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Das verwünschte Gehöft

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Die Prophezeiung, die meinem Ahnen das ihn erwartende Schicksal ankündigte, übte einen mächtigen Einfluss auf seinen Geist.

Wenn er den Worten des Unbekannten auch nicht unbedingten Glauben beimaß, so konnte er es doch nicht verhindern, dass diese Worte fortwährend in seinen Ohren tönten; wenn es ihm am Tage gelang, sich von der Erinnerung an sie frei zu machen, gewannen sie in der Nacht ihre Herrschaft wieder, beunruhigten seinen Schlaf durch hässliche Träume, und allmählich nahm unter dem Zwange dieser fortwährenden Beunruhigung die Überzeugung, dass er seinem Lose nicht entgehen könne, ganz von seinem Geiste Besitz.

Aus seiner Melancholie wurde ein wilder Menschenhass.

Bisher war er mitten unter den Vergnügungen und Freuden seiner Kameraden nur gleichgültig erschienen, nach der Szene im »Klaren Anker« aber wurde ihm selbst die Gesellschaft dieser Kameraden verhasst, und er floh schon vor ihren Stimmen. Wenn seine Dienstpflichten ihn während einiger Stunden mit ihnen zusammenführten, so richtete er kaum einige Worte an sie, und sobald er wieder frei war, beeilte er sich, in seine Einsamkeit zurückzukehren.

Paul Bertaut war ebenso feurig als jung. Die Zurückgezogenheit, in der Charles von Longval lebte, überließ seinen Cousin dem Chevalier von Blignac auf Gnade und Ungnade; da letzterer niemand fand, der seinen Lehrergelüsten entgegengetreten wäre, so hatte er sich zum Mentor des jungen Kreolen aufgeworfen, und ihm durch sein Beispiel vorangehend, führte er ihn auf einen Weg, der gewiss selbst die tugendhaften Anlagen des Sohnes des Ulysses verwildert haben würde.

Später, im zweiten Teile der Geschichte Sansons, werde ich erzählen, welche traurigen Folgen diese Verbindung für den Cousin meines Ahnen hatte.

Wenn der Rausch der Vergnügungen zurzeit auch noch nicht die Anhänglichkeit Pauls an seinen Verwandten beeinträchtigte, so hatte er doch zur Folge, dass die liebevolle Sorge, die er ihm bezeigt hatte, allmählich nachließ.

Inzwischen trugen die Nachrichten, die Charles Sanson von Abbeville erhielt, zu seinen Qualen bei.

Den Briefen Colombes nach war es nicht mehr zweifelhaft, dass der Zustand Jean Baptistes sich mit jedem Tage verschlimmerte.

Hier folgt einer dieser Briefe:

»Charles, mein Bruder, warum muss ich Dich um das Almosen Deiner Erinnerung bitten? Worin habe ich mich Deiner Freundschaft unwürdig gezeigt? Wenn Dein Herz gegen die Stimme deren, die sich Deine sehr freundschaftliche und sehr ergebene Schwester nennt, unnachgiebig, ist, warum bleibt es bei der Stimme dessen, der das Band ist, das uns in dieser und in einer anderen Welt vereinigt, unempfindlich? Dein viel geliebter Bruder leidet grausam. Alle seine Nächte sind schlaflos, und diese Nachtwachen wendet er zu Klagen darüber an, dass ihn sein geliebter Bruder, der ihm nicht ein tröstendes Wort schickt, verlassen hat. Seit Donnerstag, dem 24. d.M., hat sich sein Übel sehr verschlimmert; ich flehe Gott an, dass es ihm gefallen möge, mein Leben statt das Leben meines Gatten zu nehmen, wie es meine Pflicht als Gattin und Christin ist, aber lange schon hört Gott nicht mehr auf meine Gebete. Ich finde nicht mehr die Resignation, die andere Betrübnisse mich gelehrt hatten, in mir – eine so schmerzliche und tödliche Pein ist es, einen armen von Schmerzen verzehrten Mann klagen zu hören, ohne ihm helfen zu können. Warum schreibst Du uns nicht, mein Bruder? Hast Du Dich denn so verändert, dass Du kein Gedächtnis mehr für die hast, die Dich so sehr liebten? Schreibe an Deinen Bruder, Charles. Wenn es nötig ist, will ich auf Deine Freundschaft verzichten, wenn Du denkst, dass sie mir nicht bleiben darf, und ich leiste Dir einen Schwur, dass, wenn mir der Herr den nimmt, den er mir als Stütze gegeben hat, ich Dir in keiner Weise zur Last fallen will. Möge Deine Freundschaft wenigstens dem nicht fehlen, der nur noch dieses einzige Gut hat, und wenn Gott seine letzte Stunde schon bestimmt hat, dann mache, dass er den Trost habe, Dich mit mir segnen zu können.

