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4.3.2 Das Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip
ОглавлениеÄhnlich wie sich eine strikte Geschlechtsbinarität nicht aufrechterhalten lässt, handelt es sich auch bei ‚+/– belebt‘ nicht um eine Dichotomie: Menschen und Götter werden als belebter wahrgenommen als Säuge- und Kuscheltiere, diese wiederum mehr als Quallen, Pflanzen, Steine oder Hohlmaße. In der Linguistik hat sich die in Abb. 4-1 skizzierte sog. Belebtheits- oder AnimatizitätshierarchieBelebtheitshierarchie bewährt, die zahlreiche grammatische und lexikalische Strukturen zu erklären in der Lage ist.
Abb. 4-1: Die Belebtheits- oder AnimatizitätshierarchieTiere
Diese Belebtheitshierarchie ist anthropozentrischAnthropozentrismus organisiert, d.h., sie speist sich primär aus der Ähnlichkeit uns umgebender Entitäten zu uns selbst (Ego). Deshalb sind Verwandte für uns belebter als andere Menschen. Da hierbei auch Agentivität und Individualität eine Rolle spielen, sind handlungsmächtige Personen wie Kanzlerinnen, Präsidenten, Politikerinnen oder Kleriker belebter als weniger agentive. Alles, was einen Namen trägt, weist ebenfalls einen hohen Belebtheitsgrad auf, v.a. dann, wenn der Referent menschlich ist (Lena). Selbstverständlich sind auch fiktive Gestalten und Artefakte, denen wir Agentivität (Götter, Helden) oder Persönlichkeit verleihen (Stofftiere, Puppen), ebenfalls als hochbelebt anzusehen. Auch Körperteile gehören dazu.
Bei den TierenTiere unterscheiden wir abermals nach Ähnlichkeit zu uns. Dies macht Säugetiere für uns belebter als Fische oder Insekten. Es folgen die schwach belebten, fortbewegungsunfähigen Pflanzen, danach inanimate, aber noch konturierte und damit zählbare Gegenstände, dann nicht-konturierte, nicht-zählbare Stoffe und schließlich immaterielle Konzepte, die i.d.R. durch Abstrakta versprachlicht werden.
Die Zusammenhänge zwischen Genus und Geschlecht sind bei genauerem Hinsehen komplex, doch gilt als die verlässlichste und produktivste (d.h. auch bei lexikalischen Neuzugängen wirksame) Regel, dass Bezeichnungen für weibliche Menschen feminin und solche für männliche maskulin sind. Es gibt kein anderes semantisches Genuszuweisungsprinzip von solch hohem Geltungsgrad. Die linguistische Genusforschung spricht hier vom Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip. Dieses Faktum ist deshalb so bemerkenswert, weil die ursprüngliche Funktion der Genera ja nicht in der Anzeige von Geschlecht bestand. Dass aber Genus in vielen indoeuropäischen Sprachen an Geschlecht gekoppelt wurde, zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, menschliches Geschlecht im Genussystem und damit tief in der Grammatik zu verankern.
Die Prinzipien der GenuszuweisungGenuszuweisung im Deutschen gliedern sich in formale und semantische, die Köpcke/Zubin (1984, 1996, 2009) beschreiben. So haben Einsilber eine hohe Wahrscheinlichkeit, maskulin zu sein (Stein, Job) und Trochäen, feminin zu sein (Kanne, Gruppe). Wichtiger ist das morphologische Letztglied-Prinzip, bei dem das letzte Morphem das Genus der gesamten Wortbildung diktiert; bspw. generieren die Diminutivsuffixe -chen und -lein Neutra und überschreiben damit das Genus der Basis: der Mann – das Männchen, die Mutter – das Mütterchen. Unter die semantischen Prinzipien i.w.S. fasst man alle nicht-formalen Prinzipien (die nicht dem materiellen Wortkörper entnehmbar sind):
1 das referenzielle Prinzip, wo der konkrete Referent Genus zuweist (gilt bei Eigennamen, vgl. die Adler als Schiffs- vs. das Adler als Biername; s. Fahlbusch/Nübling 2014);
2 das pragmatische Prinzip, wo Beziehung Genus zuweist (z.B. das Anna für eine Nähe- und die Anna für eine Distanzbeziehung zwischen SprecherIn und Frau; Kap. 9.3);
3 das semantische Prinzip i.e.S., wo die lexikalische Bedeutung eines Lexems Genus zuweist. Am stärksten evozieren vergeschlechtlichte Personen- oder Tierbezeichnungen ein bestimmtes Genus („Genus-Sexus-Prinzip“ z.B. der Vater, die Mutter, der Hengst, die Stute). Auch Lexeme für Früchte steuern Genus, nämlich das Femininum (die Mango, Ananas, Kiwi etc. – Ausnahmen: Apfel und Pfirsich).
