Читать книгу Das finstere Herz des Jungbrunnens - Henri Joachim Becker - Страница 8
Оглавление5
Ich hatte weder Frau noch Kind und derzeit nicht einmal eine Freundin. Wie es bei ihr privat aussah, wusste ich nicht. Moralisch bedeutete dies, dass sie im Augenblick für mich mehr sein durfte als nur ein interessantes Studienobjekt. Zwar verfügte ich als Gymnasiallehrer über eine gewisse zeitliche Flexibilität, hielt es aber für keine gute Idee, um ihren eventuellen Arbeitsplatz herumzulauern. Ein solches Vorgehen konnte schnell sehr zeitintensiv und sehr frustrierend werden, waren doch die Unwägbarkeiten zu groß dabei: Gehörte sie überhaupt zum Personal der Bank? Sie konnte gleitende Arbeitszeiten haben, sich verspäten, früher nach Hause gehen, gerade krankfeiern, Urlaub machen, bei Kunden im Außendienst sein, in einer Werbeagentur als Fotomodel tätig sein und so weiter und so fort. Ob sie noch bei ihren Eltern lebte? Ob sie eine Wohnung in Luxemburg hatte? Ob sie ein Auto fuhr? Ob dieses Auto eventuell in Luxemburg immatrikuliert war? Ob sie an Ostern oder Weihnachten ihre Eltern besuchte? Sie war Werbeträgerin, doch ob sie auch Kunden bei Geldanlagen beriet? Ob sie überhaupt über das notwendige Sach- und Fachwissen für eine seriöse Geldanlegeberaterin verfügte? Die Prospekte waren – wie auf ihnen vermerkt – von einer Werbeagentur gestaltet worden. Vielleicht ließ sich bei der auf irgendeine Weise mehr erfahren. Aber welchen Werbeauftrag sollte ich in Aussicht stellen? Doch zunächst wollte ich mich einmal in ihrem möglichen Arbeitsplatz umsehen unter dem Vorwand, einen kleinen Betrag Franken in DM umzutauschen.
Das Geldinstitut war in einem recht unscheinbaren ehemaligen Appartmenthaus untergebracht. Neuansässige Banken mussten nicht selten mangels Bürogebäuden erst einmal mit normalen Wohnhäusern vorlieb nehmen. Die Besitzer dieser Häuser ergriffen oft die Gelegenheit, so schnell wie möglich an die höhere Mieten zahlenden und sich gegenseitig überbietenden Bankinstitute zu vermieten, was die Preise insbesondere in der Oberstadt in die Höhe schnellen ließ. Das Erdgeschoss war, wie ich nach Betreten feststellte, mit wenigen baulichen Veränderungen zu einer eher unscheinbaren, kleinen Schalterhalle transformiert worden. Hanna war nirgends zu sehen. Außer mir waren noch drei Kunden im Raum. Zwei wurden gerade bedient. Auf einem kleinen Tisch waren Prospekte ausgelegt. Ein Blick auf sie offenbarte, dass es sie in mehreren Sprachen gab, mit jedes Mal sprachabhängig einem anderen photogenen Frauengesicht darauf. Offensichtlich war die Werbung länderspezifisch konzipiert. Dabei mochte es von Vorteil sein, wenn die Werbeträgerinnen auf den Broschüren über eine gewisse regionale und aktuelle oder noch nicht zu weit zurückliegende Prominenz verfügten.