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Der Bettler

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Sanson von Longval war immer fromm gewesen, aber in den letzten Jahren seines Lebens erfüllte er die religiösen Pflichten mit noch größerem Eifer.

Es war damals Brauch, dass etwa zwanzig Bettler beiderlei Geschlechts sowohl an der Kirchhofstür als unter der Halle des Gebäudes Platz nahmen.

Mein Ahne ging selten an diesen Bettlern vorüber, ohne ihnen ein Almosen zu reichen.

Er hatte unter denen, welchen er auf diese Weise zu Hilfe kam, einen Greis bemerkt, der ihm seinerseits, sobald er vorüberging, stets mit auffälliger Aufmerksamkeit nachblickte.

Dieser Mann konnte etwa sechzig Jahre alt sein; weder Alter noch Elend hatten die Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge angegriffen. Mit seiner hohen und kahlen, vielfach gefurchten Stirn und dem langen grauen Barte, der ihm bis auf die Brust hinabhing, konnte man ihn leicht für das Bild eines der Christenapostel halten, der aus einer der gotischen Nischen der Kirchenhalle herabgestiegen sei.

Aber mit dem Kopfe hörte auch diese Ähnlichkeit auf, und die Menschlichkeit zeigte sich von da ab in ihrem ganzen Schrecken.

Das Oberteil der Beinkleider dieses Bettlers war auf dem Schenkel zerrissen und zeigte dem öffentlichen Mitleid ein schreckliches Geschwür auf dem Beine.

Leider schien nur dieses Geschwür, das man für hundertfach tödlich halten musste, von ganz besonderer Art zu sein, denn es veränderte sich niemals, weder zum Guten noch zum Schlechten.

Während fünf Jahren, in denen Sanson von Longval den Bettler an der Tür der Kirche Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle sah, fand er jedes Mal dasselbe Leiden unverändert, dasselbe bläuliche wilde Fleisch, und man hätte dabei an ein Wunder glauben können, wäre es nicht natürlicher gewesen, zu vermuten, es sei nur eine Täuschung, die der Mann mit der Unverschämtheit oder Naivität der damaligen Bettler sich täglich unverändert zu erneuern erlaubte.

Diese Überzeugung, welche den Armen in die Kategorie jener Freibeuter versetzte, die das öffentliche Mitleid durch Simulierung von Krankheiten in Anspruch nehmen, würde meinen Ahnen bestimmt haben, ihm kein Almosen mehr zu geben, wenn der Bettler nicht ein Kind bei sich gehabt hätte, dessen Fürbitte der alte Scharfrichter nichts abschlagen konnte.

Als Charles Sanson dieses Kind zum ersten Male sah, war es ungefähr zehn Jahre alt, und er war betroffen über die Schönheit und Originalität seines Gesichts.

Das Mädchen schien den orientalischen Rassen anzugehören, von denen die Zigeuner in Frankreich noch zahlreich genug waren, um den Typus zu bewahren. Sie hatte große Augen von schwarzer Samtfarbe, purpurne Lippen, reiches, leicht gelocktes Haar, die bewunderungswürdigen Zähne der Böhminnen und den äußerst lebendigen Blick, welcher diese charakterisiert. Aber ihr Teint war noch tiefdunkler, als es gewöhnlich der der Frauen von dieser Kaste ist.

Sie nannte den Bettler ihren Vater, dieser sie seine Tochter und bezeigte ihr eine große Zärtlichkeit. Sein empfindungsloses Gesicht belebte sich, wenn er den Spielen des Kindes zwischen den Gräbern des Kirchhofes mit dem Blick folgte; das Lächeln dieses Kindes rief auch ein solches auf seine Lippen, die sonst gegen jeden anderen Ausdruck als der jämmerlichen Psalmenweise, welche sie murmelten, unempfindlich zu sein schienen. In der Vorsicht, die er anwandte, das Kind zu schützen oder ihm einige Augenblicke der Ruhe an seiner Seite, den Kopf gegen seinen Schemel gestützt, zu verschaffen, mischten sich Gefühle, wie man sie nur im Herzen einer Mutter erwarten konnte.

