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5. Das so genannte generische Maskulinum
ОглавлениеDieses Kapitel adressiert eine der größten Kontroversen in der öffentlichen Diskussion: Können maskuline Personenbezeichnungen wie Tourist, Einwohner, Leser, Pilot oder IndefinitpronomenIndefinitpronomen wie man, keiner, niemand geschlechtsübergreifend referieren, also von Geschlecht absehen? Kann das in ihnen enthaltene Maskulinum seine (in Kap. 4 belegte) Verweiskraft auf das männliche Geschlecht außer Kraft setzen oder zumindest reduzieren? Wie verhält sich dies im Plural? Für alle Substantive gilt, dass sie im Plural genusneutral sind, was bedeutet, dass keines ihrer Begleitwörter irgendetwas über Genus verrät. ‚Vergisst‘ man im Plural das Singulargenus, fördert der Plural eine ausgewogenere Repräsentation beider Geschlechter? Im Gegensatz zur öffentlichen Diskussion, die ohne Bezug zur Linguistik auszukommen pflegt, hat die (Psycho-)Linguistik diese Frage weitgehend beantwortet. Die über verschiedene Untersuchungsdesigns gewonnenen Ergebnisse weisen alle in die gleiche Richtung und führen zu dem Schluss, dass das sog. generische Maskulinum (GM) nur sehr bedingt funktioniert. In diesem Kapitel wollen wir die wichtigsten Tests vorstellen und relevante Differenzierungen vornehmen.
Zunächst irritiert die genderlinguistische Verwendung des Terminus generisch, denn er wird anders als in der Linguistik üblich verwendet (s. Hellinger 1990, 89f.; Heise 2000, 4; Christen 2004, 27f.; Petterson 2011, 62–70; Ott 2017a, 16f.). Eine generische Personenbezeichnung bezieht sich abstrakt auf eine Gattung (Klasse) als solche und keinesfalls auf konkrete Mitglieder derselben. Generisch sind folgende Sätze: Der/Ein MenschMensch ist ein Säugetier. (Die) Menschen sind Säugetiere. Wie man sieht, kann man sowohl im Singular als auch im Plural mit beiden Artikeln generisch referieren. Indem sich Generika nicht auf konkrete (Referenz-)Objekte beziehen, sind sie nicht-referenziell (nicht-identifizierend). Deshalb sind sie auch nicht erweiterbar durch Zahlwörter oder durch bestimmte/r, gewisse/r oder diese/r. Damit würde eine spezifische, referenzielle Lesart erzeugt: Diese/Bestimmte Menschen des 15. Jhs. setzt voraus, dass es sich um spezifische, vorerwähnte oder zumindest bekannte (eingeführte) Menschen handelt. Dies trifft auf Generika genau nicht zu. Betrachtet man die Tests zum sog. GM, wird echte Generizität selten zugrundegelegt. In aller Regel handelt es sich um spezifische Referenzen.
Sehr kurz fasst sich Bußmann (2002) bei der Definition des GM: „Gebrauch maskuliner […] Personenbezeichnungen und Pronomina zur Referenz auf beide Geschlechter“ (245). Klann-Delius (2005) liefert außerdem einige Beispiele:
Unter generischem Maskulinum werden Formen maskuliner Nomina und Pronomina verstanden, die sich auf Personen mit unbekanntem Geschlecht beziehen, bei denen das Geschlecht der Personen nicht relevant ist, mit denen männliche und weibliche Personen gemeint sind oder mit denen eine verallgemeinernde Aussage gemacht werden soll […]. Beispiele sind:
Die Sendung wird dem Zuschauer gefallen.
Der Japaner ernährt sich meist gesund. Fast jeder konsumiert häufig Fisch und Gemüse.
Man sollte wirklich nicht mehr rauchen.
Jeder, der raucht, kann einen frühen Tod erleiden. (26) [Unterstreichungen: DN].
Generisch wird somit in der Bedeutung von geschlechtsübergreifend oder -inklusiv, geschlechtsneutral, -indifferent oder -abstrahierend gefasst und bildet die Opposition zu geschlechtsspezifisch oder geschlechtsdefinit. Wir schließen uns Pettersson (2011) an und sprechen ab jetzt von geschlechtsübergreifendem Maskulinum, das wir – nicht unintendiert – ebenfalls unter „GM“ subsumieren, der bereits etablierten Abkürzung für Generisches Maskulinum. Da die Literatur zum generischen Maskulinum in aller Regel geschlechtsübergreifende Maskulina meint, ist diese Gleichsetzung vertretbar.
