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Die Häresien des 12. Jahrhunderts

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Was im Mittelalter als Ketzerei und Häresie zu gelten hat, ist in vielen Fällen nicht eindeutig auszumachen. Die Distanzierung von der traditionellen Kirchenlehre und der herkömmlichen Kirchenordnung unter Berufung auf die Autorität der Heiligen Schrift, die persönliche Gottesoffenbarung oder das individuelle Charisma kann nicht einfachhin als unterscheidendes Merkmal der Häresie gegenüber dem rechtgläubigen Christentum angesehen werden. Denn kritisches Abstandnehmen von dem Überkommenen auf der Basis einer subjektiven religiösen Erfahrung ist auch bei Reformern des kirchlichen und monastischen Lebens festzustellen, die nicht in einen dauernden Konflikt mit der Hierarchie gerieten und im Verband der katholischen Großkirche bleiben oder in ihn zurückkehren konnten. Jedenfalls darf die mittelalterliche Christianitas nicht nach den oft anachronistischen Sprachregelungen der neuzeitlichen Konzilien, des Tridentinum und des Vaticanum I, gemessen und beurteilt werden, worauf schon KARL AUGUST FINK hingewiesen hat.

»Diese sogenannten häretischen Bewegungen des Mittelalters sind demnach zunächst noch nicht Ketzerei, sondern ein Zeichen für eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Statischen in Kirche und Gesellschaft, freilich oft bis zum Extrem: Christ ohne Kirche. Die Terminologie der späteren Kirchengeschichtsschreibung darf nicht ohne genaue Prüfung der zeitgenössischen Vorgänge übernommen werden, auch wenn sie sich mit Hartnäckigkeit festgesetzt hat… Dem Vorschlag, nicht mehr nur von Ketzern, sondern eher von Reformern zu sprechen, kann man wohl auf eine weite Strecke hin folgen.«41

In der Realität des gesellschaftlichen Lebens zeigt sich das mittelalterliche Ketzertum als Minderheiten, die wegen ihrer besonderen Lehr- und Lebensauffassungen von der offiziellen Kirche oder Teilen von ihr, und im Gefolge davon auch von der »weltlichen« (königlichen und kaiserlichen) Macht verfolgt werden.

Einer der ersten Wanderprediger, die offen gegen den kirchlichen Kult und die Hierarchie auftraten, war der Priester Peter von Bruis, einem kleinen Dorf in den französischen Hochalpen.42 Er lehnte Kindertaufe, Messe und Eucharistie ab, verwarf die Autorität der kirchlichen Tradition, des Alten und teilweise auch des Neuen Testaments. Nur an den vier Evangelien hielt er fest. Außerdem wandte er sich gegen kirchliche Gebäude und Kreuze. Holzkreuze schichtete er auf und verbrannte sie. Eine solche Aktion kostete ihn das Leben: erboste »rechtgläubige« Christen verbrannten ihn, um das Jahr 1139, bei St.-Gilles-les-Boucheries im Rhônetal auf einem von ihm errichteten Scheiterhaufen. Die Anschauungen Peters von Bruis kennen wir aus dem gegen ihn gerichteten Traktat »Contra Petrobrusianos« des Abtes Petrus Venerabilis von Cluny.43 Er ist wohl kein Katharer gewesen, wenngleich bogomilische Einflüsse bei ihm nicht auszuschließen sind.

In ähnlicher Weise, doch mit größerem Erfolg als Peter von Bruis, wirkte der Mönch Heinrich von Lausanne, von Bernhard von Clairvaux, der gegen ihn predigte, als der »wilde« Heinrich bezeichnet.44 Heinrich trat ab 1111 als Bußprediger auf. 1116 erhielt er in Le Mans durch den dortigen Bischof Hildebert de Lavardin (1067–1133) die Predigterlaubnis. Als er sich gegen die reiche Kirche und den unwürdigen Klerus wandte, kam es zu tumultartigen Ausschreitungen. Nach Ausweisung aus dem Bistum Le Mans konnte Heinrich jahrelang ungestört in Südfrankreich wirken. In dieser Zeit kam er auch mit Peter von Bruis zusammen. 1119 verurteilte ihn eine Synode in Toulouse. 1135 brachte ihn der Erzbischof von Arles vor ein in Pisa tagendes Konzil. Dort legte er ein Schuldbekenntnis ab, und Bernhard von Clairvaux bot ihm Asyl in Cîteaux an. Es gelang indes Heinrich, sich abzusetzen, und er nahm erneut die apostolische Wanderpredigt auf. 1147 mußte er vor Bernhard, der eine große Predigtkampagne gegen ihn inszeniert hatte, aus Toulouse fliehen. Danach geriet er in Gefangenschaft, in der er wahrscheinlich umgekommen ist.

