Читать книгу Alexanders letzter Traum - Heinz-Joachim Simon - Страница 9

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3.

Der Frühling ist in unseren Bergen sehr feucht. Es regnet meist viele Tage lang. Ich war auf der Nordweide. Dort die Schafe zusammenzuhalten, gehörte zu meinen Aufgaben. Oft war ich dort oben wochenlang, und der Eurydike war es nur recht, dass sie mich lange Zeit nicht zu Gesicht bekam. Unterhalb der Schneegrenze hatte ich mir eine Hütte aus Steinen gebaut, mehr ein Unterstand als eine Hütte. Aber sie hatte ein Dach, das mich vor Wind und Regen schützte und ich hatte die meiste Zeit Phokis, diesen Riesenkerl, bei mir, der mehr und mehr zu meinem Vertrauten und Freund geworden war.

Es geschah kurz vor dem Fest des Dionysos. An diesem Tag hatte ich Phokis nach Haus geschickt, weil unsere Nahrungsmittel zu Ende gingen. Ich stand vor unserem Unterstand, eingehüllt in eine Decke und war nass bis auf die Haut. Trotz des großen Hutes lief mir das Wasser ins Gesicht. Auf den Hirtenstab gestützt, sah ich den Schafen zu, die sich zwar von dem Wetter nicht beeindrucken ließen, aber seltsam häufig den Kopf in den Nacken warfen und sich blökend zusammendrängten. Ich sah hinunter ins Tal und in die Richtung, in der ich unser Gut wusste und stellte mir vor, was meine Andromache gerade tat und wünschte mir sie bei mir zu haben. Obwohl ich noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte, war ich in sie verliebt. Sie war bis dahin das schönste Mädchen, das ich zu Gesicht bekommen hatte und ich war in dem Alter, in dem man sich über Mädchen heftig den Kopf zerbricht.

Es fing damit an, dass plötzlich unter mir die Erde zu zittern anfing und dann grollte es, als würde der Himmel einstürzen. Ein mächtiger Sturm zog auf und warf mich zu Boden. Ich krallte mich in die schwankende Erde und als ich zum Himmel sah, erblickte ich eine Gestalt, die dem Apoll sehr ähnlich sah, wovon ich mich später in Milet überzeugen konnte. Jedenfalls wusste ich sofort, dass es Apollon war, wovon auch die Leier in seiner Hand Zeugnis ablegte. Ehe ich mich von dem Anblick erholen konnte, geriet der Berg ins Rutschen und fiel ins Tal herab. Es war so, als würde einem eine Decke unter den Füßen weggezogen. Dazu krachte es ordentlich und es hörte sich so an, als würden Hephaistos, Zeus, Poseidon, Ares, also die ganze göttliche Verwandtschaft, die himmlischen Trommeln schlagen. Ich wurde durch den rutschenden Berg in die Höhe gewirbelt und mit mir, das sah ich noch, flogen die Schafe durch die Luft. Dann war es um mich herum dunkel. Tatsächlich, ich war bereits über den Fluss und im Schattenreich angekommen und kein Fährmann hatte ein Scherflein von mir verlangt. Ich war im Hades. Einige Schatten wankten auf mich zu. Alte Bekannte. Achilleus und Odysseus waren dabei und beklagten ihr Schicksal und schimpften über das Leben hier unten. Zu ihnen gesellten sich Platon und Sokrates und der olle Heraklit und erzählten das Gegenteil, priesen die Ruhe, die sie nun hätten, und dass das Maß aller Dinge die Mitte sei und ähnliches, womit ich damals noch nicht viel anfangen konnte. Sie stritten sich also, wie es sich für Griechen gehörte. Achilleus und Odysseus beharrten darauf, dass alle Grenzen hinter sich zu lassen, den wahren Menschen ausmache und es war auch klar, dass sie zu den Besten gehört hatten, wenn auch nicht beide in der gleichen Disziplin angetreten waren. Der eine hatte es mit den Muskeln, der andere mit dem Kopf. Wo ich sie schon einmal traf, wollte ich die Gelegenheit nutzen.

„Was ist für mich das richtige? Mit meinem Bein habe ich wohl kaum die Chance einem Hektor oder anderen Helden Angst einzujagen und so weise wie Platon und Sokrates bin ich nun auch wieder nicht.“

Ich war also felsenfest davon überzeugt, dass ich aus dem Hades zurückkehren würde. Woher ich diese Zuversicht nahm? Keine Ahnung. Vielleicht wegen des aufmunternden Lächelns des Apollon, der etwas abseits zuhörte.

Odysseus sah betroffen Platon an und der dunkle Heraklit murmelte „Alles fließt“, womit ich auch nicht viel anfangen konnte.

