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Der Tod des Vaters

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Ich sitze mit meinen beiden Töchtern im Sandkasten an unserem Mietshaus in Kluftern einer kleinen Stadt nahe dem Bodensee. Meine Frau ruft mir aus dem Fenster zu: „ Du, komm mal schnell nach oben, dein Bruder ist am Telefon.“ Ich eile nach oben, nehme den Hörer in die Hand und spreche mit meinem Bruder, der aus Uerdingen anruft: „Franz-Josef, was ist passiert,“ frage ich.

„Unser Vater liegt im Krankenhaus in Uerdingen im Sterben. Wenn du ihn noch einmal sprechen willst, komme schnellstens nach Hause“, antwortet er.

Es ist merkwürdig, aber ich spüre keine Gefühlsregung in mir. Ganz im Stile meines Vaters: Bloß keine Gefühle zeigen! Schnell lege ich den Hörer auf und jage möglichst bald los. Ob ich vor meinen Gefühlen geflohen bin?

Auf der Fahrt mit dem Auto vom Bodensee an den Niederrhein rasen meine Gedanken. Meine Gefühle bleiben "unter dem Teppich", wie ich es wie ich es verinnerlicht hatte. Mein Vater soll sterblich sein. Das passt so gar nicht in mein Bild, das mein Vater für seine Familie so wunderbar konsequent inszeniert hatte. Ein starker, entschlossener, soldatisch und preußisch geprägter Mann, dem Schwäche ein Fremdwort war. Der sich mit Willenskraft nach oben geboxt hatte. Der viele Sportarten kannte und sie beherrschte. Er konnte boxen, ringen, Handballspielen, Fußballspielen, Wasserball, Schwimmen, Tennis, Turnen. Männliche Stärke ist die passende Zuschreibung. Tanzen konnte er nicht gut, hier war meine Mutter eindeutig führend.

Ich fahre weiter auf der Autobahn Richtung Uerdingen und hänge meinen Gedanken nach. Dieser starke Mann soll jetzt einfach so weg sein. Das kann doch nicht sein. Ich will es nicht glauben und denke mir aus, dass mein Bruder am Telefon die Sache vielleicht doch überdramatisiert hat.

In Uerdingen angekommen, fahre ich zuerst zu unserem Elternhaus und begrüße meine Mutter. Sie beginnt sofort zu weinen und zu schluchzen.

Ich nehme meine Mutter stumm in den Arm. Sie tut mir so leid. Wie soll sie ohne diesen Mann leben, der alles Äußere so gut für sie und uns organisiert hatte. Dennoch weiß ich tief innen, sie packt das. Sie ist eine starke Frau. Weiter.

Ich fahre ins Uerdinger Krankenhaus, in dem mein Vater liegt. Meine Schwester ist aus dem Kloster in Tutzing heraus angereist. Mein Vater hat ein Einzelzimmer. Es ist klar, dass es ernst ist und meine Hoffnungen, dass mein Bruder ein falsches Bild gemalt hätte, trügen.

Ich gehe auf das Zimmer 206, in dem mein Vater liegt, zu, klopfe an und trete ein. „Psst, “empfängt mich meine Schwester mit dem Finger auf ihrem Mund, „er schläft gerade.“

Ich gehe nahe ans Fußende des Bettes und schaue meinen Vater an, der auf dem Rücken daliegt und aschfahl aussieht. Während ich ihn traurig anschaue, öffnet er kurz die Augen, sieht mich an, lächelt und murmelt:“ Helmut“.

Die Zeit bleibt stehen für mich. Die Szene brennt sich in mein Hirn. Die Augen meines Vaters fallen wieder zu. Es ist das letzte Mal, dass wir uns angeschaut haben. In diesem letzten Moment, der mir wie eine Ewigkeit schien, wurde ganz kurz und doch irgendwie zeitlos die Liebe sichtbar, die wir so lange zurückgehalten hatten. Ich fühlte mich erlöst und befreit.

Tränen der Erleichterung wollen fließen, doch ich beiße sie sofort zurück. Weinen ist mir peinlich, auch vor meiner Schwester, obwohl wir eine gute Beziehung haben. Früher waren wir einmal ein Herz und eine Seele. Wir stützten uns in herben Zeiten. Wie zwei Ertrinkende im Meer des Lebens klammerten wir uns aneinander. Jetzt geht ein Halt, den wir hatten, unser Vater, dahin. Wir können nichts machen als Da-Sein, bei ihm sein.

Meine Schwester ist Krankenschwester. Sie hat schon viele Menschen in den Tod begleitet und ist mir eine große Hilfe. Für mich ist es der erste Mensch, der vor meinen Augen stirbt, bei dem ich dabei bin. Ich bin angespannt und gestresst. Wir wachen noch viele Stunden gemeinsam am Bett unseres Vaters, der seine Augen nicht mehr öffnet. Morgens gegen vier Uhr sagt meine Schwester: “Jetzt ist er von uns gegangen.“ Es ist die gleiche Uhrzeit, zu der achtzehn Jahre später unser Sohn geboren wurde.

Ich bin überrascht. Sterben ist doch nicht so furchtbar wie ich befürchtet hatte. Nachdenklich und irgendwie auch erleichtert fahre ich zum Bodensee zurück, um meine Familie zur Beerdigung abzuholen.

Auf der Fahrt wurde mir sonnenklar, dass ich bei Dornier kündigen werde und in den Schuldienst in NRW einsteigen will. Die hemmende Wirkung meines Vaters war von mir abgefallen. Ohne ihn wagte ich es, auf meine eigene Stimme zu hören und den Mut zu dieser Entscheidung zu fassen.

Ich war auf meinem Weg des Erwachsenwerdens ein Stück weiter gekommen.

Der singende Physiklehrer

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