnte man das kaum nennen.

Der Zug bestand nur aus zwei altersschwachen Dienern auf zwei mageren Eseln, wenn man von den vier Sklaven absah, die die Sänfte trugen.

„Jetzt wollen sie die arme Maus bei dir loswerden!“ flüsterte Phokis, mit dem ich mich angefreundet hatte.

„Du kennst sie?“

„Ja. Sie ist ein netter Kerl. So schlecht hast du es mit ihr nicht getroffen. Sie ist anders als Eurydike.“

Wenigstens das, dachte ich. Aber wer will schon einen netten Kerl zur Frau, wenn man keine siebzehn ist. Von Eurydike schloss ich auf die Nichte, erwartete also trotz seiner Worte ein ähnliches Ungeheuer, nur ein bisschen jünger und vielleicht ohne Schnurrbart.

Als sie den Schleier zurückschlug und ich ihr Gesicht sehen konnte, verschlug es mir fast den Atem. Auch von meinem Vater hörte ich einen erstaunten Ruf und Antiochios stieß einen gellenden Wolfspfiff aus. Beim Apollon, bei der Verteilung von Schönheit war meine Braut nicht zu kurz gekommen. Sie machte der göttlichen Aphrodite allemal Konkurrenz. Eurydike war auf den Eindruck, den ihre Nichte machte, natürlich ein wenig stolz. Antiochios warf sie einen unwilligen Blick zu, als dieser rief, dass die Schönheit für mich doch viel zu schade sei. So ganz konnte ich es auch noch nicht glauben, dass sie für mich bestimmt war. Denn etwas Gutes hatte ich nicht von meiner Stiefmutter erwartet. Andromache sah mich ohne Scheu an und lächelte, so dass mir ganz komisch in den Knien wurde. Wie es sich gehörte, sagte ich ihr, dass ich über die Wahl meiner Eltern sehr glücklich sei und ähnliches. Ich hatte zu dem Empfang ein abgelegtes Überkleid meines Bruders bekommen und mich gewaschen, so dass ich einigermaßen manierlich aussah. Was mich wunderte, aber noch zu keinem Schluss führte, war ihr Schweigen. Lange konnte ich auch nicht darüber nachdenken, denn man trennte uns sofort. Ich schrieb dies der Tatsache zu, dass wir noch nicht im Tempel zusammengegeben waren.

Doch ehe dies geschah, passierte noch etwas, was mich erkennen ließ, dass die Götter mit mir etwas vorhatten, dass sie den Krüppel Leonnatos, der mit dem gleichen Leiden geschlagen war wie der Gott Hephaistos, aus seinem Elend erlösen wollten.

Alexanders letzter Traum

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