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Abgegriffene Mützen heben von den Köpfen

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Der Augenfalter sinkt herab und setzt sich auf das angewelkte Blatt. Die Flügel sind ermattet, verschattet schwindet der Kopf. Dein Blick auf das Blatt nimmt die Stunden vorweg und hält das Staunen in Atem. Du merkst nicht, dass dich ein Mensch anspricht und ein anderer dir die Hand geben will.

Nicht weit von dir stehen braune Krüge, die nicht mit Wasser gefüllt sind. Die Dämmerung bricht ein, und blass werden Licht und Falter. Fern verklingen Gesänge und die Rufe nach dem Kind. Es bellt der Hund gegen den mild stoßenden Wind und die vorbeifahrende Wolke.

Weiter weg reihen sich die Urnen, sie werden in Zukunft die Nachbarschaft halten. Aschenpfad und Scherbenplatz, dann der Jugend andere Träume. Hört die Uhren ticken, doch andere sind schon still. Der Blick kann sich durch den Scheibensprung nicht drücken, so wischen Hände den Feuchtbeschlag vom Glas.

Knoten reißen mit dem Alter in die Jahre, und Mäntel fallen eingerissen von den Haken. Nicht anders geht’s den roten Roben und den Schleifen, wenn es mit neuen schwarzen Schuhen in die neuen Zeiten geht, die mit neuen schwarzen Senkeln verschnürt sind. Alles braucht den Halt, das umso mehr, je dünner der Körper auf mageren Beinen steht.

Streifen ziehen Vergangenheit nach, und die schiebt andere Streifen vor sich her. Abgegriffene Mützen heben auch in Zukunft von den Köpfen, die ihr Haar in dem, was war, verlieren oder bereits verloren haben. Leben lässt sich nicht erneuern und das schon gar nicht, wenn Menschen steile Treppenstiegen herab oder vom Rand in die Steinbruchtiefen gestoßen wurde. Dann ist die Zerschmetterung mehr oder weniger total.

Auch wird es Köpfe ohne Mützen geben und das bei härtester Arbeit auf Feldern, Plätzen und Straßen in brennender Sonne oder eisiger Kälte, wenn Füße in zerrissenen Lappen oder abgelaufenen Schuhen stecken. Da zeigen sich die Unterschiede von arm bis erbärmlich, oder von verachtet bis verwahrlost, oder von unverständlich bis zerschlagen.

In der nackten Armut hängen an den Mützen die letzten Reste einstiger Achtung vor dem Menschen, wenn er noch stehen und sitzen kann. Die Mütze ist Zeichen der letzten Verteidigung menschlicher Würde gegen die Verrohung mit den Faust- und Kolbenschlägen und den Stiefeltritten gegen die verzehrte Körperlichkeit zum finalen Absturz mit der endgültigen Zerschmetterung, als hätte es den Menschen gar nicht gegeben.

Das Freund-Feind-Gegenüber ist erloschen, das Bewusstsein ist auf dem Weg des stummen Erlöschens. Das Gewissen ist zerbrochen und hängt zerrissen zwischen den Rippen in der Prominenz der ultmativen Verdrängung von Atmung und Herzschlag in der geistigen Entblößung, was schmerzhafter ist als die körperliche Entkleidung.

Diese Entblößung ist der letzte Differentialschritt der Auflösung durch Zersetzung des menschlichen Seins. Da hat auch der Zweifel jegliche Orientierung verloren, da sich nichts erkennen lässt, was dem Sein oder dem Nichtsein zuzuordnen wäre.


Was zerfallen und zerfließen wird

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