Читать книгу Das finstere Herz des Jungbrunnens - Henri Joachim Becker - Страница 4
ОглавлениеErster Teil
1
Als ich in Mülheim die Brücke über die Mosel auf meinem Fahrrad zügig überquerte, schwebte noch leichter Nebel über dem Fluss und im Tal. Hinter mir lag die Kindheit, die Jugend vor mir. Am frühen Morgen war ich von Veldenz aus durch verträumte Wiesen losgefahren. Der Ort liegt landeinwärts etwa zwei Kilometer südlich von der Mosel, idyllisch am Fuße der ersten Bergzüge und Wälder des Hunsrück. In dem kleinen Dorf hatte ich bei meiner Oma mütterlicherseits gerade drei Wochen meiner diesjährigen Sommerferien genossen. Der Fünfzehnjährige freute sich über die bestandene mittlere Reife. Ich war wissbegierig, ja geradezu von einer philosophischen Neugier, die Welt zu begreifen und zu verstehen. Auch deshalb sah ich dem kommenden Schuljahr mit ausgeprägtem Interesse entgegen, gewillt, meine Lernaufgabe an unserem Gymnasium sorgfältig anzugehen. In der Welt herrschten trotz aller Spannungen und Konflikte Aufbruchstimmung und Optimismus. Menschen waren voriges Jahr erstmals auf dem Mond gelandet, nicht wenige sahen die Fahrzeuge in unseren Städten schon in naher Zukunft auf Magnetbahnen dahinschweben und viele glaubten, dass man manch schwere Formen von Krankheit schon in wenigen Jahren besiegen würde. Noch befeuert von einem solchen Zeitgeist, sah ich mich aber ohnehin in meinem zukünftigen Leben auf der Seite derer, die für die Menschen ein besseres Leben anstrebten. Am verabscheuungswürdigsten erschien mir ein Lebensentwurf als Verbrecherlaufbahn. Die Jugend, in mir, ließ mich mit Idealismus und Tatendrang erwartungsvoll in die Weite einer Welt voller Erlebnisse, Abenteuer und zu erringender Siege blicken, zu erringender Siege über Krankheit und Alter, über verbrecherische Gewalt, über Naturkatastrophen, über wirtschaftliche Not. Ich radelte an dem prachtvollen Schloss Lieser vorbei und folgte – immer der Mosel entlang ‒ dem Weg nach dem kleinen romantischen Moselstädtchen Bernkastel-Kues. Eine vollkommene Ruhe umgab mich. Vor mir niemand, der mir entgegenkam, hinter mir nichts, das sich näherte. Immer mal wieder lenkte ich in meiner Fahrspur in lang geschwungener Linie mein Rad spielerisch von einer Seite auf die jeweils andere, genoss Bewegung, Raum, wohltuende Freiheit. Im Stadtteil Kues glitt ich am Nikolausufer und in der Saarallee an schmuckem Fachwerk und aus Schieferstein erbauten repräsentativ-herrschaftlichen, bewundernswert schönen Häusern entlang , drehte an der Mündungskreuzung der Moselbrücke nach links und erreichte etwa hundert Meter weiter mein Ziel: den Bahnhof Kues. Er fungierte damals als Kopfbahnhof der Abbiegerstrecke Wengerohr - Platten - Siebenborn - Maring - Lieser - Bernkastel-Kues, die diese Ortschaften an die Hauptzuglinie Koblenz-Trier anschloss. Ende der Achtzigerjahre wurde der Schienenverkehr auf der Zweigstrecke Wengerohr - Kues ganz eingestellt. Die Leute nutzten mehr und mehr Pkw und Lastkraftwagen und selbst manche von denen, die mit dem kleinen Bahnverkehr aufgewachsen waren und heimlich Bedauern über das Schließen dieser Bahnverbindung empfanden oder gefühlsbetont zum Ausdruck brachten, mussten einräumen, dass sie selber immer weniger die Bahn als Verkehrsmittel in Anspruch nahmen. Die Trasse ist heute Teil des Maare-Mosel-Radweges. Das im frühen 20. Jahrhundert aus Schieferbruchstein errichtete Bahnhofsgebäude beherbergte nach der Stilllegung der Strecke später unter anderem auch ein Restaurant mit eigenem gebrauten Bier, ein angrenzendes Gütergebäude wurde restauriert und multifunktional genutzt. Hier am Bahnhof Kues wollte ich mein vorletzte Woche in Mülheim gekauftes, neues Fahrrad aufgeben, um es mit der Bahn nach Luxemburg transportieren zu lassen. Meine eigene Abreise war für den nächsten Tag angesetzt.