Vorab sind verschiedene Arten der Determination zu berücksichtigen (Hellinger 1990, 87–92; Doleschal 1992; Schoenthal 1998, 11; 2000). Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man eine Einzelperson (sprachlich) ausstellt und beleuchtet (dieser Nachbar ist besonders nett) oder ob man von irgendeiner Gruppe von Personen spricht, die womöglich nicht einmal Subjekt oder nur Objekt der Handlung ist, sondern Teil einer adverbialen Angabe (du kannst das Paket nebenan bei den Nachbarn abgeben). Dass dieser Nachbar keine Frau ist, dagegen nebenan bei den Nachbarn Frauen enthalten kann, dürfte weithin geteilt werden. Deutlich wird auch, dass der Numerus (ob Singular oder Plural) eine Rolle spielt, denn bei einer spezifischen Einzelperson (dieser Nachbar) erwartet man eine konkrete und korrekte Geschlechtsangabe, nicht aber von allen Personen einer Gruppe (meine Nachbarn); mehr dazu unten.
Da nicht-referenzielle Gebräuche von konkreten Eigenschaften der Personen absehen, tritt in solchen Verwendungen das Personengeschlecht am meisten zurück, wird es also irrelevant (dem Zuschauer wird das gefallen). Dies gilt auch für Prädikatsnomen, d.h. Nomen, die nach einer Kopula (einer Form von sein oder werden) stehen: In mein Nachbar ist Bäcker entfaltet ‚Bäcker‘ primär die semantischen Merkmale ‚beruflich backend‘. Ein bestimmter, konkreter Bäcker tritt dabei nicht auf. Gleiches gilt für die Kopula werden: mein Nachbar wird Bäcker. Hier stellt sich die Frage, ob das durch das Maskulinum evozierte Geschlecht soweit herausgefiltert bzw. in den Hintergrund geschoben wird, dass auch bei Frauen solche maskulinen Prädikatsnomen stehen können: ?meine Nachbarin ist Bäcker / wird Bäcker; sie ist Physiker (gemäß Duden-Grammatik 2016, § 1582 geht beides; mehr in Kap. 6.2.2.1).
(Nicht-)ReferenzialitätReferenzialität ist ein komplexes, abgestuftes Konzept. Am referenziellsten sind Objekte (dazu gehören auch Menschen und Tiere), wenn sie sprachlich identifiziert sind, und das leisten per se Eigennamen am besten, die wir hier ausklammern (Kap. 9). Objekte werden auch identifiziert, wenn man sprachlich auf sie zeigen kann, denn Referenzialität ist an den Grad der Identifizierbarkeit, ‚Sichtbarkeit‘ und Definitheit geknüpft. Dies alles nimmt in Tab. 5-1 von a) nach h) hin ab. Wir verwenden jeweils zwei maskuline Personenbezeichnungen: Gast, wozu keine geläufige feminine Form besteht, und Rentner, wozu das usuelle Femininum Rentnerin existiert. In beiden Klassen dürften sich real so viele Frauen wie Männer befinden, in letzterer eher noch mehr Frauen. Wir schließen damit männlich genderisierte Personenbezeichnungen wie Mörder, Kapitäne, Astronauten bewusst aus, ebenso weiblich genderisierte wie Kosmetiker, Altenpfleger, Erzieher (hierzu später mehr).