„Was meinst’n?“ fragte Achilleus den unsterblichen Apollon. Ein wenig war ich über die respektlose Anrede schon betroffen. Der gute Held tat so, als wäre der Gott nichts anderes als ein Beutegrieche aus Illyrien.

Und Apollon in seiner Güte nahm dies nicht einmal krumm. Er klimperte gedankenverloren ein wenig auf seiner Lyra und es klang sehr hübsch und wir hörten zu und warteten, bis er zum Ende kam.

„Er wird Zeugnis ablegen. Er wird im Schatten stehen und doch wird das Licht seinen Weg bescheinen. Er wird der Held sein und doch der Unbekannte. Er wird mein Bote sein und ich werde über ihn wachen. Er wird den Helden besingen, aber nur sein Sänger sein.“

Jeder, der in Delphi war, weiß, wie rätselhaft sich die Götter ausdrücken und Apollon stand der Pythia nicht viel nach. Ich konnte jedenfalls damit nicht viel anfangen. Achilleus zuckte mit den Achseln und sah mich mitleidig an und Sokrates seufzte und Platon kraulte sich den Bart. Aber wenn die beiden klügsten Menschen Griechenlands ratlos waren, dann konnte man auch von mir nicht verlangen, dass ich die dunklen Worte verstand.

„Langweilig wird ihm dabei nicht werden“, kicherte Platon.

„Lass ihn doch wenigstens König werden. Muss ja nicht Griechenland sein“, schlug Sokrates vor. Bekanntlich hatte er eine friedliche Ader. „Irgendetwas in Asien. Vielleicht kann er daraus etwas machen.“

Apollon klimperte wieder ein wenig versonnen und schüttelte dabei den Kopf. „Ihr versteht nicht. König zu sein wird ihm nicht gerecht. Er soll von dem großen Gedanken berichten. Das ist es, was ich ihm auftrage.“

„Na, hoffentlich stehst du ihm tatsächlich bei, wenn er dich braucht. Mir hast du vor Troja nicht gerade den großen Helfer abgegeben!“ murrte Achilleus, der, wie jedes Kind weiß, in Apollon nicht gerade einen Freund hatte.

„Er wird nicht wie du sein. Er wird ein Feldherr sein, aber kein Totschläger.“

„Armer Kerl!“ bedauerte mich Achilleus.

„Vielleicht kann er mit List etwas bewegen“, hoffte Odysseus. „Ich hätte da so ein paar Ideen, die ihm helfen könnten.“

„Er wird nicht verschlagen sein“, verneinte Apollon. „Er wird erkennen, was wichtig ist und was nicht. Das sei seine Belohnung.“

„Ein bisschen armselig“, winkte Odysseus ab.

„Ich werde auf ihn aufpassen. Er wird seinen Weg gehen“, versprach Apollon.

„Vielleicht wird er etwas Neues sein. Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss“, warf Heraklit ein, der immer die gleichen Sprüche drauf hatte. Aber wenigstens kam er nicht damit, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei.

„Können sich die Menschen verändern? Sind sie nicht immer so, wie sie schon vor Urzeiten waren?“ zweifelte Achilleus.

„Zum besseren?“ setzte Odysseus hinzu und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Das will ich doch hoffen!“ sagte Plato. „Aber zugegebenermaßen geht so etwas nur langsam. Bis der Mensch halbwegs geglückt ist, wird wohl noch einige Zeit vergehen.“

„So lange müssen wir warten, bis hier im Hades Menschen auftauchen, die anders sind als wir?“ fragte Odysseus, der ewig Neugierige, enttäuscht.

„Ja. Wir müssen Geduld haben“, stimmte Plato zu.

„Und er macht den Anfang?“ murrte Achilleus und sah mich an, als wäre ich ein stinkender Käse.

„Nein. Er wird nur davon berichten, was anders sein sollte!“ widersprach Apollon.

„Ein Hinkender als dein Bote? Das sieht dir ähnlich!“ brummte Achilleus.

„Auch Hephaistos hinkte und Prometeus litt unter dem Adler. Es sind die Leidenden, die sich um die Menschheit verdient machen.“

„Da wirst du ganz schön auf ihn aufpassen müssen“, gab Odysseus zu bedenken.

„Ich werde ihn begleiten. Ihm kann nichts passieren. Nicht wirklich.“

Klar, dass ich mich über das Versprechen freute. Aber nun fiel mir wieder ein, wie der Berg ins Rutschen gekommen und ich durch die Luft geflogen und hier gelandet war. Dann konnte er ruhig gleich mit der Hilfe anfangen. Und kaum hatte ich dies gedacht, passierte es auch schon. Es wurde hell und ich sah in das Gesicht meines schwarzbärtigen Riesen. Phokis schrie, dass mir die Ohren wehtaten.