Den 31. Mai des Jahres 1662.

Colombe Sanson.«

Man kann sich leicht die Verwirrung denken, welche diese schmerzlichen Vorwürfe in der ohnehin schon so getrübten Seele Charles Sansons anrichten mussten.

Bei dem Gedanken, dass er von seinem viel geliebten Bruder für immer getrennt werden sollte, vergoss er aufrichtige Tränen, gleichzeitig aber beschleunigte eine andere Idee den Blutlauf in seinen Adern und versetzte ihn in die tödlichste Angst.

Er dachte mit Schrecken an das, was zwischen Colombe und ihm an dem Tage, an dem er sie verlassen hatte, vorgefallen war; er schöpfte aus dieser Erinnerung die Überzeugung von seiner Schwachheit und der Eitelkeit seiner Vorsätze, und er wagte sich nicht die Frage vorzulegen, was geschehen würde, wenn die Hand Gottes das Hindernis, vor dem seine Leidenschaft zurückgewichen war, fortgeräumt hätte.

Und als ob dies noch nicht genug gewesen wäre, ihn niederzubeugen, verwundeten noch die kleinen, aber gebieterischen Sorgen der Existenz derer, die er liebte, sein zerrissenes Herz.

Die Krankheit Jean Baptistes hatte die Hilfsquellen der unglücklichen Wirtschaft erschöpft.

Charles hatte seinem Bruder das wenige Geld, das er besaß, geschickt, aber aus den schmerzlichen Klagen in den Briefen Colombes hatte er ersehen, dass dieses Opfer bei weitem nicht für die Bedürfnisse, die mit dem Übel zunahmen, hingereicht hatten.

Er antwortete seiner Schwägerin, denn ich finde in seiner Korrespondenz noch zwei Briefe von Colombe Sanson, die das Datum vom Juni 1662 tragen, mehrere Abschriften von der Hand Charles', die sich alle auf die Krankheit seines Bruders beziehen, und eine große Anzahl verschiedener Papiere, auf denen er Sätze mit durchstrichenen Worten entworfen und die er mit einer Sorgfalt aufbewahrt hatte, welche anzeigt, dass er einen hohen Wert auf das legte, was ihm die erste Liebe seiner Jugend in das Gedächtnis zurückrief.

Als mein Ahne eines Nachmittags in das Haus, das er bewohnte, zurückkehrte, fand er auf der Schwelle einen Boten, der ihn erwartete. Dieser Mann überreichte ihm einen Brief.

Er hatte kaum die Augen auf die Aufschrift geworfen, als er leichenblass wurde; er wankte, und wäre die Bank nicht dagewesen, auf die sich der Bote gesetzt hatte, so würde er rückwärts übergefallen sein.

Er hatte die Handschrift seiner Schwägerin erkannt, und diese Schrift war zur Hälfte durch die Tränen, welche das Papier durchnässt hatten, verwischt. Bevor Charles noch den Brief geöffnet hatte, erriet er schon, dass Jean Baptiste tot sei.