Heinrich ist vielleicht der bedeutendste unter den apostolischen Wanderpredigern der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Er besaß eine große Bibelkenntnis und eine überzeugende Rednergabe. Als Quelle des Glaubens ließ er nur das Evangelium gelten und lehnte die Tradition ab. Die erste Sünde betrifft nach seiner Meinung nur Adam und Eva; es gibt also keine Erbschuld. Weiterhin tritt Heinrich für die Erwachsenentaufe ein. Die Ehe ist kein Sakrament, sondern nur ein Vertrag zwischen den Ehepartnern, der die Kirche nichts angeht. Die Vollmacht, zu binden und zu lösen, haben auch die Laien, nicht nur die Priester. Die Eucharistie kann gültig nur von würdigen Priestern gefeiert werden. Damit ist die Kirche als heilsnotwendige Mittlerinstanz zwischen Gott und Menschen abgeschafft; die Hierarchie, auch kirchliche Gebäude und Einrichtungen sind überflüssig. Aus einer von R. MANSELLI zitierten Streitschrift gegen Heinrich geht hervor, daß er, wie Peter von Bruis, die Fürbitten für die Toten ablehnte.45

Wie gegen den Mönch Heinrich, so eiferte Bernhard von Clairvaux auch gegen Arnold von Brescia. Arnold (Ernaldus) war Regularkanoniker in Brescia. In Paris hatte er bei Abaelard studiert, der ja von Bernhard ebenfalls als Häretiker diskriminiert worden war.46 Arnold trat für das Ideal einer armen, wandernden, am Vorbild der Urkirche (ecclesiae primitivae forma) orientierten Kirche ein. Von Bischöfen und Priestern verlangte er ein an Christus ausgerichtetes Leben in Armut und Demut.47 Natürlich sollte das Gleiche auch für den Papst gelten: er hatte nur insofern Anspruch auf die Bezeichnung »apostolisch«, als sein Leben und seine Lehre mit denjenigen der Apostel übereinstimmten. Für dieses Ziel setzte sich Arnold auch aktiv ein: Als die Römer gegen den Papst Eugen III. (1145–1153) den Aufstand probten und den Versuch machten, die antike Republik und die Freiheit der Bürger wiederherzustellen, war Arnold mitten unter ihnen. Die Macht des Papstes sollte allein auf den geistlichen Bereich reduziert werden, und er sollte sich, wie es in der Alten Kirche üblich gewesen war, mit den freiwilligen Zuwendungen der Gläubigen begnügen. In dieser Situation schrieb Bernhard von Clairvaux einen Brief an die Römer, in dem er sich nicht etwa für die Ideale der Urkirche einsetzte, sondern für die Sache des Papstes, der sein Schüler war.48 Arnold, der 1155 in die Gewalt des Kaisers Friedrich I. Barbarossa gefallen war, wurde von diesem aus Gefälligkeit an den Papst Hadrian IV. ausgeliefert. Als sich Kaiser und Papst von Rom zurückziehen mußten, wurde Arnold in der Nähe des Berges Soracte durch den Stadtpräfekten als Ketzer und Rebell hingerichtet (gehenkt und verbrannt). Ob er, hinsichtlich der von ihm vertretenen Auffassungen, tatsächlich ein Häretiker gewesen ist, scheint bei ihm noch fraglicher als bei anderen Wanderpredigern. Jedenfalls war er eine bedeutende prophetische Gestalt: er durchschaute mit scharfem Blick die politischen Kräfte seiner Zeit; seine Ideen wirkten weit in die Zukunft.49 Nach allem, was uns bekannt ist, bildeten die Anhänger Arnolds keine eigene, von der Römischen Kirche getrennte Sekte; doch wird der »Arnoldismus« der späteren waldensischen Mission in Oberitalien den Boden bereitet haben.50