„Er lebt! Er lebt tatsächlich. Den Göttern sei Dank. Leonnatos lebt.“

Sie hatten, nachdem die Erdlawine ins Tal gerauscht und die Erde sich beruhigt hatte, den Abhang nach mir abgesucht. Selbst mein Vater und Antiochios, aber ihnen ging es wohl in erster Linie um die Schafe. Apollon hatte Wort gehalten und den Hunden den rechten Geruch in die Nase gegeben und die hatten kräftig gejault und waren wie irre im Kreis herumgelaufen, und dies hatte Phokis zum Anlass genommen, die Erde abzutragen. Die Freude meiner Eltern oder gar meines Bruders hielt sich in Grenzen. Der Alte jammerte immer wieder über die schöne Herde, die der Berg verschlungen hatte. Stattdessen hatte er mich ausgespuckt. Er hielt dies für einen verdammt schlechten Tausch.

„Wahrscheinlich wollten sie ihn im Schattenreich nicht behalten. So ein Kröterich hätte ihnen nur die Laune verdorben“, war sein Kommentar und Antiochios wieherte dazu wie die Pferde des Achill.

„Mich hat ein Gott unter seinen Schutz genommen“, hielt ich dagegen. Nicht, weil ich prahlen oder gar Eindruck schinden wollte, sondern nur um zu zeigen, dass es Mächte gab, die mich, den Hinkenden, schätzten. Das mit dem Kröterich hatte mich schon verletzt.

„Seit wann kümmern sich Götter um Krüppel?“ höhnte mein Bruder.

„Denk mal nach, du Ebenbild des Paris!“ wehrte ich mich. „Hundert Schafe begrub der Berg. Aber ich lebe noch. Wenn das kein Zeichen ist, dann habe ich keine Ahnung von Omen. Am besten du gehst nach Pella und fragst einmal im Tempel des Apollon nach, was dies auf sich hat. Der Gott ist mit mir.“

„Was habe ich mit Apollon zu schaffen? Ich bin ein Krieger und halte mich an Ares. Du dagegen wirst als Bauer hier in den Bergen versauern, während ich mit den Getreuen des Königs gegen die Perser ziehe.“

Dies ließ einen Stachel in meinem Fleisch zurück und mein Bruder, dieses Früchtchen, wusste dies.

Als wir wieder auf dem heimischen Berg waren, tat Eurydike so, als wäre ich nicht vorhanden. Auf die kurze Schilderung meines Vaters beklagte sie nur die verlorenen Schafe. Meine zukünftige Braut sah mich dagegen an, als trüge ich den Lorbeer des Apollon auf dem Kopf. Aber reden tat sie immer noch nicht und mein Vater beobachtete verärgert ihre mich bewundernden Blicke. Ich konnte mir anfangs keinen Reim darauf machen.

„Ist sie dumm?“ fragte ich Phokis. „Warum redet sie nicht? Ich habe sie noch nie reden gehört.“

„Man hat es dir nicht erzählt?“

„Was erzählt?“

„Sie ist stumm. Meinst du, man hätte sie dir sonst zur Frau gegeben?“

Mich dauerte ihr Schicksal. Aber ich liebte sie deswegen nicht weniger. Sie war mir wie eine Feengestalt, ein Zauberwesen. Was die anderen als Makel ansahen, machten ihre Augen, ihr lächelnder Mund, ihr zartes Gesicht mehr als wett. Nein, für mich war es kein Makel, denn sie hatte Hände, die mich berühren würden. Doch leider sah ich sie nur selten. Bis zu meiner Hochzeit, die für das Frühlingsende vorgesehen war, hielt man meine zukünftige Braut von mir fern. Dies geschah nicht aus Schicklichkeitsgründen, sondern war reine Bosheit. Denn Eurydike trieb es ärger denn je, nicht nur mit meinem Bruder, sondern, wie Antiochios mir gegenüber kichernd erwähnte, mit einigen Dienern und ihrer Leibsklavin Lydia. Trotz der strengen Aufsicht meiner Stiefmutter fand ich schließlich die Möglichkeit Andromache zu treffen. Als sie im Hof mit den Mägden am Waschzuber stand, gelang es mir ihr einen Treffpunkt vorzuschlagen und sie hatte mit leuchtenden Augen genickt. Da man sich seit der Ankunft der Molosserin angewohnt hatte nach Sonnenuntergang in der großen Halle kräftig zu bechern, kam die ganze Gesellschaft am nächsten Tag erst sehr spät aus den Betten. Dies nutzte ich für meine glücklichen Stunden mit Andromache.