Wirklich kündigte ihm Colombe das Unglück an, das sie betroffen hatte. Sie fügte hinzu, dass ihre Verzweiflung um so größer sei, als sie zu ihm von anderen Dingen sprechen müsse als von dem, den sie verloren hätten. Die sterblichen Überreste des armen Blinden waren noch nicht bestattet, als seine alten Kollegen, die Männer des Gesetzes, sich auf die armselige Beute stürzten. Colombe hatte nicht unter dem bescheidenen Dache bleiben dürfen, das den Ruin ihres Mannes beschützt hatte; sie hatte weder Hilfe noch Mitleid bei den Verwandten gefunden, die ihr noch zu Abbeville geblieben waren; da hatte sie an ihren Bruder gedacht und sich auf die Reise gemacht, um ihn zu suchen, aber ihre Kräfte hatten ihren Mut im Stiche gelassen; abends zuvor hatte sie im Dorfe Envermeu, einige Meilen von Dieppe, haltmachen müssen und erwartete, dass Charles sie von dort abhole, um sie in das Asyl zu führen, das er für sie wählen würde.

Charles blieb einen Augenblick unbeweglich, stumm und ganz niedergeschmettert durch die empfangene Mitteilung. Endlich riß er sich aus seiner Erstarrung, entließ den Boten, sattelte selbst sein Pferd und jagte verhängten Zügels nach Envermeu.

Gegen fünf Uhr abends langte er bei Envermeu an.

Dicht vor dem Dorfe, auf der Höhe des letzten Hügels, stand ein steinernes Kreuz; aus dem Talgrunde schon bemerkte Charles eine schwarz gekleidete Frau, die auf den Stufen dieser kleinen Kapelle saß. Sein Pferd, das durch die Schnelligkeit des Laufes außer Atem gekommen war, wollte eine langsamere Gangart annehmen, aber heftig von seinem Reiter angetrieben, setzte es sich in Galopp und hatte in einigen Sekunden den Gipfel des Hügels erreicht.

Colombe hatte ihren Boten bis dahin begleitet und sich dort niedergelassen, um die Ankunft dessen, den sie zu sich berufen hatte, zu erwarten.

Als sie seine Annäherung bemerkte, verbarg sie ihr Antlitz in die Hände. Charles war von seinem Pferde gesprungen und stand vor ihr; aber sie erhob das Haupt nicht; man hörte nur ihr Schluchzen und sah, wie sich ihre Brust hob und in einem konvulsivischen Krämpfe abquälte.

Charles rief seine Schwägerin bei Namen und beugte sich über sie, aber Colombe, die sich erhob, vermied seine Umarmung und zeigte auf das Kreuz, das vor ihnen seine schwarzen, mit Moos bewachsenen Arme ausstreckte; sie schien damit sagen zu wollen, dass er, bevor er zu ihr käme, erst zu dem gehen solle, der in allen Bekümmernissen und Sorgen aufrechterhält und tröstet.

Beide knieten auf die Granitstufen nieder, und ihre Herzen vereinigten sich in einem Gebete für den, der nicht mehr war.

Als Charles sich wieder erhob, fühlte er sich sonderbar erfrischt und gestärkt.

Er nahm ihre Hand, und er fühlte bei ihrer Berührung nicht wie ehemals einen leisen Schauer in seinem Körper; er blieb ruhig, wenn er sie, die trotz ihrer Blässe und der Anzeichen ihres Leidens immer noch schön war, betrachtete. Er atmete frei und glücklich.

Er begriff, dass er mit der Stärke, die ihm diese reine und keusche Zuneigung geben werde, von jetzt an dem Unglück trotzen könne.

So gingen sie Seite an Seite bis nach der Hütte der Bauern, die, von Colombes Verzweiflung gerührt, ihr tags zuvor Gastfreundschaft gewährt hatten.

