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Kapitel 9

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Am nächsten Morgen machten sich die Mitarbeiter von Hauptkommissar Schneider, ausgestattet mit einem Foto von Alexander Safin, auf den Weg in die Goslarer Altstadt. Gisela Berger ging den direkten Weg vom Haus der Firma Beermann Consult zum Hotel und fragte etliche Passanten, Laden- und Restaurantbesitzer, ob sie Safin am vergangenen Nachmittag gesehen hätten. Drei weitere Mitarbeiter durchkämmten die anderen Straßen und Plätze der Altstadt. Nach einer Stunde klingelte Giselas Handy. Es war ihr Kollege Max Scheuer.

»Gisela, komm sofort zur Marktkirche. Ich denke, ich hab’ ihn gefunden.«

Fünf Minuten später war sie da. Es stellte sich heraus, dass eine Verkäuferin, die in einem Geschäft nahe der Marktkirche arbeitete, gesehen hatte, wie aus der Kirche ein Mann herausgetragen und in einen davor haltenden Krankenwagen gebracht wurde. Eine zweiter Mann wurde von zwei Sanitätern gestützt und ebenfalls in den Krankenwagen gebracht. Bei diesem handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Alexander Safin.

»Wie konnten Sie den Mann erkennen?«, fragte Gisela.

»Ich war gerade mit den Auslagen vor dem Laden beschäftigt, als der Krankenwagen kam. Und neugierig, wie ich bin, habe ich die ganze Sache beobachtet«, antwortete die Verkäuferin, eine attraktive junge Dame von Anfang zwanzig. »Der Mann, den Sie mir hier auf dem Bild zeigen, hatte einen hellen Anzug an und er wurde von den Sanitätern mehr geschliffen als gestützt, so als ob er gar nicht bei Bewusstsein war.«

Zurück auf der Dienststelle, erkundigte sich Gisela im Krankenhaus nach den eingelieferten Notfällen des Vortages. Ein Alexander Safin war nicht dabei. Alle Telefonate mit DRK, Feuerwehr usw. verliefen negativ. Niemand weit und breit hatte einen Einsatz bei der Marktkirche. Und auch die Rettungsnummern 110 und 112 wiesen keinen Notruf von dort auf.

Als Gisela im Besprechungszimmer mit ihrem Chef und den drei anderen Kollegen zusammensaß, sagte sie schließlich: »Das kann nur eines bedeuten: Safin und sein Bodyguard wurden entführt.«

»Ich fürchte, da können Sie Recht haben«, antwortete Schneider. »Gisela, Sie bringen bitte alles in Erfahrung, was es über diesen Safin gibt. Und Sie, Max, helfen ihr dabei. Sie haben doch mal Russisch gelernt.«

»Ich hoffe, es ist noch genug davon übrig«, meinte dieser.

Max Scheuer war ein Kollege von Anfang vierzig, der noch zu DDR-Zeiten sein Abitur gemacht hatte. Vor einem Jahr hatte er sich um die Stelle in Goslar beworben und war inzwischen gut integriert.

Schneider selbst hing sich ans Telefon, um mit Safins Büro in London zu sprechen. Anschließend machte er sich auf den Weg zu Beermann Consult.

Gisela Berger war ein eher unscheinbares Geschöpf. Schlank, mittelgroß, dunkelblond mit undefinierbarer wuschelig-halblanger Frisur. Wenn sie zu spät aus den Federn kam und weder Lust noch Zeit hatte, einen Gedanken an ihre Kleidung zu verschwenden, sah sie auch schon mal etwas schlampig-leger aus. Was ihre Kollegen an ihr schätzten, war ihre Fähigkeit zuzuhören. Außerdem hatte sie einen analytischen Verstand und konnte die Dinge auf den Punkt bringen wie niemand sonst in ihrer Umgebung. Sie hatte eine Wohnung in Goslar, stammte aber aus dem Oberharz und verfiel gelegentlich auch in dessen viel geschmähte Mundart.

Am frühen Abend trommelte Schneider seine Mitarbeiter noch einmal zusammen, um den Stand der Dinge zu erörtern. Es gesellte sich auch der Polizeichef zu ihnen, der den Fall aufgrund seiner internationalen Dimension für sehr prekär hielt.

»Also, Freunde, ich will Sie darüber informieren, dass ich mit Safins Londoner Büro telefoniert habe. Man ist dort ziemlich besorgt, um nicht zu sagen, aufgelöst. Alexander Safin hätte heute wieder in London sein sollen. Dass er sich nicht gemeldet hat, ist sehr ungewöhnlich. Ich habe mit dem engsten Mitarbeiter von Safin gesprochen, der morgen zu uns kommen wird. Irgend etwas Konkretes, wer zum Beispiel im Falle einer Entführung dahinterstecken könnte, war ihm allerdings noch nicht zu entlocken. Wir werden uns bis morgen gedulden müssen. Außerdem war ich noch bei Beermann Consult und habe mit Herrn Wiebe gesprochen. Der konnte nicht sehr viel über Herrn Safin sagen. Nur, dass er wohl sehr reich ist und sich finanziell mit einer zweistelligen Millionensumme in seiner Firma engagiert hat. Er soll ein sehr herzlicher, freundlicher Mensch sein und ein außergewöhnlicher Geschäftsmann. Aber das ist natürlich nichts Besonderes. Was haben Sie, Gisela und Max, inzwischen recherchieren können?«

Max Scheuer gestikulierte, dass Gisela das Wort ergreifen möge, die auch ohne Umschweife loslegte: »Dank der Russischkenntnisse unseres Kollegen Max haben wir mehr herausgefunden als mit Deutsch und Englisch möglich gewesen wäre. Alexander Safin wurde am 12. September 1953 in der Nähe von Moskau geboren. Die Eltern waren mittlere Parteifunktionäre. Alexander war hervorragend in der Schule und studierte nach seiner Zeit in der Armee Wirtschaft und nebenbei noch Sprachen. Er machte schnell Karriere beim KGB und schaffte dann nach der Wende den Sprung in die Wirtschaft. Da nach der Abkehr vom Kommunismus niemand so recht wusste, wem was gehörte, rissen sich diverse KGB-Leute Firmen unter den Nagel. Alexander Safin war hier anscheinend sehr erfolgreich. Er erstand Anteile an Öl- und Gasfirmen für´n Appel und ein Ei und wurde schnell reich. Ausländische Kapitalgeber standen Schlange bei ihm. Und aufgrund seines Insiderwissens bezüglich KGB und Wirtschaft hat er Leute unter Druck gesetzt, ihm billig Anteile zu verhökern. Damit dürfte er sich kaum Freunde gemacht haben. Wenn wir verschiedene Vorgänge richtig deuten, dann ist er in Russland selbst in Ungnade gefallen. Offenbar ist der politischen Klasse dort reichlich spät aufgefallen, dass er aus ehemaligem Volkseigentum ein riesiges Privatvermögen gemacht hat. So ist er in den letzten Jahren auch gar nicht mehr nach Russland gereist. Möglicherweise fühlt er sich da nicht sicher. Trotzdem macht er nach wie vor in Russland Geschäfte, allerdings nicht unter seinem Namen. Aber er hat ja genug Firmen, die mit seinem Namen gar nicht in Verbindung gebracht werden. Fazit: Es gibt in Russland und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ebenso wie unter den Exilrussen jede Menge Leute, die gern ein Hühnchen mit Safin rupfen würden. Im Falle einer Entführung oder gar eines Mordes, was wir ja auch nicht ausschließen können, müssen wir zuerst in diese Richtung denken.«

»Das hört sich nicht gerade ermutigend an«, war Schneiders erster Kommentar. »Angesichts dieser Dimension und der internationalen Tragweite können wir unter Umständen damit rechnen, dass das Landeskriminalamt sich in diesen Fall einbringen wird, vielleicht auch das BKA.«

Der Polizeichef machte ein bekümmertes Gesicht und sagte: »Danke, Frau Berger und Herr Scheuer. Man könnte geradezu eine Gänsehaut bekommen. Und das in unserem beschaulichen Goslar. Haben Sie denn schon irgend etwas hinsichtlich dieses ominösen Krankenwagens herausbekommen?«

Nun fühlte Schneider sich angesprochen und entgegnete: »Leider nein. Wir haben mittlerweile einen Rundumschlag vorgenommen, ob irgendwo ein Krankenwagen vermisst wird. Das Ergebnis ist bisher negativ.«

Wo bin ich? Dieser Mistkerl hat mich nochmal betäubt, damit ich mir den Ort nicht merken kann, an den er mich bringt. Wie lange soll ich es in dieser Drecksbude aushalten? Und – wird er mich wirklich freilassen, wenn ich ihm gebe, was er will? Hauptsache, ich lebe! Mir wird schon etwas einfallen. Jetzt klopft es an der Tür und der Mann sagt, dass ich in die Ecke gehen soll, damit ich ihm beim Öffnen nicht eins über die Rübe haue. Was hätte ich davon? Ich kann mich doch sowieso nicht befreien. Der Typ hat mich angekettet. Wenn ihm etwas zustößt, würde ich hier verhungern. Ist in Ordnung, ich gehe in die Ecke. Nur kein Risiko eingehen.

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