Noch bevor das erste Licht in das Dunkel sickerte, ging ich den Berg hinunter bis zu dem Wäldchen an der Straße nach Pella. Hier hatte die Natur eine Rosenhecke zu einer Laube geformt. Dort schloss ich sie in die Arme und sie lag stumm und zitternd an meiner Brust und ich erzählte ihr, was nach dem Erdrutsch geschehen war und sie hörte mir zu und tat, was ich so sehr ersehnt hatte. Sie streichelte mein Gesicht und anderes.

Mit der Zeit lernte ich die Sprache ihrer Hände und ich erfuhr, wie schlimm sie es in ihrer Familie gehabt hatte. Auch sie war ein Außenseiter, ein verachtetes Mitglied der Familie, und suchte Zärtlichkeit und Geborgenheit. Ich versprach ihr, dass unsere Liebe ewig dauern würde. Wie leicht fallen einem in der Jugend diese Schwüre.

„Und wenn ich weggehe, und ich werde eines Tages weggehen, dann nehme ich dich mit.“

Sie war es schließlich, die meine Schüchternheit überwand und mich das Küssen lehrte, so dass tiefe Seufzer unseren Kehlen entflogen. Sie lehrte mich die zarte Liebe. Sie legte meine Hand auf ihre Brust und ich schob sie in ihr Kleid und fühlte ihre samtene Haut und drängte mich an sie und sie ließ es zu und ergab sich mir und wir umklammerten uns wie zwei Ertrinkende und waren glücklich uns gefunden zu haben.

Ich hatte bis dahin, nach dem Tod meiner Mutter, nie Liebe empfangen und ihr war es genau so ergangen, und so empfanden wir uns gegenseitig als Gottesgeschenk, als Entschädigung für die fürchterlichen Tage unserer Kindheit. Und wenn es so weitergegangen wäre, dann hätte ich gern darauf verzichtet, Babylon kennen zu lernen, Persepolis, Susa und Ekbatana. Ich hätte auf Indien verzichtet und auf Alexanders Freundschaft. All das hätte ich hingegeben für ein Leben mit meiner Andromache. Zum letzten kam es nicht und das bedauere ich noch heute. Die gegenseitige Achtung voreinander hielt uns davor zurück. Sie brauchte sich meiner nie zu erwehren. Sie gab mir, was sie geben wollte und ich war damit zufrieden. Ich hielt inne, wollte das letzte erst nehmen, wenn uns der Priester vor den Göttern zusammengetan hatte. In meiner ersten Liebe war ich kein Eroberer, sondern nahm sie als Gnade wie ein Gläubiger im Tempel entgegen.

Bald sollte Apollon sich mir offenbaren. Wir erfuhren, dass der Sohn des Königs, zusammen mit seinen Gefährten, bei unserem Nachbarn, dem Clanchef auf der anderen Seite des Berges, zu Gast war und sie bei diesem zur Jagd gehen wollten. Eine Ehre, die den Menandros unter allen Clanchefs unserer Gegend heraushob. Mein Vater war deswegen schlechter Laune.

„Er kommt nicht zu uns, weil wir Gefolgsleute des Parmenion sind. Das ist es. Der Kronprinz geht nur zu denen, die ihn umschmeicheln. Oh ja, mag Menandros ruhig auf dieses Pferd setzen. Noch ist es nicht sicher, ob Alexander der Nachfolger Philipps wird. Noch kann Philipp weitere Söhne zeugen. Schließlich wird er jetzt die Nichte des Attalos heiraten, die nicht eine Fremde wie die Olympias ist, sondern von Makedonen abstammt. Es ist nie gut, wenn man sich mit fremden Völkern vermischt. Das Blut muss rein bleiben.“

Er warf dabei seiner Eurydike scheele Blicke zu, die wie Olympias von den Molossern abstammte und diese quittierte seine Worte mit Flüchen und warf mit ein paar Krügen nach ihm und rächte sich, indem sie ihn über Wochen nicht in ihr Bett ließ, was sicher auch zu dem Unglück beitrug, das dann später geschah. Jedenfalls nahm mein Vater es sehr persönlich, dass Alexander seinen Nachbarn mit seiner Anwesenheit beehrte und das nur, wie er sagte, weil dessen schwächlicher Sohn ein Freund des Ptolemaios sei, der wiederum ein Freund des Kronprinzen war. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Sohn des Königs auch bei uns eingekehrt wäre. Es hätte vielleicht dem Anstand in unserem Hause gut getan und sicher auch das verhindert, was sich bald darauf ereignete und die Todfeindschaft zwischen mir und meinem Vater verursachte.

