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4.2.4 Deklinationsunterschiede als sedimentierte GeschlechterrollenGeschlechterrolle
ОглавлениеFragt man nach der Ratio der hier behandelten Klassen und insbesondere der Attraktivität der schwachen Maskulina für Männerbezeichnungen, so findet man die Antwort in der materiellen Kasus- und damit Rollenanzeige. Einzig die schwachen Maskulina praktizieren im Singular einen flexivischen Unterschied zwischen Nominativ und Akkusativ, indem (der) Bote gegen (den) Boten opponiert. Historisch (im Ahd. und Mhd.) gehörten auch sehr viele Feminina dieser schwachen Klasse an (womit Maskulina und Feminina in einer Klasse vereint waren), d.h. diese Feminina flektierten damals ebenso wie die Maskulina heute, also mit Nullendung im Nominativ und mit n-Endung im Nichtnominativ (s. Relikte wie auf Erden oder von Seiten). Noch bei Luther flektierte Erde im Singular wie folgt: die ErdeNom vs. der ErdenGen/Dat / die ErdenAkk. Tab. 4-3 zeigt das Singularparadigma eines nhd. schwachen Maskulinums und eines gemischten Femininums. Deutlich wird außerdem, wie stark der Artikel in den Kasusausdruck eingebunden ist – auch dies bei den Maskulina stärker als bei den Feminina.
Der (unmarkierte) Nominativ bezeichnet i.d.R. das Agens, d.h. den Auslöser/Ausführer einer Handlung, während die (markierten) n-Formen den Mann als Rezipienten (Dativ) oder als Patiens (Akkusativ) ausweist (der Genitiv zeigt Zugehörigkeit oder Besitz an). Die unterschiedliche formale Markierung ist dabei nicht zufällig, sondern zeigt an, dass der grammatische Normalfall den Mann als Agens einer Handlung und nicht als Patiens vorsieht. Auch das Polnische ist dafür bekannt, nur bei belebten Maskulina eine flexivische Nom./Akk.-Opposition zu praktizieren, z.B. kotNom vs. kotaAkk ‚Katze‘, aber domNom=Akk ‚Haus‘. In der Romania (v.a. Spanisch) ist die sog. differenzielle Objektmarkierung, eine präpositionale Markierung belebter Objekte, verbreitet; davon sind jedoch Maskulina wie Feminina betroffen (die Neutra sind abgebaut).
Zentral ist hier die +/– Agens-Information, die der Hörerin sofort signalisiert, ob der vom Nomen bezeichnete Mann die Handlung selbst steuert und ausführt oder ob er von ihr betroffen (affiziert) und ihr damit ausgeliefert ist. Wie stark die Agentivität insgesamt ausgeprägt ist, hängt außerdem von der Dynamik der Handlung und dem Ausmaß ab, in dem das Agens sie steuert, sowie von der Zahl der (womöglich belebten) Objekte, die von dieser Handlung affiziert sind (sie friert – hustet – spricht – beendet das Gespräch – gibt ihnen drei Euro – rettet zehn Patienten das Leben).
Kasus | prototyp. sem. Rolle | Artikel | sw. Mask. | Artikel | gem. Fem. |
Nom. | Agens | der | Bote | die | Dame |
Gen. | Possessor | des | Bote-n | der | |
Dat. | Rezipient | dem | der | ||
Akk. | Patiens | den | die |
Tab. 4-3: Die nhd. Kasusflexion im Singular schwacher (sw.) Maskulina und gemischter (gem.) Feminina
Generell ist eine Nom./Akk.-Distinktion bei Animata sinnvoll, weil typischerweise belebte Objekte Handlungen auslösen (Agens), aber auch Ziel einer Handlung sein können (Patiens), und dieser wichtige Unterschied will klar markiert sein: Ob jemand transferiert / operiert / tötet oder ob jemand transferiert /operiert / getötet wird, ist von höchster Relevanz. Unbelebte Objekte kommen dagegen typischerweise in der Patiensposition vor, sie steuern selten eine Aktion. Seit jeher bezeichnen Neutra äußerst selten Menschen (zu MädchenMädchen und WeibWeib s. Kap. 4.2.6), was erklärt, weshalb sich viele indoeuropäische Sprachen hier einen (alten) Nom./Akk.-SynkretismusSynkretismus (Formgleichheit) leisten, vgl. nhd. Nom. = Akk bei es / es, das Schwein / das Schwein. Auch das unbelebte Fragepronomen was, das ein altes Neutrum fortsetzt, zeigt diesen Synkretismus (wasNom läuft da? wasAkk hast du gesehen?), während maskulines, belebtes wer hier differenziert (werNom läuft da? wenAkk hast du gesehen?).1 Feminina hatten an der Nom./Akk.-Distinktion ursprünglich auch teil, vgl. ahd. siu ‚sie‘ (Nom.) vs. sia ‚sie‘ (Akk.), diu zunga (Nom.) vs. dia zungūn (Akk.). Im späten Mhd. wurde diese systematische Distinktion ([dy:] vs. [diǝ] etc.) jedoch aufgegeben – ob phonologisch oder morphologisch motiviert, ist umstritten, denn im Fall von mhd. s[y:] (Nom.) vs. s[iǝ] (Akk.) kamen auch betonte Formen vor, die eine solche phonologische Differenzierung hätten konservieren können. Andere vertreten die Ansicht, dass mhd./fnhd. sie, die den alten Akk. fortsetzt (zu dieser Diskussion s. Krifka 2009), die Einheitsform also morphologisch motiviert sei.
It remains a problem, for either explanation, why the animates, among the feminines, did not build up sufficient resistance against this development, if the case distinction had a high functional load for them. (Krifka 2009, 153).
Die deutsche Sprachgeschichte kennt durchaus Beispiele für morphologischen Widerstand gegen lautgesetzlichen Sprachwandel (so erfasst die e-Apokope zwar den Dat.Sg., nicht aber den Plural, s. dem Tag(e) vs. die Tag-e). Hier wurde jedoch eine wichtige Distinktion aufgegeben, die bei femininen Nomen (worunter sich die meisten Frauenbezeichnungen befinden) auf die Information Agens vs. Patiens verzichtet. Dass auch die feminine gemischte Flexionsklasse im Frühnhd. sämtliche Kasus aufgegeben hat, wurde bereits gesagt (Reste: mit MutterMuttern, ich habe MutternMutter gesehen). Hierbei handelt es sich um keinen phonologischen (es gibt keinen n-Schwund), sondern um einen morphologischen Prozess. Krifka (2009) erklärt diese Kasusnivellierung mit der historischen Ungleichbewertung der Geschlechter, wo Frauen daran gehindert wurden, Handlungsträgerschaft zu übernehmen und damit in Agensrollen zu treten. Dieser Sexismus habe sich in die Grammatik eingefräst:
One possible reason why the functional load of case distinction might have been less prominent with feminines than with masculines is that female referents are lower on the (linguistic) animacy scale than male referents. This might be an effect of a sexist speech community, or a sexist perception within the speech community, in which females are less likely to resume the agent role. There is little doubt that sexism is behind the so-called generic use of the masculine gender, as in someone left his lipstick in the bathroom, and the generic use of expressions like chairman. […] Case syncretism in feminine nouns would then be nothing else than another case of built-in sexism of language. (153f.)
This finding [keine Nom./Akk.-Unterscheidung bei Feminina] can be interpreted straightforwardly as evidence of a sexist society in which the denotation of feminine NPs occur less frequently in the agent role than the denotation objects of masculines; the need to distinguish agent and patient would then be less pressing for feminines. (165)
Schließlich muss man auch einen Blick auf die Genitivmarkierung werfen: Auch hier gilt, dass Feminina früher eine hatten, heute aber nicht mehr.2 Auch der mit dem Dativ synkretistische (homophone) Artikel der (Singular) trägt dazu wenig bei. Tab. 4-3 ist zu entnehmen, dass der Genitiv typischerweise die Possessor-Rolle markiert, also i.d.R. eine Person, die etwas oder jemanden besitzt (Besitzrelation) oder der etwas oder jemand gehört (Zugehörigkeitsrelation). Damit ist der Possessor eine mächtige Person, die über etwas oder jemanden verfügt. Alle Maskulina (und auch Neutra) markieren den Genitiv sehr salient, nämlich im Singular (heute oft als noch einzigen Kasus) über -(e)s: des Mann-(e)s, des Lehrer-s, des Hund-es. Dieses Genitiv-s ist stabil und tritt auch an Fremdwörter. Auch der Artikel des markiert monofunktional (d.h. mit hoher Signalstärke) Genitiv Singular bei Maskulina und Neutra. Innerhalb der Familie werden und wurden Zugehörigkeiten über Genitivkonstruktionen mitgeteilt, wobei hier fast nur Väter und Ehemänner als Possessoren auftreten, manchmal auch Berufsausübende (Pfarrers Kinder, Müllers Vieh …). Dialektal sind solche Possessivkonstruktionen wie (s) Meiers Grete noch erhalten (Kap. 9.3). In welchem Ausmaß früher Männer häufiger als Frauen die Possessorposition innehatten bzw. noch heute besetzen, ist nicht bekannt und ein weiteres offenes Thema. Auch die Dativmarkierung erfolgt wenn, dann bei Maskulina und Neutra, aber nicht (mehr) bei Feminina. Allerdings wird sie in ihrer Form als -e kaum noch verwendet (dem Mann(e), im Wald(e)).
Weitere Evidenz dafür, dass Bezeichnungen für Frauen tiefer auf der (sozial induzierten) AnimatizitätsskalaAnimatizitätsskalaBelebtheitshierarchieBelebtheitshierarchie liegen als solche für Männer, wurde bereits genannt: Bei der Räumung der schwachen Maskulinklasse wurden unbelebte Entitäten in die neue n-Klasse überführt, schwach belebte (Pflanzen, Fische, Insekten etc.) dagegen zu den Feminina umsortiert. Stärker belebte, aber nicht-humane Lebewesen (Vögel, Säuger) bleiben Maskulina und wandern in andere Flexions-, aber eben nicht Genusklassen ab. Wie das Verhältnis zwischen Flexions- und Genusklassifikation genau beschaffen ist, wie es sich diachron wandelt und welche Hinweise auf (historische) Geschlechterordnungen es uns liefert, ist noch unzureichend erforscht und verstanden.
Das gesamte Flexionsklassensystem ist durchzogen von unterschiedlichen Kasusdistinktionen und -markierungen und getränkt mit Geschlechtersegregation und GeschlechterrollenGeschlechterrolle, die allesamt darauf hinweisen, dass Männer in deutlichem Unterschied zu Frauen mächtige, einflussreiche Rollen und Positionen innehaben. Seit vielen Jahrhunderten bis heute tradieren und verändern wir (unbewusst) dieses Klassifikationssystem über Sprachwandel. Nur in Gestalt sog. Zweifelsfälle – synchrone Varianten (wie des Bärs / des Bären) als Ausdruck von Sprachwandel – durchbricht es die Wahrnehmungsschwelle, indem man aktuelle Umklassifizierungen zu greifen bekommt. Die Ratio dahinter hat jedoch viel und diachron zunehmend mit Belebtheit, Geschlecht, Geschlechterordnung und Bewertungen zu tun, die sich grosso modo in der Abgrenzung des agentiven Mannes von TierenTiere, Frauen und Gegenständen manifestiert, aber auch zu ‚Versagern‘, zu sozial verachteten Männern (s. Nübling, im Druck). Ein empfehlenswerter Aufsatz, der sich mit russischen Deklinationsklassen und der durch sie manifest werdenden Geschlechterordnung befasst, ist „How pervasive are sexist ideologies in grammar?“ von Nesset (2001).