Beispiele | Kategorien | ||
a | Sehr geehrter Gast! Lieber Rentner! | adressierend | + + Referenzialität – – + + Relevanz von Geschlecht – – |
b | Dieser Gast / Dieser Rentner bezieht gleich sein Zimmer | referierend: spezifisch, demonstrativ, Agens | |
c | Der Gast / Der Rentner sucht noch seinen Koffer | spezifisch, definit, Agens | |
d | Ich habe den Gast / den Rentner begrüßt | spezifisch, definit, Patiens | |
e | Ich begrüße nachher noch einen [bestimmten] Gast / Rentner | spezifisch, indefinit | |
f | Im Wirtshaus kommt nachher sicher noch [irgend] ein Gast / ein Rentner vorbei | nicht-spezifisch, indefinit | |
g | Sg.: Ein (der) Gast / ein (der) Rentner ist immer willkommen; Pl.: Gäste / Rentner sind immer willkommen. | generisch, Subjekt | |
h | Du bist ein beliebter Gast / jetzt (ein) Rentner | prädikativ |
Tab. 5-1: Einige syntaktische und referenzlinguistische Kategorien und ihr Bezug zur ReferenzialitätReferenzialität und Relevanz von Geschlecht
Tab. 5-1 enthält nur eine kleine Auswahl an syntaktischen und referenzlinguistischen Kategorien. Sie verdeutlicht deren Bezug zur ReferenzialitätReferenzialität und damit zur Relevanz von Geschlecht: Je referenzieller, desto obligatorischer die Geschlechtsangabe. Wir haben unter a) auch die sog. AdressierungAdressierung eingefügt (und vom referierenden Rest abgehoben), da Personen sehr oft angesprochen (und nicht nur besprochen) werden. Bei der Verwendung von Rentner in a) scheinen Frauen sich am wenigsten angesprochen zu fühlen (evt. auch bei Gast). Genau in dieser Adressatenfunktion werden die beiden Geschlechter am häufigsten ausgeflaggt (z.B. durch liebe Rentnerin, lieber Rentner!). Die Konkretheit und Identifizierbarkeit (Referenzialität) des Gastes bzw. Rentners nimmt von a) bis h) sukzessive ab, und in diesem Maß vermutlich auch die Vorstellung eines männlichen Vertreters. Damit ist nicht gesagt, dass in f) bis h) beide Geschlechter gleichermaßen aufgerufen werden, sondern Geschlecht scheint zurückzutreten, irrelevant zu sein. Diese Irrelevanz gilt nicht für a) bis e). Hier erbringen Tests Evidenz dafür, dass kaum Frauen assoziiert werden: Weibliche Rentner müssen hier als movierte Rentnerin erscheinen (Doleschal 1992). Wie dies bei Gast aussieht, wozu nur selten Gästin gebildet wird, ist noch ungeklärt.1 Evozieren nichtmovierbare maskuline Personenbezeichnungen (Gast, Fan) mehr weibliche Vorstellungen als movierbare (Rentner, Kunde), die auf die Existenz einer spezifisch weiblichen Form verweisen? Die Exponierung von Einzelpersonen erfordert Geschlechtsspezifizierung.
Bekanntlich ist es nicht möglich, sich eine geschlechtslose Einzelperson vorzustellen. Daraus resultiert das notorische Problem, auf Straßenschildern oder Ampeln, geschlechtslose Figuren darzustellen. Aus der experimentellen Psychologie weiß man, dass ein Mensch ohne deutlich weibliche Geschlechtsinsignien (Brust, Rock, Stöckelschuhe) als Mann gelesen wird (Heintz 1993, 28). Bei jeder noch so flüchtigen Begegnung mit einem Menschen erwarten wir, sofort das Geschlecht zu erkennen (Heintz 1993; Hirschauer 2001). Bei sprachlichen Zeigegesten auf individualisierte Personen (Fälle a) bis e)) greift das Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip am verlässlichsten. Dies unterstreicht auch Becker (2008): „Da wir uns kaum eine geschlechtslose Person vorstellen können, ist es nahezu immer relevant, beim sprachlichen Bezug auf eine Einzelperson das Geschlecht zu erwähnen“ (66). So komme es einer Lüge gleich, wenn „ein Mann seiner Ehefrau mitteilt: ‚Heute abend gehe ich mit einem Kollegen zum Essen‘“ (ebd.) und es sich dabei um eine Kollegin handelt. Diese Mitteilung entspricht Typ e) mit hoher Geschlechtsrelevanz.
In den letzten vier Fällen e) bis h) tritt der Indefinitartikel – in unterschiedlicher referenzieller Ausprägung – auf: in e) handelt es sich um einen zwar unbekannten, aber konkreten und für die SprecherIn spezifischen Referenten, der mit bestimmt oder gewiss erweiterbar ist (heute abend gehe ich mit einem bestimmten/gewissen Kollegen zum Essen). Dagegen enthält f) keinen spezifischen Referenten mehr, was das Nomen mit irgend kombinierbar macht. In g) und h) versiegt jegliche ReferenzialitätReferenzialität; in g) liegt echte Generizität (abstrakter Bezug auf die Klasse) vor, in h) prädikative Verwendung, die nur die zentralen Seme (Bedeutungskomponenten) abschöpft (Doleschal 1992, 72). Ebenso sind Determinationsglieder von Komposita nicht-referenziell: Raucherabteil, Ausländeranteil, Verbraucherdienst. Bei der Verwendung von Prädikatsnomen ist das Personengeschlecht durch das Subjekt in der Regel bekannt (auch bei ich und du durch die Anwesenheit dieser Personen); hier stellt sich vielmehr die Frage, ob ein maskulines Prädikatsnomen mit einem weiblichen Subjekt kookkurrieren kann, z.B. sie ist ?Lehrer/?Rentner/?Nichtraucher (Kap. 5.1.11 und 6.1.1.2). In den Fällen a) bis g) stellt sich dagegen die interessante wie relevante Frage, was Hörer- oder LeserInnen tun, wenn sie gebeten werden, solche Bezeichnungen zu konkretisieren, z.B. indem sie die assoziierten Personen zeichnen, ihnen Namen geben oder Geschichten über sie erfinden sollen.
Der Einfachheit halber haben wir nur Singulare verwendet (außer in g). Allerdings dürfte die Numeruswahl hochrelevant sein. Kontrastiert man diese Sätze mit Pluralen, schwächt sich die männliche Lesart ab. Wie bereits gesagt, ist im Plural Genus grundsätzlich unsichtbar (‚Genusneutralisierung‘Neutralisierung). Die Frage ist nur, ob das singularische Genus im Plural ‚vergessen‘ wird. Tatsache ist, dass Nomen, die nur im Plural vorkommen (sog. Pluraliatantum wie Leute, Ferien, Unkosten) tatsächlich kein Genus haben (aber anscheinend dennoch ein Geschlecht, zu Leute s. Kap. 5.1.11). Daraus resultiert die wichtige Frage: Führt die Pluralisierung von Maskulina zu einer ausgewogeneren Geschlechterassoziation? Die meisten Tests (mit Ausnahme von Kusterle 2011 und De Backer/De Cuypere 2012) haben die Numerusopposition nicht oder eher zufällig berücksichtigt. Grundsätzlich tritt die kognitive Geschlechtswahrnehmung bei den Mitgliedern einer Gruppe in den Hintergrund, da es eine Überforderung wäre, jedem einzelnen ein Geschlecht zuzuweisen, vgl. ein Tourist kam auf mich zu vs. Touristen kamen auf mich zu. Im Singular besteht eher Geschlechtsspezifizität, während im Plural auch Frauen enthalten sein können, denn im Deutschen gilt das Prinzip, dass Movierung auch dann unterbleibt, wenn sich in einer Gruppe mehr Frauen als Männer befinden: 99 Sängerinnen und ein Sänger bilden nach deutscher Grammatik 100 Sänger (Pusch 1984). Nur reine Frauengruppen werden moviert (Touristinnen). Daher: Einige Touristen – alles Männer/?alles Frauen / darunter auch Frauen/*darunter auch Männer – kamen auf mich zu. Doch gibt es durchaus Belege für GM, bei denen die Anwesenheit männlicher Mitglieder thematisierbar ist, Frauen somit präsupponiert sind: „Die Täter sind überwiegend Männer, viele der Taten geschehen im nahen sozialen Umfeld“ (Pettersson 2011, 15); „Mit ‚Männer und andere Irrtümer‘ hat die […] Kabarettistin Simone Mutschler […] vor etwa 60 Zuhörern, darunter auch Männer, ihr Debüt gegeben“;2 selbst im Singular (aus einem Bericht über Osteoporose): „Jeder vierte Patient ist ein Mann“. Hierzu besteht noch intensiver Forschungsbedarf.
Hinzu kommt, dass jedes Lexem ein sog. soziales Geschlecht hat (genderisiert ist), das sich aus außersprachlichen Geschlechterverteilungen oder -vorstellungen (die oft historisch befrachtet sind) speist: Piloten und Professoren werden eher männlich gelesen als Touristen, Zuhörer und Patienten.
Schließlich sind auch die syntaktischen Funktionen und die damit verbundenen semantischen Rollen von Bedeutung: Der Grad an ReferenzialitätReferenzialität ist z.B. eingeschränkt, wenn Gast kein direkter Partizipant (Handlungsbeteiligter) ist – d.h. weder Subjekt (Agens) noch Dativ- (Rezipient) oder Akkusativobjekt (Patiens) –, sondern (meist innerhalb einer Präpositionalphrase) nur der räumlichen Verortung von etwas anderem dient und somit adverbiale Funktion innehat: gestern war die Heizung bei dem Gast nicht aufgedreht; sie geht nachher in den Blumenladen neben dem Biobäcker; sie ist immer noch beim Arzt. Da bislang die Abhängigkeit möglicher Geschlechtsassoziationen von den graduellen Gehalten an Referenzialität kaum untersucht ist, wird im Folgenden öfter auf solche Faktoren hingewiesen. Gerade bei dieser überaus kontrovers und oft ideologisch geführten Debatte um die Funktionstüchtigkeit des GM ist der Forschungsstand besonders gering (s. jedoch Doleschal 1992; Pettersson 2011; Kusterle 2011).
Wir beginnen mit Studien zur fraglichen Geschlechtsneutralität maskuliner Substantive (5.1.) und gehen anschließend zu (maskulinen) Indefinitpronomen über (5.2).