Es geschah nach einem Jagdausflug. Ich war ein guter Jäger geworden, was das Verdienst des Spitames war, der mich schon als Kind das Jagen lehrte. Die Jagd war für mich eine Flucht vor den Menschen, vor dem Unglück im Haus meines Vaters. In der Einsamkeit der Wälder und Berge hatte ich immer Trost gefunden. Schon von klein auf durchstreifte ich den Forst in den Tälern. Ich kannte die Farnwiesen, die Bäche, an denen das Wild trank. Spitames war ein Bergbauer und ein Jäger und lebte in einer armseligen Kate an der Schneegrenze. Er hatte keine Familie und war der älteste Mann in unserer Gegend und schlug sich mehr schlecht als recht durch. Aber klagen hörte ich ihn nie. Er lehrte mich das Waidwerk. Ich sehe ihn vor mir, eine gebückte, nachlässig gekleidete dürre Gestalt mit einem Gesicht, als habe er bereits bei den Thermophylen gekämpft, und mit dem Wissen von Generationen von Jägern. Es war ein Gesicht, das sich zu beschreiben lohnt. Nicht, dass jemand auf die Idee gekommen wäre, seine Gesichtszüge in einem Marmorblock zu verewigen, gleichwohl war es ein Gesicht, dass man nie vergaß. Da er seine Zähne längst verloren hatte, waren seine Wangen eingefallen und dies gab ihm ein fast unheimliches Aussehen. Auf eine eigentümliche Weise sah er den Mumien ähnlich, die mir später in Ägypten gezeigt wurden. Eigentümlich auch deswegen, weil in dem dunklen, oft schmutzigen Gesicht blaue Augen leuchteten. Die wenigen Haare klebten um einen länglichen Totenkopf. Er lehrte mich den Berglöwen zu bekämpfen, den Schwarzbär und die Wölfe. Er hasste Wölfe und war ihnen in den Wintermonaten, wenn sie heulend seine Hütte umschlichen, ein erbarmungsloser Feind. Er hatte nur eine kleine Schafherde und konnte auf kein Tier verzichten und das hatte ihn zu einem Wolfstöter gemacht. Er lehrte mich trotz meiner Behinderung zurechtzukommen, indem er meine Treffsicherheit mit dem Speer durch ständige Übungen verbesserte. Meine Schultern hatten mich ohnehin zu einem guten Ringer gemacht, und ich hatte die nötige Kraft in den Armen, um ihn todbringend zu schleudern.

Ich wurde zum Jäger, wenn ich oft monatelang allein in den Bergen war und die Schafe und Ziegen hütete. Spitames kam mit seiner Herde vorbei und ich verweigerte ihm nicht unsere Weiden und er lehrte mich gegen den Wind zu schleichen, den tödlichen Pfeil mit einem thrakischen Bogen abzuschießen und den Speer todbringend zu schleudern. Wir jagten Hirsche und Gemsen und einmal erlegte ich einen Bär, zugegebenermaßen kein großes Tier, aber sein Fell beeindruckte einen Augenblick sogar meinen Vater. Mir war Spitames, der Wolfstöter, ein Freund, und ich hielt mich zu recht für einen guten Jäger. Bis dann Kyros, der Königsbär, auftauchte und ich erkennen musste, dass ich noch viel zu lernen hatte. Spitames hatte ihn so getauft, weil er ihn für einen Fürst hielt, einen verwunschenen König. Lange Zeit sahen wir nur seine Spur, den Abdruck mächtiger Tatzen und folgten ihnen ohne Jagdglück. Doch eines Morgens an einem Fluss sahen wir ihn aus dem Wald treten. Ein mächtiger Kopf und ein Körper wie ein Fels. Gemütlich trabte er heran und ging in das seichte Wasser und schon bald holte er einen Lachs ans Ufer.

„Sieh dir den Kerl an!“ flüsterte Spitames.

Langsam robbten wir uns heran. Plötzlich drehte er sich um und erhob sich auf seine Beine und wir sahen nun, dass es der größte Bär war, der je in unserer Gegend gesehen worden war. Er wollte uns wohl zeigen, dass wir uns besser nicht mit ihm anlegten. Unsere Hunde jaulten wie verrückt und wir hetzten sie auf ihn und er wehrte sie ab. Nach einigen Prankenschlägen lagen zwei unserer Tiere tot am Boden.

„Was für ein Kämpfer!“ flüsterte Spitames begeistert.