Wie Bernhard von Clairvaux in dem Mönch Heinrich, so fand sein Freund Norbert von Xanten, der Stifter der regulierten Chorherren von Prémontré, seinen häretischen Gegner in Tanchelm von Antwerpen, der in Flandern und Brabant ab etwa 1112 predigte.51 Auch Tanchelm (Tanchelmus, Tanchelinus) bekämpfte den sündigen Klerus. Die kirchlichen Sakramente, insbesondere die Eucharistie, lehnte er ab. Zur Begründung seiner Lehren berief sich Tanchelm auf die göttliche Inspiration, die ihm die Fülle des Heiligen Geistes gegeben und ihn gottgleich gemacht habe.52 Entsprechend pompös war, im Schutz eines bewaffneten Gefolges, sein Auftreten. In der Predigttätigkeit Norberts und seiner Gefährten gegen Tanchelm sieht E. WERNER die ersten Anfänge einer Predigergenossenschaft, wie sie später von Dominikus und Franziskus ins Leben gerufen wurden.

Dem Auftreten Tanchelms ähnlich war das des Eon von Stella (Éon de l’Étoile), eines bretonischen Adeligen, der sich für den Sohn Gottes hielt.53 In seiner Lehre glaubt man Elemente der keltischen Religion zu erkennen. 1148 wurde er aufgegriffen und am 22. März vor die in Reims unter dem Vorsitz des Papstes Eugen III. tagende Synode gestellt. Man verurteilte ihn dort als Geistesgestörten zu lebenslanger Haft. Doch hat er sich möglicherweise nur verrückt gestellt, um sein Leben zu retten. Er starb aber nach kurzer Haft. Seine Anhänger wurden, soweit man ihrer habhaft werden konnte, verbrannt.

Eine besondere Stellung unter den religiösen Bewegungen des Mittelalters nehmen die Waldenser ein. Unter den Armutsbewegungen des Hochmittelalters sind sie die einzige, die als eigenständige Kirche bis auf den heutigen Tag am Leben geblieben ist.54 In ihrer Lehre finden sich, wenigstens in den Anfängen, kaum Züge, die als häretisch qualifiziert werden könnten.55 Doch standen sie in scharfem Gegensatz zur faktisch existierenden Gestalt der hierarchischen Kirche, wie sie aus dem Investiturstreit hervorgegangen war. Gründer und Namensgeber der Gemeinschaft ist Waldes, ein reicher Kaufmann aus Lyon. Um das Jahr 1176 hatte er ein Bekehrungserlebnis, das ihn zur Veräußerung seines gesamten Besitzes und zur Abkehr von der Welt veranlaßte. Seine Frau versorgte er reichlich, seine beiden Töchter brachte er in der Abtei Fontevraud unter. Anschließend verteilte er den größten Teil seines Vermögens unter die Armen. Wie später Franziskus wurde er anfangs von seinen Mitbürgern für verrückt gehalten. Waldes ließ sich die Evangelien und andere biblische Schriften in die damalige französische Umgangssprache übersetzen. Nach eingehendem Bibelstudium nahm er mit Gefährten, die sich ihm bald anschlossen, ein apostolisches Wanderleben auf.

Waldes und seine Anhänger wollten wie die Apostel die evangelische Vollkommenheit leben. Die Gemeinschaft wurde von den Zeitgenossen als Pauperes spiritu oder nach der Stadt ihres Ursprungs als Pauperes de Lugduno bezeichnet. Im März 1179 begab sich eine von Waldes selbst angeführte Delegation nach Rom, um während des dort tagenden III. Laterankonzils dem Papst Alexander III. die Bitte um Erteilung der Predigterlaubnis vorzutragen. Der in Rom anwesende englische Prälat Walter Map wurde vom Papst beauftragt, die beiden führenden Köpfe der Gemeinschaft56 über den Glauben zu befragen. Er hat darüber selbst in seinem Werk »De nugis curialium« berichtet. Von vornherein gegen die Waldenser eingenommen,57 behandelte er sie mit dem üblichen Theologenhochmut und gab sie dem Gelächter der Anwesenden preis. Im Anschluß an den Bericht über das Verhör gibt Walter Map eine kurze Charakteristik der Lebensweise der Waldenser: sie haben keine festen Wohnsitze, ziehen zu zweit58 mit nackten Füßen umher, sind in Wolle gekleidet, besitzen persönlich nichts, alles gehört ihnen gemeinsam wie den Aposteln, sie folgen nackt dem nackten Christus. Daran fügt der Autor die Warnung an, die Gemeinschaft zuzulassen: das hätte nämlich »unsere« Austreibung zur Folge, das heißt: die Austreibung des herrschenden Hochklerus.59