Charles wünschte, dass Colombe, die schwach und kränklich schien, noch einen Tag länger bei ihren Wirtsleuten bliebe, aber sie hatte, beruhigt durch die Offenheit, mit der ihr Freund sein Unrecht gestanden hatte, durch die Ruhe seiner Sprache und seines ganzen Benehmens, Eile, Envermeu zu verlassen und nach Dieppe zu gelangen.

Charles setzte sie auf sein Pferd; er nahm die Zügel des Tieres in die Hand, und indem er nebenher ging, schlugen sie den Weg nach der Stadt ein.

Unterwegs sprachen sie viel von der Vergangenheit, d.h. von Jean Baptiste, denn es schien sich nunmehr von selbst zu verstehen, dass der Horizont, den sie hinter sich ließen, von dem Tage begrenzt war, an dem Charles das Haus Pierre Brossiers verlassen hatte; sehr viel plauderten sie auch von der Zukunft.

In dem Augenblicke, in dem Colombe mit beredteren Worten, als es meine Feder vermag, das Gemälde der Glückseligkeit entwarf, die sich jetzt, nachdem sie sich so heiß geliebt, sich einer dem anderen mit der höchsten Selbstverleugnung geopfert hatten, die Hand reichten, ehe sie in die Ewigkeit traten, die allein eine wahre Vereinigung herstellt, gelangten sie auf den Gipfel eines Hügels, von wo aus sie den Ozean in seiner ganzen Unermesslichkeit sich vor ihnen ausbreiten sahen.

Die Hitze des Tages war drückend gewesen. Große Wolken von kupfrig schwarzer Färbung häuften sich über ihnen auf und zogen schwer von Osten gegen Westen. Aber diese Wolken hatten den Horizont im Westen noch nicht bedeckt, und durch eine breite Spalte, die dem Herde einer Schmiede glich, sah man die Sonne in ihrem Untergange siegreich gegen die doppelte Finsternis des Sturmes und der Nacht kämpfen. Das Meer flammte wie eine große Feuerpfanne, seine Wellen wallten auf und nieder, als waren sie Wogen von Lava gewesen. Näher an die Küste heran waren die Gewässer des Ozeans, deren Oberfläche nicht ein Hauch bewegte, so finster wie der Himmel, von Zeit zu Zeit aber zuckte ein Flammenstrahl aus dem glühenden Krater, und die schwärzliche Fläche erglänzte von blutigen Reflexen.

Colombe hatte ihr Pferd angehalten und blieb stumm, in den Anblick dieses großartigen Schauspieles ganz versunken.

Große Regentropfen fingen an zu fallen. Der Wind erhob sich, er trieb den Staub des Weges in dichten Wirbeln auf, und die Windstöße schienen diese bis zu den Wolken emporschleudern zu wollen. Die Färbungen in der Ferne hatten allmählich ihre Intensivität verloren, Himmel und Meer schmolzen am Horizont in einen Streifen tiefen Rotes zusammen; dieser bekam dann eine fahlgelbe Schattierung, und einige Augenblicke später sah man über diese Fläche lange Bänder von weißem Schaum mit großer Schnelligkeit ziehen.

Alles kündigte einen schrecklichen Sturm an; die beiden Reisenden hatten noch mehr als eine Stunde bis zur Stadt zurückzulegen, und wie sich Charles auch umsah, er erblickte nirgends eine Hütte, in der sie Schutz suchen konnten.

Er sagte Colombe, dass sie sich beeilen müssten, und setzte ihr Pferd in Trab.

Nachdem sie einige hundert Schritte zurückgelegt hatten, wurde Colombe durch seinen immer kürzer werdenden Atem beunruhigt; sie beschwor ihn, zu ihr auf das Pferd zu steigen, da nur auf diese Weise ihr Fortkommen geschwinder vonstatten gehen könne.

Charles willigte ein.

Er schwang sich in den Sattel, hüllte seine Gefährtin in seinen Mantel, umschlang die zarte Taille der jungen Frau mit seinem Arm und behielt nur die linke Hand frei, um das Pferd leiten zu können; er gab ihm die Sporen und setzte es in Galopp.