„Wir müssen näher heran. Wir umgehen ihn.“

Wir machten einen Bogen und stakten in dem schnell fließenden Wasser des Flusses langsam auf ihn zu. Er hatte uns erblickt und wir hatten Angst, dass er sich davonmachen würde. Normalerweise legt ein Bär, wenn er nicht gar mit seinem Wurf unterwegs ist, keinen großen Wert auf die Bekanntschaft mit Menschen. Aber er dachte nicht daran, vor uns auszureißen, sondern erhob sich noch einmal zu einer Höhe, die uns bei weitem überragte und erwartete uns mit aufgerissenem Maul.

„Ein König. Ein Kyros!“ rief der Alte.

Weiß der Dionysos, wie Spitames auf den Namen des großen Perserkönigs kam. Aber diesen königlichen Namen trug unser Bär mit Recht. Wie ein Berg stand er vor uns und seine Tatzen teilten die Luft. Ich nahm den thrakischen Bogen und ließ einen Pfeil schwirren und traf ihn mitten in die Brust, was ihm aber nur ein ärgerliches Brummen abnötigte. Er schlug mit der Tatze den Pfeil ab.

„Mit Pfeil und Bogen kriegen wir den nicht. Da müssen wir schon mit etwas härterem kommen!“ schrie Spitames und wir stellten unsere Speere auf. Langsam kam Kyros auf uns zu und ich hatte Mühe, meine Angst zu bezwingen und wäre am liebsten davongelaufen.

Als er bis auf wenige Schritte heran war, warf Spitames seinen Speer und er traf ihn gut und ich tat es ihm nach und traf den Bär auch unterhalb der Brust und jetzt hätte er sich eigentlich hinlegen oder wenigstens davonlaufen müssen. Aber er tappte brüllend auf uns zu und wir nahmen die Beine in die Hand und rannten aus dem Wasser heraus und am Ufer entlang und er folgte uns und kam näher und näher und sicher hätte er uns eingeholt, wenn vor uns nicht der Wasserfall aufgetaucht wäre und wir uns nicht in die Höhle dahinter geflüchtet hätten. Mein guter Spitames kannte jede Zuflucht in diesen Bergen. Wir hörten Kyros hinter dem Wasserfall brüllen. Er wartete eine ganze Weile und wir hörten ihn missvergnügt im Wasser plantschen. Schließlich war er es leid und verdrückte sich. Das war unsere erste Begegnung mit Kyros.

Bald war die ganze Gegend erfüllt mit Geschichten über den König der Bären und die Bauern beklagten gerissene Schafe und Ziegen. Fast jeder Clanchef, auch mein Vater, ging in die Berge, um ihn zu jagen. Es gab wohl keinen Mann von Adel und Anstand, der nicht erzählte, dass er ihm begegnet sei. Doch erlegen konnte ihn keiner. Kyros wurde in ganz Makedonien berühmt und vielleicht waren es die immer wilder werdenden Geschichten über seine Größe und Tapferkeit, die schließlich den Thronfolger in unsere Gegend führten. Doch bevor sich mein Name mit dem des Kyros verband, geschah etwas, das mein Leben veränderte und mir die Todesverachtung eingab, um dem Kyros ein todbringender Feind zu sein.

Weil eines unserer Pferde gefohlt hatte, machte ich mich etwas verspätet zu meinem Treffen mit Andromache im Hain an der Straße nach Pella auf. Der Morgenstern funkelte nur noch blass, als ich den Berg hinunter hinkte. Als ich Flüche vor mir hörte, ahnte ich schon Schlimmes und jagte den Berg hinunter, stürzte mehr voran als dass ich lief. Als ich die schützende Hecke teilte, sah ich einen gebeugten Rücken und einen Körper mit stoßenden Bewegungen und unter ihm um sich schlagende Arme. Ich stürzte mich auf den keuchenden Mann, zerrte ihn von Andromache herunter und erkannte nun, dass der Mann, der meiner Braut Gewalt antat, der war, der mich erzeugt hatte.

„Hau ab, Kröterich, verzieh dich!“ brüllte er.

„Was tust du da, Vater!?“

Sein Gesicht war wild und seine Augen blutunterlaufen und ich roch seinen Atem. Er war betrunken. Verächtlich wehrte er mich ab, sah in mir noch nicht einmal ein Hindernis, in seinem Tun fortzufahren. Ich warf mich wieder auf ihn und er schleuderte mich beiseite. Ich fiel zu Boden und ergriff einen Stein und sprang auf und schlug ihn meinem Vater, der sich wieder Andromache zugewandt hatte, auf den Schädel. Er drehte sich knurrend um und schlug mich erneut zu Boden. Andromache war nun aufgesprungen und hatte sich auf seinen Rücken geworfen und trommelte stumm mit ihren Fäusten auf seinen bereits blutenden Kopf. Dies und die Trunkenheit und die Kopfwunde, die ich ihm bereits beigebracht hatte, ließen ihn noch fürchterlicher rasen. Er zog sein Messer, um uns einzuschüchtern. Als Andromache stumm und doch entschlossen, mich über seinen Rücken dabei ansehend, ihm das Gesicht zerkratzte, stach er nach hinten und traf ihre Kehle und sie fiel zu Boden. Sie hatte ihren Hass und ihre Not nicht herausschreien können. Aber nun würde sie mich auch nie wieder liebevoll ansehen. Ich wusste sofort, dass sie tot war.

