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Wohin?

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Wie du dich auch drehst in der Dichtung, den Wald vor Bäumen nicht mehr siehst, ob es stimmt mit der gewollten Richtung, wer weiß, wohin du deine Füsse setzt.

Den ersten Schritt, den schwersten, musst du nehmen, der zweite wird dann leichter, kommt aus dem, was du nicht denkst, kommt aus dem Bauch, wenn es schmerzhaft in den Därmen klopft.

Bleibst du stehn, weil dir der Atem keucht, blickst aus dem Wald nach oben ins Licht, liegst auf dem Blätterboden, der ist feucht, reibst dir die Augen und begreifst es nicht.

Es geht durch Tage, geht durch Nächte, zum Schlafen gibt es weder Bett noch Zeit, dafür gibt es lange Korridore, dunkle Schächte, sie schupsen, stoßen bis zur letzten Magerkeit.

So ist der Gang, wie viele Gänge vorher waren herzklopfend, atemraubend und was alles wiegt. Modergeruch steigt aus dichtem Gestrüpp, der süsslich ist, wenn da was Frischtotes liegt.

Du kannst dich drehen, wie du willst im Leben wie in deiner Dichtung, die Lichtung kommt nicht auf dich zu, die Füße brennen, es fehlt der Schuh.

Das Jahr für Jahr, und das ist wahr, wenn dann das Herz noch klopft, man begreift es nicht.

Mit dem Abschiedssatz von Pfarrer Kannengießer eilte Eckhard Hieronymus nach Hause. Er hatte eine halbe Stunde überschritten, und seine Gedanken waren schon zu Hause, wo Luise Agnes und Anna Friederike in großer Aufregung auf ihn warteten. Auf dem Heimweg grüßten ihn Menschen mit den Worten: “Herr Superintendent, wollen Sie denn hier bleiben? Es ist doch höchste Zeit!”, oder “Jetzt geht es nur noch darum, das nackte Leben zu retten. Es ist doch fürchterlich.”, oder “Die Russen kommen. Da müssen wir gehen. Die werden keinen Stein auf dem andern lassen.” Menschen zogen mit Kindern, vollgepackten Kinder- und Leiterwagen durch die Straße. Auf ihren Gesichtern stand die Angst vor dem Ungewissen. Die Hektik der Menschen auf dem Wege der Flucht hatte das zivilisierte Gefüge des Zusammenlebens zerrissen. Die Menschen waren mit der Not und den eigenen Gedanken beschäftigt und gingen stumm und ratlos aneinander vorüber. Die Alten, die sich schwach fühlten und wie alte Bäume nicht mehr verpflanzt werden wollten, blieben zurück und sich selbst überlassen.

“Wo bleibst Du nur?”, rief ihm Luise Agnes verstört entgegen: “Die Russen stehen mit ihren Panzern vor den Toren der Stadt! Wir waren in Sorge, dass dir etwas zugestoßen sei.” Jeder nahm seinen Koffer und eine Tasche. Sie verließen das Haus. Luise Agnes schloss die Tür von außen zu. Eckhard Hieronymus fuhr mit den Blicken des letzten Mals das Haus ab und sah auf die geschlossenen Fenster mit den zugezogenen Gardinen. Sie eilten zum Bahnhof. Der Vorplatz war von Schützengräben durchzogen und von Menschen überfüllt. Alle drängten zum Zug auf dem zweiten Gleis, da das erste Gleis für die Durchfahrt der Wehrmachtzüge aus dem Osten reserviert war. Von uniformierten Patrouillen und SA-Uniformen war keine Spur. Diese Uniformen waren an den Nagel der Vergangenheit des Irrtums gehängt worden. An einigen Verwaltungsgebäuden hingen noch die roten Fahnen mit den gekreuzten Haken.

Die Erwachsenen bestiegen die Waggons durch die Tür, denen die kleinen Kinder von den helfenden Jungen und Mädchen in den Uniformen durch die offenen Fenster nachgereicht wurden, wenn die Mütter einen Platz im Abteil ergattert hatten. Auch Koffer und Taschen kamen durch die Fenster ins Abteil, wenn es die freundlichen Menschen gab, die den Dienst der letzten ‘Nachbarschaftshilfe’ leisteten. Der Kanonendonner setzte mit einer Lautstärke ein, dass die Menschen vom Schlag der Angst des Nun-war-doch-alles-umsonst getroffen wurden.

Die Dorfbrunners hatten in letzter Minute den überfüllten Zug bestiegen. Sie mussten sich auf zwei Waggons verteilen, zu einem Sitzplatz hatten sie es nicht geschafft, dafür waren sie zu spät gekommen. Der überladene Zug setzte sich in der Dunkelheit einer kalten Januarnacht in Bewegung. Er kam nur langsam auf Touren und verließ die Stadt nach Westen, als aus dem Osten die ersten Granaten aus russischen Panzern in der Stadt einschlugen. Breslau lag hinter ihnen, und das Grollen schießender Kanonen folgte dem Zug auf viele Kilometer. Eckhard Hieronymus saß im Wagengang auf seinem Koffer und schaute aus dem Fenster in die Nacht, die der zunehmende Halbmond dämmerig erleuchtete. Dörfer, an denen der Zug vorüberfuhr, lagen wie ausgestorben, aus denen die Menschen geflohen waren und den Großteil ihres Viehs zurückgelassen hatten. Kuhherden und Schafe standen und lagen auf gefrorenen Böden. Trecks vollgepackter, mit Planen überzogener, ein- und doppelspänniger Pferdewagen zogen auf den Straßen Richtung Westen und standen in langen Reihen vor den Bahnübergängen. Die deutsche Kultur und Sprache vieler Generationen rollten auf Straßen und Gleisen davon. Sie nahmen die Liebe zur Heimat mit, dessen Boden sich ihnen Kilometer für Kilometer mehr entzog.