Da Genus an Kongruenz gebunden ist, zieht es sich oft vielfach durch die Nominalphrasen (es ermöglicht maßgeblich die sog. Nominalklammer) und ist es dadurch sehr präsent, man könnte sagen: omnipräsent.
Abb. 4-2 zeigt, dass im linken Bereich höchster AnimatizitätBelebtheitshierarchie engste Genus/Sexus-Verschränkungen gelten. Von Genusarbitrarität kann hier nicht die Rede sein. Da sich die soziale Zweigeschlechtlichkeit direkt in entsprechender GenuszuweisungGenuszuweisung spiegelt, kommen auch nur Feminina und Maskulina vor und so gut wie keine Neutra (zu eingeklammertem s Anna s. Kap. 9.3, zu WeibWeib s. Kap. 4.2.6). Man kann hier also von einer Gleichschaltung zwischen weiblichem Geschlecht und Femininum sowie männlichem Geschlecht und Maskulinum sprechen. Der Festigkeitsgrad dieser Koppelung nimmt nach rechts hin zu den Tieren etc. sukzessive ab, franst immer mehr aus und löst sich schließlich auf. PersonennamenPersonenname als Spitze der Belebtheitshierarchie (Namen referieren auf individualisierte Einzelpersonen) verkoppeln Geschlecht und Genus am engsten (Rolf (m.) – Ronja (f.)).1 Hinzu kommt, dass diese Information sogar meist am Namenkörper salient (hör- und sichtbar) verankert wird (anderen Substantiven hört man kaum ihr Genus an), indem etwa die Auslaute -a und -e auf Frauen und konsonantische Auslaute oder -o auf Männer verweisen (Kap. 9.1). So benötigt man zur Sichtbarmachung von Genus keine Kongruenzmittel (im Standard sind PersonennamenPersonenname auch artikellos), das Genus wird der Phonologie selbst unbekannter Namen entnommen.
Abb. 4-2: Genus-Sexus-Relationen bei Animata (ohne Diminutiva)
Ein anderes Prinzip, das ebenfalls die enge Genus-Sexus-KopplungGenus-Sexus-Prinzip untermauert, wurde bei den Rufnamen im Germanischen, d.h. schon vor über zwei Jahrtausenden, praktiziert: Typischerweise bestanden die Namen aus zweigliedrigen, sog. programmatischen (d.h. mit Bedeutung gefüllten) Komposita (oft aus dem kriegerischen Bereich), wie sie heute noch in Gerhild oder Arnulf zu greifen sind. Dabei galt die strikte Regel, dass (gemäß dem Letztglied-Prinzip) das zweite Nomen bei Frauennamen ein Femininum und bei Männernamen ein Maskulinum sein musste: Ger-hild < ahd. gēr (m.) ‚Speer‘ + ahd. hiltja (f.) ‚Kampf‘; Arn-ulf < ahd. arn (m.) ‚Adler‘ + wolf /wulf (m.) ‚Wolf‘. Dadurch waren Neutra im Zweitglied kategorisch ausgeschlossen; das Genus des Erstglieds spielte keine Rolle. Deutlicher kann die Gleichschaltung von Genus und Sexus kaum zum Ausdruck kommen – außer beim sog. DifferentialgenusDifferentialgenus, das in Abb. 4-2 nicht enthalten ist. Vom Differentialgenus sind Substantivierungen von per se genuslosen Wortarten wie Verben oder Adjektiven betroffen, denen (als Substantiv) ein Genus zugewiesen werden muss, das jedoch variabel ist. Dabei erweist sich klar, dass Feminina ausnahmslos Frauen bezeichnen, Maskulina Männer (die Versicherte, der Versicherte) – und Neutra referieren auf Unbelebtes: das Versicherte würde kontextlos als ‚versichertes Gut‘ verstanden und kaum als *‚versichertes Kind' (Kap. 6). Da weder die Semantik noch die Form einen Beitrag zu diesen Geschlechtsinformationen leisten, handelt es sich hier nur um den reinen Effekt des Genus. Das (produktive und oft genutzte) Differentialgenus ist der stärkste Beleg nicht nur für einen eng verzahnten Verweis, sondern auch für die sprachliche Herstellung von Geschlecht allein durch Genus.2