„Das wollte ich nicht. Was hat denn die Kleine?“ brabbelte mein Vater, begriff immer noch nicht, was geschehen war. Ich nahm den Stein erneut auf und schlug ihn auf seinen Kopf und er, mein Vater, krachte zu Boden. Ich sah nicht nach ihm, sondern stürzte mich auf Andromache und nahm sie in die Arme und schrie, schrie meine Klage zum Himmel und fragte, wo Apollon, der mir doch Schutz versprochen hatte, gewesen war. Meine Braut war tot und ihr Mörder war mein Vater und ich sank auf die Knie und streichelte ihr Gesicht und meine Tränen fielen auf ihre Stirn.

Mein Vater erhob sich mühsam, taumelte auf mich zu und ich nahm den Stein erneut auf und schlug auf ihn ein, bis ich ihn tot wähnte. Ich empfand nur heißen Hass und indem ich ihn schlug, tauchten all die Bilder auf, die in mir waren, entsetzliche Bilder, wie er meine Mutter schlug, wie er mich zwang, von einem Misthaufen die siebenschwänzige Sklavenpeitsche zu holen, die ich ihm gestohlen und darin versteckt hatte und mit der er mich immer schlug. Immer wieder Schläge, Schläge und verachtungsvolle Worte. Hass war zwischen uns so lange ich denken kann.

Mir liefen, während ich ihn schlug, Tränen aus den Augen, aber nicht seinetwegen, dem Alp, dessen Sohn ich war, sondern wegen meiner Andromache. Schluchzend nahm ich sie auf und trug sie den Berg hoch und die Knechte kamen aus den Stallungen. Auch Eurydike kam und sie schrie und wollte mich schlagen und ich keuchte ihr ins Gesicht, dass dies nicht mein Werk, sondern das ihres Mannes war. Dies ließ sie jammernd die Arme heben und „Schande“ rufen. Antiochios, mein Bruder, lachte hämisch und nannte den Vater einen alten Bock.

„Du hättest ihm nicht dein Bett verweigern sollen, Eurydike!“

„Was ist mit dem Mistkerl?“ fragte meine Stiefmutter.

„Er ist tot!“ antwortete ich. „Aber das macht sie mir nicht wieder lebendig. Ich habe ihn totgeschlagen.“

„Vatermörder!“ kreischte Eurydike.

„Ja. Vatermörder.“

Ich sah auf Andromaches schönes Gesicht, auf die gebrochenen Augen, das zarte Oval des Kopfes, das von blonden Locken umrahmt war. Man nahm sie mir aus den Armen. Plötzlich hörte ich Schritte und das Keuchen, das ich so gut kannte und ich drehte mich um. Der Alp taumelte in den Burghof. Mit blutüberströmtem Gesicht wankte er heran. Ich hatte ihn nicht getötet. Aber das tröstete mich nicht.

Ich stürzte ihm entgegen und schrie: „Mörder! Verfluchter Mörder! Apollon und alle Götter sollen dich strafen!“

Ich wollte erneut auf ihn einschlagen, doch Antiochios und die Diener hielten mich zurück und ich tobte in ihren Armen, bis meine Kräfte erlahmten. Sie zerrten mich aus dem Hof in das Haus und banden mich in meiner Kammer am Bett fest und flößten mir Wein ein, bis ich das Bewusstsein verlor.

Als ich wieder zu mir kam und an meinen Fesseln zerrte und meinen Hass hinaus schrie, kam Antiochios wieder und flößte mir neuen Wein ein, bis ich wieder in die gnädige Dunkelheit versank. Aber hier kam mir kein Apollon zu Hilfe, kein Achilleus rätselte über mein Schicksal und Heraklit redete nicht dunkel daher. Als ich erneut zu mir kam, sah ich in Antiochios’ grinsendes Gesicht.

„Na, bist du wieder zurück?“

„Ich werde ihn töten!“

„Er ist immerhin unser Vater. Wir verdanken ihm unser Leben!“ versuchte er mich zu beruhigen.

