Читать книгу Essstörungen und Persönlichkeit - Helga Simchen - Страница 23
2.2.2 Veranlagung und Entwicklung als Einheit verursachen Essstörungen
ОглавлениеWer bei seinen Kindern ausgeprägte Formen der Essstörungen verhindern möchte, sollte deren Psychodynamik kennen und auf warnende Frühzeichen achten. Deshalb ist es ratsam, bei einer beginnenden Essstörung rechtzeitig nach einer angeborenen Persönlichkeitsvariante zu suchen, die mit einer veränderten Informationsverarbeitung und einer erhöhten seelischen Verletzlichkeit einhergeht. Fällt diese besondere Verletzlichkeit (Vulnerabilität) bei den Kindern mit einem hohen Selbstanspruch zusammen, wird häufig eine Entwicklung in Gang gesetzt, die unter ganz bestimmten soziokulturellen Umweltbedingungen zur Essstörung führen kann.
Diese angeborene, genetisch und neurobiologisch bedingte Verletzlichkeit führt zur Schwellensenkung gegenüber sozialen Stressoren. Die Betroffenen reagieren zu sensibel auf Belastungen, was bei fehlenden Kompensationsmöglichkeiten zu negativen Sichtweisen in Bezug auf ihr Selbstvertrauen führt. Alles wird wie durch eine Negativlupe und als gegen sich gerichtet wahrgenommen. Diese veränderte Art der Wahrnehmung wird zum Ausgangspunkt für viele psychische und psychosomatische Erkrankungen (Herpertz-Dahlmann et al. 2003, Meermann und Borgart 2006, Scheer et al. 2007). Genetisch geprägt bleibt sie meist lebenslänglich bestehen. Sich dessen bewusst zu sein, ist eine Voraussetzung zur Entwicklung individueller Strategien, um ohne psychische Beeinträchtigung auf Dauer mit der eigenen angeborenen Verletzlichkeit umgehen zu können. Diese Kompensationsmechanismen können erlernt und trainiert werden, damit sie sich automatisieren und jederzeit verfügbar sind. Ein positiver, stützender Faktor besteht dabei in der oft sehr guten intellektuellen Ausstattung der betroffenen Kinder und Jugendlichen, die aber deren hohen Anspruch an sich selbst und an andere noch verstärkt.
Diese angeborene und somit genetisch bedingte Verletzlichkeit frühzeitig zu erkennen, die Entwicklung dieser Kinder in den psychisch belastenden Phasen zu begleiten und wenn nötig therapeutisch zu stützen, könnte helfen, die Ausbildung schwerer Essstörungen zu vermeiden. Solche präventiven Maßnahmen sind möglich, wenn man weiß, welche psychischen Belastungen zu welchem Zeitpunkt das psychische Gleichgewicht einer ganz bestimmten Persönlichkeitsgruppe so gefährden, dass die Betroffenen mit Essstörungen reagieren. Denn Essstörungen sind für Kinder und Jugendliche ein Versuch der Selbstbehandlung einer als ausweglos empfundenen Situation. Deshalb muss es das Ziel von Eltern, Lehrern, Ärzten und Psychologen sein, bereits bei den ersten Warnzeichen einer beginnenden Essstörung präventiv und therapeutisch einzugreifen!
Essstörungen umfassen Magersucht, Bulimie und die Esssucht. Alle drei können Varianten ein und derselben Grundstörung sein.
Abb. 2.1: Wichtige Faktoren, die zur Entstehung von Essstörungen beitragen
Warum, wann und unter welchen Voraussetzungen kommt es zu Essstörungen?
Essstörungen entstehen vorwiegend in jenem zeitlich umschriebenen Lebensabschnitt, der entwicklungsbedingt sehr belastend ist. Belastend für diejenigen, die den pubertätsbedingten Anforderungen infolge ihres Reiferückstandes in der Persönlichkeitsentwicklung nicht gewachsen sind. Das bedeutet, dass wir Essstörungen als ein Ergebnis einer schon lange vor der Pubertät bestehenden, ständig zunehmenden psychischen Destabilisierung verstehen müssen.
Mädchen und Jungen in der Pubertät dienen Essstörungen dabei als ein scheinbar erfolgreiches Mittel, um die seit Jahren bestehenden quälenden Insuffizienzgefühle zu kompensieren und zu verdrängen. Dazu kommt eine ganz bestimmte Summe gemeinsamer Persönlichkeitsmerkmale, die das Entstehen einer Essstörung begünstigen und die in Zukunft mehr beachtet werden sollten. Eine große Bedeutung hat dabei zwanghaftes Verhalten, denn Zwänge sind »Hilfsmittel« zur Bewältigung psychischer Probleme.