Bei Verwandtschafts- und zentralen Personenbezeichnungen fällt auf, dass es zumindest im Singular keine gängigen geschlechtsabstrahierenden Oberbegriffe gibt: weder zu MutterMutter und VaterVater (hier springt im Bedarfsfall das etwas technisch wirkende Kompositum Elternteil ein) noch zu Tante/Onkel, Nichte/Neffe, Cousin/Kusine, Oma/Opa etc., aber auch nicht zu Nonne/Mönch (die zu Frau/Mann geschlechtsneutralen Ausdrücke MenschMensch und PersonPerson < lat. persona sind erst später entstanden; Kap. 8). Offensichtlich divergier(t)en soziale Verpflichtungen und GeschlechterrollenGeschlechterrolle so stark, dass eine sprachliche Geschlechtsabstraktion unmöglich ist. Viele Sprachen drücken im Verwandtschaftslexem zusätzlich die geschlechtliche Linie aus, über die das Verwandtschaftsverhältnis besteht – so auch im früheren Deutschen, wo Oheim und Muhme Onkel und Tante mütterlicherseits und Vetter und Base väterlicherseits bezeichneten.
Auch weitere Personenbezeichnungen sind durch enge Genus-Sexus-Bande gekennzeichnet (Mann, Mönch – Frau, Nonne). Allerdings kommt es, sobald man den Kernbereich verlässt und weitere Seme hinzutreten, durchaus zu Lockerungen, z.B. die Hilfskraft, Nachtwache, Geisel, Waise – das Mitglied, Opfer, Individuum – der Gast, Star, die für Frauen und Männer gelten. Ab hier lockert sich der Genus-Sexus-NexusGenus-Sexus-Nexus. Auch kommt es mit Mitglied, Individuum, WeibWeib und Kind zur Nutzung des Neutrums als drittes Genus (auch fachspr. das Geschwister). Während Mitglied sein Neutrum dem Wortbildungsteil –glied verdankt, treten junge, noch wenig geschlechtssaliente und nicht geschlechtsreife Menschen und NutztiereNutztiere häufig ins Neutrum (was umgekehrt das sexuierende Potential der Feminina und Maskulina unterstreicht): das Kind, Kid, Baby, Kleine, Neugeborene – das Junge, Kalb, Lamm, Kitz, Fohlen, Küken, Ferkel. Die drei letzten Substantive basieren historisch auf Diminutiva, die immer Neutrum generieren. Hier müsste umgekehrt die Frage gestellt werden, weshalb Diminutiva eigentlich (schon immer?) Neutra bilden und weshalb Junglebewesen so häufig in den Diminutiv geraten (denkbar ist nämlich, dass die – heute verblasste – DiminutionDiminution genau deshalb gewählt wurde, weil sie zu „passenden“ Neutra führt). Auf das berühmte Neutrum WeibWeib gehen wir in Kap. 4.2.6 ein.
Auch bei den NutztierenNutztiere, deren Ausbeute für uns maßgeblich von deren Geschlecht abhängt, setzt sich die Genus-Sexus-Verschränkung fort, allerdings bei immer mehr Abweichungen (z.B. ist das Huhn weiblich und die Drohne männlich). Auch kommt es bei höheren Nutztieren (aber niemals beim Menschen, abgesehen von Kind) zu geschlechtsneutralen Oberbegriffen im Neutrum: das Rind – die Kuh3 – der Stier/Bulle; das Pferd – die Stute – der Hengst/Wallach; das Schwein – die Sau – der Eber.
Pusch (1984) schlug schon früh die konsequente Nutzung der drei Genera ungefähr wie bei den NutztierenNutztiere gesehen vor, wobei ein und demselben Lexem drei Genera zukommen sollten: das Student (geschlechtsneutral) – die Student (wl.) – der Student (ml.). Dies erspart u.a. die (Nachrangigkeit indizierende) Movierung. Doch hatte dieser Vorschlag, wie Pusch selbst einwendete, aus verschiedenen Gründen wenig Aussicht auf Akzeptanz. Daher wurde die Sichtbarmachung von Frauen durch Femininisierungen zum Programm, was bereits zu Sprachwandel geführt hat. Einen anderen Entwurf, der Genus aufgibt, unterbreitet Matthias Behlert, zit. in Pusch (1999, 23–27). In diesen Einheitsparadigmen werden frühere Feminin- und Maskulinformen so rekombiniert, dass Kasussynkretismen beseitigt werden.