„Er hat sie geschändet und ermordet. Er ist ein Vieh, ein Ungeheuer!“

„Das will ich nicht abstreiten“, sagte Antiochios lachend. „Das ist er zweifellos. Aber du hast ihm fast den Schädel eingeschlagen und er hat ein Auge verloren und sieht nun aus wie unser großer König Philipp. Das wenigstens trägt er dir nicht nach. Er ist sogar ein wenig stolz darauf, dass er jetzt wie der König als Einäugiger durch die Gegend laufen muss. Vater ist bereit dir zu verzeihen, wenn du endlich Ruhe gibst. Und im Übrigen hat ihm Eurydike gehörig den Kopf gewaschen. Sie muss schließlich ihrem Bruder eine halbwegs vernünftige Lüge anbieten, wie deine Braut zu Tode gekommen ist.“

„Ich ihm verzeihen?“ rief ich fassungslos. „Ich werde ihn totschlagen, wenn ich ihn sehe oder zumindest vor Gericht bringen. Der König soll erfahren, was Anthes für ein Schwein ist.“

„Das mit dem Totschlagen wird er zu verhindern wissen. Und falls du die Geschichte vor das Gericht des Königs zerrst, dann werden wir es unterbinden. Wir werden aussagen, dass du schon immer seltsam warst und nun, durch den Unfall deiner Braut, total den Verstand verloren hast. Es war ein Unfall, das ist unsere Geschichte. Was meinst du, wem man glauben wird? Unserem Vater Anthes, dem Hauptmann des Parmenion, oder dem Kröterich? Wir können keinen Skandal gebrauchen, der einen Schatten auf unsere Ehre wirft. Schließlich will ich zu den Gefährten des Königs.“

Sie hatten sich also verschworen, und selbst Eurydike spielte mit, obwohl ihr eigener Mann ihre Nichte ermordet worden war. Es war eine verdorbene korrupte Gesellschaft, die nur auf sich selbst bezogen lebte, ihren eigenen Begierden und Leidenschaften ausgeliefert. Sie taten so, als wenn ich infolge des Leids über den Tod meiner Braut verrückt geworden wäre und sperrten mich ein und gaben an, dass Andromache bei einem Spaziergang im unwegsamen Feld zu Tode gekommen sei. Das war die offizielle Erklärung des Clanchefs Anthes und niemand kam auf die Idee, dies nachzuprüfen. Jeder auf unserem Berg kannte die Wahrheit, aber alle schwiegen, weil sie den Alten fürchteten und er noch unleidlicher und böser und härter geworden war, so dass sogar Eurydike vor ihm Angst bekam.

Schließlich sah ich ein, dass mich meine Weigerung, die Realität anzuerkennen, nämlich, dass der Vater mir einstweilig über war, nicht weiter brachte, und ich tat so, als wenn ich mich in mein Schicksal fügte und schließlich ließ man mich aus der Kammer und alle taten so, als wenn es mich nicht gäbe, von Phokis und Andreos, dem Koch, abgesehen. Mein Vater blickte weg, wenn er mich sah und mir war dies nur recht. Ich hielt mich so wenig wie möglich auf dem Berg auf und hütete die Schafe und Ziegen. In dieser Zeit waren Spitames und Phokis wie Brüder zu mir. Phokis versuchte mich mit seinen Schnurren auf andere Gedanken zu bringen und Spitames kletterte mit mir durchs Gebirge. Wir hatten großes Jagdglück und erlegten einige Sauen und einen Berglöwen und der Wolfstöter sagte immer wieder, dass er so ein Jagdglück noch nie erlebt habe. Sicher würden die Götter an mir etwas gutmachen. Ich hatte auch das Gefühl, dass mir Apollon wieder sehr nahe war und ich beklagte mich bei ihm und schalt ihn einen Treulosen. Aber antworten tat er mir noch nicht. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen. Aber ich kann bestätigen, dass er sich mächtig anstrengte mich zu beschwichtigen. Aber die erste Liebe in der unwiederbringlich entschwundenen Jugend habe ich nie vergessen. Ich habe mit Andromache nie die Lust erlebt, nie ihren Schrei gehört, nie den Schweiß der Liebe gerochen. Doch war diese Liebe deswegen weniger groß und schön und einmalig? Aber wie gesagt: Apollon gab sich Mühe und warf sich so ins Zeug und ich kam einen Schritt dem näher, was Apoll vorausgesagt hatte. Der Ratschluss der Götter hatte diesmal wohl gelautet, dass nicht jede große Liebe ein gutes Ende haben muss. So bekam ich die ersten Zweifel, ob ich mich auf die Götter verlassen konnte.

Alexanders letzter Traum

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