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Was für eine Wucht steckt in dem Gedicht

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Das Gedicht ist einsam, manchmal ist das Gedicht sogar schmerzhaft einsam. Es will unterwegs sein zu den Menschen, dabei stockt es und kehrt weinend zum Dichter zurück.

Die Menschen hören gar nicht hin noch zu, sie sind mit handfesten Dingen beschäftigt, wofür man sich was kaufen kann. Diesen Menschen steht der Kopf nicht nach Worten, auch wenn sie an den Zeilenenden noch so schön gereimt sind.

In schmerzhaften Fällen kommt das Gedicht zurück, und der Leser verlangt vom Dichter die Entschuldigung, dass er das Gedicht geschrieben und anderen Menschen vorgelesen oder zugeschickt hat oder in einem Gedichtsband drucken ließ. Der Dichter schaut fassungslos in den Spiegel und fragt sich mit faltiger Stirn, ob er noch derselbe ist wie jener, der das Gedicht verfasste.

Der Dichter spürt in sich die Sprachverkürzung, dass ihm die Worte wegrutschen, und fasst sich schließlich sprachlos an den Kopf. Er wird zum Kettenraucher und greift zum Alkohol, denn er versteht die Welt nicht mehr. Furchtbare Träume schütteln ihn durch die Nächte, und er gibt das Schreiben auf, weil der Verstand ihm sagt, dass die Menschen seine Gedichte nicht verstehen und nicht lesen möchten.

Er liest sein Gedicht und denkt über die Entschuldigung nach, die der Leser von ihm verlangt. Das Verlangen nach einer Entschuldigung geht ihm nicht aus dem Sinn, dass er schlaflose Nächte durchschwitzt und durchkämpft und an der Zwickmühle gedanklich verhakt, ob das Gedicht wirklich so schlecht ist, dass er für eines seiner besten hält.

Dem Dichter fährt das Wort ‘Schizophrenie’ durch den Kopf, dass er sich einen Termin beim Psychologen geben lässt, da er sich nicht sicher ist, ob ihn so ein Ding der Spaltung bereits getroffen hat. Der Psychologe nimmt die Vorgeschichte und vertieft sich im Gespräch in die Persönlichkeit des Dichters. Auf die Frage, warum er dichtet und seine Gedichte den Menschen vorliest und zuschickt, antwortet der Dichter, dass es so, wie es mit dem Verfall der Bildung, Ehrlichkeit und Moral zugeht, es doch nicht weitergehen kann. Auf die Frage, warum er als Dichter so etwas tut, wenn doch die Menschen keinen Wert auf die Wahrheit und die gute Sprache legen, ist dem Dichter die Antwort entfallen.

Diese Frage auf die Wertlosigkeit der Wahrheit und der Bildung kann der Dichter nicht beantworten. Ihm fehlt schlichtweg die Sprache für die Antwort zur Entgegnung des kulturellen und sprachlichen Verfalls. In der überdurchschnittlichen Geduld des Zuhörens, die als professionelle Geduld die besondere Beachtung und Hochachtung verdient, liest der Psychologe in mehreren Lesezügen das mitgebrachte Gedicht und ist von seinem Inhalt ergriffen. Er selbst spricht das Wort ‘begeistert’ aus, dass ihn beim Lesen das Gedicht getroffen hat.

Da sich der Dichter weiter im Unklaren fühlt, als sei er auf dem Klärungs- beziehungsweise Aufklärungsweg steckengeblieben, dass keine Besserung bezüglich der Verständlichkeit eintrat, landet der Dichter schließlich in der Psychiatrie, wo ihm der Professor eine schwere Depression mit dem psychiatrischen Spiegel unterschiebt.

Der Zweifel ist ausgeräumt, welch eine sprachliche Kraft und emotionale Wucht in dem Gedicht steckt, wofür Menschen, auch als Dichter, nicht davor zurückschrecken, sich das Leben zu nehmen.


Was zerfallen und zerfließen wird

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