Bei den Säugetieren lockert sich dieses Genus-Sexus-Band immer mehr, denn hinter einem Hund oder einer Katze können sich beide Geschlechter verbergen – auch wenn ein Hund präferentiell männlich und eine Katze (oder eine Taube) weiblich assoziiert ist (zu der sich der Kater bzw. der Täuberich gesellt).4 Umgekehrt kann man, da das feminine Lexem zwar eine weibliche Schlagseite hat, doch auch geschlechtsneutral lesbar ist, Kätzin und Täubin (oder Katzen- bzw. Taubenweibchen) bilden (Doleschal 1992, 25). Bei der GenuszuweisungGenuszuweisung von Säugetieren spielen zunehmend Geschlechtsstereotype herein, die Katzen und Vögel präferentiell als weiblich und große TiereTiere bzw. Raubtiere wie Hunde, Löwen, Tiger, Elefanten als männlich konzipieren. Die Tatsache, dass man ggf. beide Geschlechter ausflaggen kann (Hundemännchen/Hundweibchen, Elefantenbulle/Elefantenkuh), zeigt, dass dieses Genus-Sexus-Band nur noch lose ist. Wie Doleschal (1992, 25) feststellt, lassen sich genus- und stereotypeninduzierte tierische Geschlechtserwartungen streichen, nicht aber menschliche: Der Hund da drüben ist ein Weibchen vs. *der Lehrer da drüben ist eine Frau. Ebenso wirkt es bei Tieren nicht tautologisch, das erwartete Geschlecht zu explizieren: Der Hund da drüben ist ein Männchen (oder Rüde) vs. *der Lehrer da drüben ist ein Mann. Humane Maskulina in spezifischer Verwendung werden männlich gelesen im Gegensatz zu animalischen (abgesehen von zentralen NutztierenNutztiere).5 Entsprechendes gilt auch für Feminina: Humane wie DameDame, Nonne, Tante werden weiblich gelesen, animalische wie Katze und noch mehr Kröte, Amsel, Spinne nicht zwingend.
Bei Nicht-Säugetieren („andere TiereTiere“ in Abb. 4-2) reißt das Genus-Sexus-Band schließlich ab: Feminina wie die Kröte, die Spinne oder Maskulina der Frosch, der Dorsch wecken keinerlei proto- oder stereotype Geschlechtserwartungen mehr, ebensowenig Bezeichnungen von Pflanzen, Objekten, Stoffen und Abstrakta.6 Auch wirken Neutra (Krokodil, Neunauge, Kraut) hier weder degradierend noch desexuierend. Dieser gesamte Genus-Sexus-Komplex auf der Achse abnehmender AnimatizitätBelebtheitshierarchie ist noch unzureichend erforscht und stellt ein wichtiges Desiderat dar (das sich korpusbasiert sehr gut untersuchen lässt), denn von den Rändern her lassen sich Determinanten, Gültigkeit und Reichweite von Prinzipien am klarsten erkennen.
Merkwürdigerweise bestreiten selbst LinguistInnen immer wieder diese evidenten Genus-Sexus-Korrespondenzen, die ausschließlich für die höhere Belebtheitsdomäne beansprucht werden (Menschen und teilweise NutztiereNutztiere). So liest man etwa in der Rubrik „grammis“ des Instituts für deutsche Sprache: „Dennoch weiß natürlich jedes Kind, dass das Genus, das grammatische Geschlecht, und der Sexus, das biologische Geschlecht, keineswegs immer übereinstimmen: ‚Oder glaubt einer, alle Igel seien männlich und alle Fliegen weiblich? Wir wissen schon Bescheid, aber es interessiert uns eben nicht‘ (Heringer 1995, 208)“ (Donalies 2008). Belege für Abweichungen von diesem Prinzip werden immer da gesucht, wofür es keine Geltung beansprucht, nämlich bei schwach belebten TierenTiere und gar unbelebten Objekten. Die folgenden Kapitel zeigen, dass die vermeintliche Genusarbitrarität in der Belebtheitsdomäne noch viel geringer ist als gemeinhin vermutet.