Gegen sechs Uhr morgens erreichte der Zug die Stadt Liegnitz an der Katzbach und rollte langsam in den Bahnhof ein. Die quietschenden Räder holten die Menschen aus dem schütteren Schlaf. Polizisten mit angeleinten Hunden und Soldaten mit umgehängten Gewehren patrouillierten die Bahnsteige auf beiden Seiten auf und ab. Lokomotive und Tender wurden abgekoppelt, um mit Kohle und Wasser nachgefüllt zu werden. Eine harte Stimme plärrte durch den Lautsprecher, dass der Zug einen einstündigen Aufenthalt habe und es den ‘Reisenden’ untersagt sei, den Zug zu verlassen, und dass jeder auf sein Gepäck aufzupassen habe. Jungen mit blassen Kindergesichtern in Uniformen des Jungvolks und blassgesichtige Mädchen in BDM-Uniformen reichten weiße Pappbecher mit heißem saccharingesüßten Getreidekaffee durch die geöffneten Wagenfenster. Sie halfen alten Menschen und Müttern mit ihren Kindern beim Aussteigen, um ihre Notdurft in den Bahnhofstoiletten zu verrichten. Menschen nahmen auf ihren Toilettengängen leere Flaschen mit, um sie über den verschmutzten Waschbecken mit dem verchlorten Wasser zu füllen.

Eckhard Hieronymus nahm seine Tasche mit, als er aus dem Wagen stieg und nach Luise Agnes und Anna Friederike suchte, die zwei Waggons weiter vorn eingestiegen waren. Er fand sie in einem Abteil sitzend, wie sie geistesabwesend aus dem Fenster blickten. Er klopfte an das halb runtergelassene Fenster und bekam nach einer gedankenverlorenen Sekunde von beiden ein dürftiges Lächeln. Sie erhoben sich von den Plätzen und bahnten sich einen Weg durch den Gang nach draußen. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich auf dem Bahnsteig trafen, wo sie sich umarmten, ohne dass Eckhard Hieronymus, wie er es sonst tat, ihre Stirnen küsste. Sie schauten sich an und wussten nicht, was sie sagen sollten. Marschmusik schrillte durch den Lautsprecher, als stünde der Endsieg unmittelbar bevor. Zum äußeren Durcheinander kam die innere Verweiflung hinzu.

Uniformierte Patrouillen auf beiden Seiten des Bahnsteigs spannten die Schulterriemen der Gewehre nach vorn. Hier gab es noch einige SA-Männer in braunen Uniformen, die ruhelos mit abgestumpft-abstoßenden Gesichtern nach dem ‘inneren Feind’ fahndeten. So standen die drei Dorfbrunners da und schauten sich sprachlos an. Dann fragte Luise Agnes, ob Eckhard einen Sitzplatz gefunden hätte. Ihr und Anna Friederike hätten zwei freundliche Männer ihre Plätze zur Verfügung gestellt, die während der Fahrt im Gang gestanden hätten. Eckhard Hieronymus sagte, dass er einen Fensterplatz im Gang hatte und die Fahrt über auf dem Koffer gesessen habe, auf dem er sogar eingenickt und dann jedes Mal aufgewacht sei, wenn sein Kopf beim Öffnen der Abteiltür zur Seite geschoben wurde. Auch sie gingen die Treppe herunter zu den Toiletten, um die Harnblasen zu entleeren und sich unter den kurzen Wasserhähnen über den kleinen Waschbecken zu erfrischen. Luise Agnes bot ihm das Marmeladenbrot in der Brotdose im Beutel an, der auf der schmalen Ablage im Abteil liege. Eckhard Hieronymus sagte, dass er keinen Hunger habe.

Eine Frau, die ein zehnjähriges Mädchen an der Hand führte, grüßte die Dorfbrunners auf dem Bahnsteig freundlich. Sie sagte, dass sie nun die Gelegenheit habe, sich beim Superintendenten für seine aufopfernde Arbeit zu bedanken, die er in all den Jahren geleistet habe. Eckhard Hieronymus erinnerte sich an das Gesicht der Frau, die in der evangelischen Frauenhilfe tätig war, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern. “Frau Winter” sagte die Frau, und Eckhard Hieronymus schämte sich, dass er im kalten Winter nicht auf den Namen ‘Winter’ gekommen sei. Er stellte Frau Winter seine Frau und Tochter vor. Frau Winter sagte, dass sie mit ihrer Tochter zu ihrer Schwester nach Hoyerswerda wolle, wo der Mann als Schürfer in der Braunkohle arbeite. Eckhard Hieronymus gab als Reiseziel Bautzen an, um von dort zum Dorf Pommritz zu kommen.

Im Fluch der Zeit

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