Dennoch erhielt die Vita apostolica der Waldenser die päpstliche Approbation. Eine generelle Erlaubnis zu predigen wurde allerdings nicht erteilt; sie sollte von den zuständigen Priestern abhängig sein. Über diesen Punkt gerieten die Waldenser in den Jahren 1181–1183 mit dem Erzbischof von Lyon, Johannes Bellesmains, in Konflikt. Der Erzbischof hatte versucht, ihnen einen kirchlichen Vorgesetzten (praepositus) zu geben. Waldes anerkannte jedoch keine andere Sendung als die göttliche, und die Gemeinschaft wollte keinen anderen Oberen als Christus. Als der Erzbischof daraufhin das Verbot aussprach, zu predigen und die Schrift auszulegen, berief sich Waldes auf die Worte, die Petrus den jüdischen Hohenpriestern entgegengehalten hatte: »Man muß Gott eher gehorchen als den Menschen« (Act 5,29), und auf das Gebot Christi: »Predigt das Evangelium aller Kreatur« (Mk 16,15). Darauf verhängte der Erzbischof über Waldes und seine Anhänger die Exkommunikation und wies sie aus Lyon aus. Im November 1184 wurden sie auf dem Konzil von Verona durch den Papst Lucius III. mit dem Anathem belegt (Dekretale »Ad abolendam«).

Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts entfalteten die Waldenser eine rege Missionstätigkeit in Südfrankreich, Spanien und Norditalien, dann auch im nördlichen Frankreich und in Lothringen (in den Diözesen Metz und Toul). Die ersten Waldenser distanzierten sich in schärfster Weise von den Katharern, wie der »Liber Antiheresis« des Durandus von Osca (Huesca) beweist.60 Dieser waldensische Theologe begab sich 1208 nach Rom, wo er sich und seine Gruppe, die »Pauperes catholici«, mit dem Papst aussöhnte.61

Im Jahre 1205 trat ein Schisma ein zwischen den »lombardischen Armen« und den »Armen von Lyon«, welche letzteren Waldes treu blieben. 1210 begaben sich Bernhard Primus und Wilhelm Arnaldi mit einer Gruppe oberitalienischer Waldenser nach Rom, um sich dem Papst zu unterwerfen.62 Sie baten Innocenz III. um Bestätigung ihrer Lebensweise und wurden von ihm, allerdings um den Preis der bedingungslosen Unterwerfung unter die Hierarchie, wieder in die Kirche aufgenommen. Von da an nannte man sie »Pauperes reconciliati«. Eine besondere Rolle bei der Versöhnung spielte der von den Waldensern vollzogene Ritus der fractio panis. Dieses »Brotbrechen« war nichts anderes als eine Art Not-Eucharistie, die analog der ebenfalls von Laien, auch Frauen, gespendeten Nottaufe von Gemeinschaften ohne Priester gefeiert wurde. 63 Die wiederaufgenommenen Waldenser versichern bezüglich der fractio panis, man habe sie nicht aus Anmaßung oder aus Verachtung des vom Priester vollzogenen Opfers ausgeübt, sondern um Glauben und Liebe zu entzünden, sowie aus der Erwägung, daß sich die einfachen Gläubigen, die unter den Häretikern (Katharern) weilten, verhärten könnten, wenn sie das Sakrament der Eucharistie (!) nicht empfingen.64 Wird hier die von Laien vollzogene Eucharistiefeier als reine Notmaßnahme dargestellt, so geht doch aus anderen Quellen hervor, daß eine bewußt antiklerikale und theologisch motivierte Haltung dahinterstand.65 Auf dem Hintergrund dieser eucharistischen Praxis der Waldenser wird deutlich, weshalb sich der Kardinal Hugolino freute, daß Franziskus in seinem Hause kein Weißbrot an die dort versammelten Gäste austeilte.66

In ähnlicher Weise wie mit den genannten Gruppen der Waldenser gelang Innocenz III. auch die Rückführung eines Großteils der Humiliaten unter die Obödienz des Apostolischen Stuhles. Diese Armutsbewegung hatte ihren Ursprung in Mailand und breitete sich von dort in der Lombardei aus. Ihre Mitglieder waren hauptsächlich Handwerker, die mit Wolle zu tun hatten (Spinner und Weber). Nachdem der Papst die Gemeinschaft, die in ihren Anfängen einen ausgeprägt laikalen Charakter hatte, zu einem kirchlichen Orden umorganisiert hatte, verlor sie sehr rasch an Elan und Bedeutung.67

Im Verlauf des 13. Jahrhunderts drang der in den ersten Jahrzehnten der Bewegung energisch abgewehrte katharische Dualismus auch in das Waldensertum, zumindest in einige Gruppen desselben, ein. Eindeutige Züge des Katharismus lassen sich schon bei den Häretikern von Köln feststellen, über die der Propst Evervin von Steinfeld um das Jahr 1144 an Bernhard von Clairvaux berichtet. 68 Er war Augenzeuge bei einer Befragung des Bischofs der Häretiker und eines Begleiters vor einer Versammlung von Klerikern und Laien, bei der auch der Erzbischof von Köln anwesend war. Die Ausführungen des Ketzerbischofs, der am Ende des Verhörs durch den Pöbel ermordet wurde, machten auf Evervin offenbar einen großen Eindruck. Er stellte das Leben der Mönche und Regularkanoniker dem seiner eigenen Glaubensgenossen gegenüber: diejenigen, die in der christlichen Gesellschaft als die Vollkommensten gelten, haben Besitz, der zwar als gemeinsamer gilt, aber eben doch Besitz ist und ihnen ein Leben in Sicherheit bietet. Die pauperes Christi dagegen müssen von Stadt zu Stadt fliehen. Wie die Apostel und Märtyrer leiden sie Verfolgung. Sie sind die apostolicae vitae veri sectatores. Sie sind besitzlos, da Christus selbst nichts besessen und seinen Jüngern keinen Besitz erlaubt hat. Sich selbst und ihre Väter halten sie für die echten Apostel (generati apostoli), während die katholischen Priester und Bischöfe Pseudoapostel sind, die das Wort Gottes verfälschen. Aus der Befragung der Häretiker ergibt sich weiter, daß sie den Genuß von Milch und Milchspeisen verbieten. Ferner wird als Nahrung alles abgelehnt, was aus einem Koitus hervorgegangen ist. Auch die Eheschließung ist verboten.

Evervin erwähnt noch andere Häretiker, die mit den vorgenannten im Streit liegen. Aus den aufgezählten Grundzügen ihrer Lehre geht hervor, daß es sich dabei ebenfalls um Katharer oder katharisch beeinflußte Häretiker handelt: Sie lehnen das katholische Verständnis der Eucharistie (die in der Messe vollzogene Wandlung) ab; die Priesterweihe ist unwirksam, weil die apostolica dignitas infolge der Verstrickung der Priester in weltliche Händel zerstört ist; auch die Weihen und damit die Amtsgewalt von Bischöfen und Papst sind ungültig. Die Ehe wird mit Hurerei gleichgesetzt und abgelehnt; die Zuflucht zu den Fürbitten der Heiligen und die Gebete für die Toten halten sie für nutzlos, da es kein Fegfeuer gebe. 69

Daß es innerhalb des Katharertums verschiedene Glaubensrichtungen gab, die zum Teil in heftige Auseinandersetzungen miteinander verwickelt waren, geht schon aus einer der wichtigsten katharischen Quellen hervor, die auf uns gekommen sind, dem »Buch der zwei Prinzipien«.70 Wir können in unserem Rahmen keine umfassende Darstellung der katharischen Religion geben, die gerade in den vergangenen drei Jahrzehnten hervorragend erforscht wurde, auch aus der kaum noch zu überblickenden Literatur nur eine Auswahl weniger grundlegender Werke nennen.71 Vor allem geht es uns um die Erwähnung einiger wesentlicher Elemente des Katharismus, die für Franziskus und seine Bewegung relevant sind. Die Katharer hielten sich für rechtgläubige Christen und argumentierten zur Verteidigung ihrer Lehre aus der Bibel, die sie allerdings in sehr eigenwilliger Weise interpretierten. Sie praktizierten das apostolische Armutsideal und wollten nicht von dieser Welt sein. Die materielle Welt galt ihnen als Geschöpf des bösen Gottes, den sie auch an vielen Stellen des Alten Testaments, wo von einem moralisch nicht einwandfreien Tun Gottes die Rede ist, wiederzuerkennen glaubten.