Abgesehen von der Genus-Sexus-Frage machen Köpcke/Zubin (1996, 484) eine weitere interessante Beobachtung (die ebenfalls noch ihres detaillierten und statistisch abgesicherten Nachweises harrt), wonach Lexeme für Menschen und menschenähnliche TiereTiere das Maskulinum als Default-Genus präferieren (Abb. 4-3). Sie entdecken bei Bezeichnungen von Menschen über solche von Säugern und Vögeln bis hin zu Insekten und amorphen Weichtieren ein sog. ethnozoologisches (oder anthropozentrisches) KontinuumAnthropozentrismus, bei dem zunächst das Maskulinum dominant ist. Dieses wird sukzessive vom Femininum abgelöst und schließlich ersetzt. Dem Neutrum kommt eine periphere Position zu (die in Abb. 4-3 nicht enthalten ist).
Abb. 4-3: Das ethnozoologische Kontinuum und sein Genusbezug (nach Köpcke/Zubin 1996)
Nach Köpcke/Zubin (1996) gilt: Je menschenähnlicher das Tier, desto eher wird ihm das Maskulinum zugewiesen – je größer die Distanz zum Menschen, desto eher das Femininum. Beim Menschen selbst manifestiere sich dieses Prinzip im sog. generischen Maskulinum, demzufolge Gattungsbezeichnungen für bestimmte Menschenklassen (Zeugen, Nachbarn, Athleten), bei denen kein Bezug auf das Geschlecht erfolgt, im Maskulinum stehen. Da das generische Maskulinum, wie wir in Kap. 5 erfahren werden, weniger Menschen als (erwachsene) Männer bezeichnet, ist dieses Kontinuum in Wirklichkeit nicht anthropozentrisch, sondern androzentrisch organisiertAndrozentrismus.
Allerdings gibt es auch sehr wirkmächtige formale GenuszuweisungsprinzipienGenuszuweisung – etwa dass Zweisilber auf -e [ǝ] dominant feminin und solche auf -er [ɐ] dominant maskulin sind –, die die semantischen („anthropozentrischen“)Anthropozentrismus Prinzipien durchkreuzen. Umso aussagekräftiger ist es, wenn formale Prinzipien vom semantischen gebrochen, d.h. aus den Angeln gehoben werden, wie dies einerseits für der Affe, der Löwe, andererseits für die Viper, die Natter gilt: Hier steuert allein die Nähe zum Menschen die Genuszuweisung, sie überschreibt dabei die Formregel. Dass diese Skala eine kognitive und keine streng biologisch-taxonomische ist, zeigt etwa, dass die dominant femininen Schlangen von den anderen Reptilien separiert zu werden scheinen: Äußerlich können Schlangen z.B. Würmern ähnlicher sein als Krokodilen. Bemerkenswert ist die schon Kap. 4.2.3 erwähnte Krake, die noch zwischen beiden Genera schwankt und zunehmend feminin wird. Im Fall von Gottesanbeterin ist das Femininum sogar morphologisch abgesichert. Viele Feminina gehen auf relativ späten (frühnhd.) Genuswechsel zurück, wo sich dieses ethnozoologische Kontinuum kognitiv-linguistisch etabliert zu haben scheint. Vor allem kam es zum Wechsel maskulin > feminin, „darunter nicht wenige Bezeichnungen von niederen Tieren“ (Paul 1917/1968, § 55) wie z.B. bei der > die Schlange, Blindschleiche, Ammer, Schnepfe, Grille, Heuschrecke, Schnake, Schnecke, Made, Drohne (!).7 Auch komplett Unbelebtes wanderte zu den Feminina (Brille, Diele, Flocke). Es wurde somit kräftig umklassifiziert (Köpcke 2000a; Paul 1917/1968, §§ 55–66). Dass kaum bewegungs- und steuerungsfähige, inagentive, menschenunähnliche Wesen (und Gegenstände) so femininaffin sind, dürfte genderstereotyp und damit sozial induziert sein und auf eine historisch zunehmende Polarisierung und Asymmetrisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinweisen. Um solche tief in die Grammatik sedimentierten Strukturen nicht nur oberflächlich zu deuten, sondern wirklich zu verstehen, bedarf es der interdisziplinären Kooperation von Sprach-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften.