Читать книгу Essstörungen und Persönlichkeit - Helga Simchen - Страница 22
2.2 Wahrnehmung und Entwicklung von Essstörungen 2.2.1 Die Veranlagung, der genetische Code entscheidet
ОглавлениеJeder Mensch besitzt ein Potenzial zur Selbstverwirklichung. Kann er sein inneres Selbstkonzept wegen ständiger Enttäuschungen nicht verwirklichen, beginnt er psychisch zu leiden. Hierin liegt eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung von Essstörungen, die zu Stress und mangelndem Selbstvertrauen führt. Eine genetisch bedingte Störung in der Informationsverarbeitung prägt eine ganz bestimmte Persönlichkeitsvariante mit vielen Vorteilen, aber auch einigen Nachteilen.
Das Missachten prädisponierender genetischer Faktoren, das Bagatellisieren einer beginnenden Selbstwertproblematik und das Ignorieren mangelnder sozialer Kompetenz beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung negativ. Fehlende Krankheitseinsicht kompliziert den Verlauf.
Die bisherigen Theorien zur Entstehung von Essstörungen lassen noch viele Fragen offen. Von den zahlreichen Therapien, die Ärzte und Psychologen anwenden, sind diejenigen am erfolgreichsten, die nicht nur die Symptome behandeln, sondern auch deren Ursachen einbeziehen. Das erfordert auf Seiten des Therapeuten, den »Scheuklappenblick« des eigenen Fachgebietes aufzugeben und den Patienten in seiner Entwicklung als Teil seines sozialen Umfeldes ganzheitlich zu sehen. Ohne Erfolg wird in aller Regel eine Behandlung bleiben, bei der Ärzte primär die körperlichen Beschwerden und Psychologen vorrangig die psychischen Probleme betrachten und die Besonderheiten der frühkindlichen Entwicklung außer Acht lassen.
Die Erkenntnisse aus der neurobiologischen Forschung (Krause und Krause 2009, Braus 2004, Steinhausen 2000, Steinhausen et al. 2010, Freitag und Retz 2007, Simchen 2015, 2009) der letzten Jahre bieten neue Möglichkeiten für eine ursachenzentrierte Therapie, die wir nutzen sollten. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, die Schwerpunkte auf eine Verhinderung und Frühbehandlung von Essstörungen zu legen. Durch die Beachtung einer ganz bestimmten Persönlichkeitsstruktur, die unter psychischer Belastung mit einer typischen Symptomatik reagiert, lassen sich gefährdete Personengruppen herausfinden und vorbeugend behandeln. Und das schon zu einem Zeitpunkt, der weit vor der meist optisch gestellten Diagnose einer ausgeprägten Essstörung liegt.
Dabei beginnt die kritische Phase einer sich entwickelnden Essstörung oft schon im Kindergartenalter. Es sind die Erwartungen, die die Kinder schon in dieser Zeit an sich und die anderen stellen und die sich bei einigen von ihnen in zunehmender Weise immer weniger erfüllen. Eine immer häufiger (z. T. auch unbewusst) gemachte Erfahrung: »Alles kommt schlechter als erwartet und warum gelingt mir das nicht?«, verunsichert und beeinträchtigt das Selbstvertrauen und die psychische Stabilität der Buben und Mädchen.
»Ich kann das nicht!« – Wenn das zur dauerhaften Erfahrung von Kleinkindern wird, droht ihnen eine psychische Dauerbelastung, auf die sie mit Rückzug und Regression reagieren. Psychische Probleme können mit der Zeit somatisieren, d. h. sie zeigen sich als körperliche Beschwerden. Wird dagegen nichts unternommen, entwickeln sie sich in einem zweiten Schritt zur manifesten körperlichen Erkrankung. Eine typische Krankheitsgruppe sind die Essstörungen mit ihrem Spektrum von Über- bis Untergewicht.
Um unsere Kinder wirksam zu schützen, gilt es, den Entwicklungsprozess psychosomatischer Erkrankungen möglichst frühzeitig zu erkennen und zu unterbrechen, um ihnen ihre seelische Stabilität zu erhalten. Diese Zielsetzung beruht u. a. auf der immer wieder neu gemachten Erfahrung, dass psychisch stabile Personen in der Lage sind, starke psychische Belastungen ohne dauerhaften Schaden zu ertragen. Sie sind fähig, Strategien der Selbstheilung zu entwickeln und diese erfolgreich einzusetzen.
Auch die (beginnende) Essstörung stellt letztlich eine Strategie, einen Versuch der Selbstheilung dar. Hier gilt es, die betroffenen Mädchen und Jungen psychisch zu stabilisieren und ihnen wirksame therapeutische Hilfen anzubieten, noch bevor eine Essstörung zwanghaft wird.
Essstörungen sind sehr häufig das Ergebnis einer misslungenen »Selbstbehandlung« zur Verbesserung des Selbstwertgefühls, das unter einer ständig gespürten Hilflosigkeit bei gleichzeitiger Überforderung durch einen zu hohen Selbstanspruch leidet.
Der frühe Zeitraum, in dem ursprünglich psychogene Beschwerden somatisieren, d. h. sich auf die körperliche Ebene begeben, um sich dort dauerhaft festzusetzen, wird in Forschung und Praxis bisher viel zu wenig beachtet. Diese Phase frühzeitig zu erfassen und nicht erst im Nachhinein, eröffnet neue Möglichkeiten, die sich anbahnende Essstörung noch rechtzeitig zu unterbrechen. Meist wird erst, wenn die Essstörung schon besteht, nach den verschiedensten Ursachen gesucht und diese je nach psychotherapeutischer Ausrichtung bewertet und symptomorientiert behandelt.
Das Wissen um genetische Risiken sollte genutzt werden, damit aus der (individuellen und familiären) Veranlagung keine Krankheit wird. Denn die zentrale Aufgabe der Medizin wird in der Zukunft immer mehr sein, Gesundheit zu erhalten und die Entstehung von Krankheiten zu verhindern.