Der kosmische Dualismus, der Kampf zwischen Gut und Böse, der zurückgeht auf den Kampf zweier göttlicher Mächte, ist allen katharischen Richtungen gemeinsam. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Mythen und Vorstellungen, die vor allem die Schöpfung und den Engelsfall betreffen. In einem davon wird Luzifer (Satan) vor seiner Empörung gegen Gott als der auf einem Thron sitzende Verwalter des Universums und Schöpfer der materiellen Welt gesehen.72

Die Katharer erstreben in ihrem Leben die Befreiung von allen materiellen, bösen Elementen. Die Kerntruppe der Vollkommenen (Perfecti, auch Boni homines, »gute Leute« genannt) hat dieses Ziel bereits erreicht. Die Mehrzahl der einfachen Gläubigen (Credentes) strebt der Vollkommenheit entgegen. Wer zu Lebzeiten den Höchststand erreicht hat, wird durch den sakramentalen Initiationsritus des Consolamentum unter die Perfecti aufgenommen. Die Gemeinschaft verlangt von ihren Mitgliedern die Enthaltung von jeglicher tierischen Nahrung. Das hängt mit der Vorstellung vom Engelsfall und dem Wesen der Seele zusammen: Alles Lebendige ist beseelt. Die Seelen aber sind die in die Materie gefallenen Engel oder Teile von ihnen, die sich auf dem Wege zum einst verlorenen geistigen Wesenszustand befinden.73 Die Betätigung der Sexualität wird strikt abgelehnt, weil die Vermehrung der Menschheit die Dauer des Reiches des Bösen verlängert und die Wiederherstellung der himmlischen Welt hinauszögert.

Wie die neuere Forschung erkannt hat, hat sich der Katharismus, aus dem byzantinischen Reich kommend, über den Balkan nach Westen ausgebreitet. Die südfranzösischen und italienischen Häretiker unterhielten im 12. und 13. Jahrhundert zu den Bogomilen im heutigen Bulgarien und Jugoslawien lebhafte Beziehungen und sahen sie als ihre Glaubensbrüder an. Im Jahre 1167 fand in St.-Félix-de-Caraman bei Toulouse ein katharisches Konzil statt, bei dem ein hoher Würdenträger aus dem Osten, Papa Niquinta (Niketas) genannt, neue Bischöfe ordinierte und ihnen das Consolamentum, die Erhebung in den Stand der Perfecti, spendete.74 Bei dieser Synode waren auch Vertreter oberitalienischer Kirchen anwesend. Um die Wende des 12. Jahrhunderts hatten sich die Katharer bis nach Mittelitalien ausgebreitet. Es gab katharische Bistümer in der Toscana (Florenz) und Umbrien (Spoleto).75 Schon von daher ist es wahrscheinlich, daß Franziskus mit den Vorstellungen und der Frömmigkeit der Katharer vertraut war. Wenngleich sich die frühen franziskanischen Quellen über diesen Punkt völlig ausschweigen (was vermutlich kein Zufall ist),76 so ist doch sein eigenes Weltbild und viele seiner Handlungen und Reden nur auf dem Hintergrund katharischer Mythen und Vorstellungen zu verstehen, wie wir noch sehen werden.

Der Papst unternahm, im Verein mit dem französischen König, gegen die Ketzer des Languedoc einen Vernichtungsfeldzug: Die Ermordung des päpstlichen Legaten Pierre de Castelnau, eines Cisterciensers von Fontfroide, in St.-Gilles am 14. Januar 1208 war für Innocenz III. der Anlaß, zum Kreuzzug gegen die Albigenser aufzurufen. (Es war das Jahr, in dem die franziskanische Bewegung mit dem Anschluß der ersten Gefährten an Franziskus ihren Anfang nahm). Dieser große Völkermord dauerte noch während des gesamten restlichen Lebens des Franziskus und länger an.77 Das mag zu der Frage Anlaß geben, wie sich Franziskus verhalten hätte, wenn er, seinem dringenden Wunsch entsprechend, nach Frankreich hätte gehen können. Bekanntlich hat ihm aber der Kardinal Hugolino die Reise nach Frankreich verboten.78

Franziskus von Assisi

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