Wenn indessen die Wunde des Bettlers den Vorzug hatte, sich in den Jahren nicht zu verändern, so hatte sein Kind doch nicht dasselbe Privilegium. Es wurde größer, und je größer, von desto auffälligerer Schönheit, die selbst unter den Lumpen, die die Jungfrau trug, hervortrat. Jedes Mal, wenn Sanson ihr begegnete, dachte er betrübt an das hässliche Los, das dem schönen Wesen bald zuteil werden musste, und er fragte sich, ob die größte Mildtätigkeit, die er für sie üben könne, nicht der Versuch sein würde, sie dem ihr vorbehaltenen elenden Schicksal zu entreißen.

Als er eines Morgens aus der Messe kam, nahm Sanson von Longval den Moment wahr, wo sich das junge Mädchen entfernt hatte, näherte sich dem Bettler, setzte ihm seine Gefühle über jenen Punkt auseinander und schlug ihm vor, ihn an einige mitleidige Personen zu weisen, die dadurch, dass sie seine Tochter in einem Erziehungshause unterbrächten, dem armen Kinde eine ehrenwerte Existenz sichern könnten.

Eine lebhafte Bewegung hatte sich in dem Gesichte des Bettlers gemalt, als mein Ahne zu ihm getreten war, aber kaum hatte dieser seinen Vorschlag auseinandergesetzt, als sich bei ihm eine lebhafte Ungeduld zu erkennen gab. Er unterbrach ihn dadurch, dass er sein Anerbieten mit großem Zorne zurückwies, und als Sanson von Longval zu sprechen fortfuhr, sagte er in einem Tone, der bewies, wie groß seine väterliche Zärtlichkeit sei:

»Wer würde mich denn noch lieben, wenn sie nicht mehr da sein würde?«

Von diesem Tage an kam das junge Mädchen nicht nur nicht an meinen Ahnen heran, um ihn um eine Gabe zu bitten, sondern, wenn er vorüberging, sah er sie auch mit spöttischem Ausdruck lächeln, und der alte Bettler drehte absichtlich den Kopf von ihm ab.

So verflossen einige Monate.

Als Sanson von Longval sich wie immer eines Morgens nach der Kirche begab, fand er den Armen und seine Gefährtin nicht mehr auf ihrem gewöhnlichen Posten, und auch die nächsten Tags bemerkte er sie nicht. Darüber erstaunt, befragte er ihre Genossen, aber diese konnten ihm keine Auskunft geben.

Einige Tage später gab der Schandpfahl der Hallen der Stadt ein Schauspiel, das großes Aufsehen machte.

Jean Bourret, der Prokurator des Königs, François le Tourneur, der Assessor, und Pierre de Manoury, der Prevot, die der Untreue in dem Prozesse eines Edelmannes namens Charles de Gonbert des Ferrières überführt worden, den sie, um sich seiner Güter zu bemächtigen, an den Galgen gebracht hatten, waren zur Landesverweisung und Ausstellung am Schandpfahle verurteilt worden.

Der Zusammenlauf des Volkes war vor den Pfeilern der Hallen unermesslich, und obgleich es gerade ein Markttag war, waren es gegen die sonstige Gewohnheit nicht gerade Landleute, die sich da in Masse eingefunden hatten. Sanson von Longval, der seinen Sohn begleitet hatte, unterschied in der Menge manche ihm bekannte Gesichter, die bewiesen, dass die »Böhmische Armee« sehr neugierig war, zu sehen, was für Figuren die, welche die Gewohnheit gehabt, andere in die fatale Laterne zu schicken, jetzt selbst darin machten.

Als Sanson sich abends zurückgezogen hatte und gerade in die Rue de Puits-d'Amour eintrat, hörte er lautes Lachen und wandte den Kopf danach um. Die Lacherin war ein schönes Mädchen, das soeben am Arme eines Taugenichtses aus einem Wirtshause kam und in dem er, obgleich es mit fast prächtiger Eleganz gekleidet war, sofort die Tochter des Bettlers von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle wiedererkannte.

Diese hatte ihrerseits auch gleich den Greis wiedererkannt, der so viele Geldstücke in ihre kleine Hand gelegt. Wie durch Zauber hörte ihre Heiterkeit auf, sie zog ihren Begleiter am Arm und verschwand mit ihm in der Finsternis der Straße Mondétour.

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