In diesem Augenblicke brach die ganze Gewalt des Sturmes los.

Die Donnerschläge folgten sich ohne Unterbrechung; Kaskaden von Flammen ergossen sich über Himmel und Erde, der Wind heulte, und in sein Stöhnen mischte sich das heisere Rauschen des empörten Meeres; die Bäume am Wege schüttelten ihre Wipfel mit düsterem Gestöhn.

Der Regen goss in Strömen, und bald wurde die Finsternis so dicht, dass Charles den Weg nur unterscheiden konnte, wenn der Himmel sich öffnete, um einer riesenhaften Feuerschlange den Durchgang zu gestatten.

Die junge Frau hatte den Arm um den Hals ihres Gefährten geschlungen und verbarg ihr Gesicht an seinem Wamse. Ihr Herz schlug stürmisch, und diese Schläge vereinigten sich mit dem Zittern von Charles' Herzen.

Eine eigentümliche Erregung bemächtigte sich des jungen Mannes.

»Colombe, Colombe!« rief Charles plötzlich mit zitternder Stimme, »so sterben, aneinander Brust an Brust vom Blitz getroffen zu werden, ist das nicht der einzige Preis, mit dem Gott unsere Prüfungen belohnen könnte? Zucke, du Blitz, heule, Sturm, möge sich die Erde öffnen! Wenn ich dich so durch die Ewigkeit tragen kann, will ich den Blitzstrahl, den Sturm und das Erdbeben segnen!«

Die junge Frau erhob den Kopf von der Brust ihres Gefährten.

»Sprich nicht so, Charles,« sagte sie mit dem Ausdruck herzzerreißender Angst; »Charles, du beleidigst die noch warme Asche.«

Aber Charles hörte nicht auf sie.

Er schien die Beute einer tollen Trunkenheit geworden zu sein, als wenn das Feuer dieses Sturmes in seine Adern übergegangen wäre.

Er hatte die Zügel fallen lassen, seine Sporen wühlten mit Wut in den Flanken des Pferdes und gaben dem Laufe des letzteren eine schwindelnde Schnelligkeit. Seine Arme drückten Colombe mit unbeschreiblicher Leidenschaft fest an sein Herz, und die junge Frau fühlte seine brennenden Lippen, die so heiß wie glühende Kohlen waren, auf ihrer Stirn.

In diesem Augenblicke spaltete ein Blitz die Wolken und erhellte eine Sekunde lang die Finsternis mit seinem blendenden Feuer.

Colombe stieß einen Angstschrei aus, denn als sie das bleiche Gesicht, das dicht über dem ihrigen war, als ihre Blicke diese glühenden, mit Blut unterlaufenen Augen sahen, die sich auf sie wie die eines Geiers auf einen Sperling, den er zerreißen will, hefteten, glaubte sie ein Teufelsgesicht vor sich zu sehen.

Mit übermenschlicher Anstrengung versuchte sie, sich aus Charles' Armen zu reißen und vom Pferde zu stürzen, aber es schien, als ob sie Eisenbande zurückhielten.

»Charles, Charles, Gnade, Mitleid!« stöhnte sie mit erlöschender Stimme, »im Namen deines Bruders, im Namen Gottes!«

Charles antwortete mit einer Gotteslästerung.

In demselben Augenblicke zerriss die Wolke, als ob der Blitz, den er angerufen hatte, seiner Stimme gehorsam wäre, und spie Flammen aus: ein Feuerstrahl umgab sie; zehn Schritte von dem Orte, an dem sie sich befanden, wankte ein Apfelbaum und stürzte zu Boden.

Das Pferd, toll vor Schrecken, bäumte sich und schlug rückwärts über, ehe die, welche auf ihm saßen, sich über das, was geschehen war, Rechenschaft geben konnten.

Die Heftigkeit des Sturzes hatte Colombe aus den Armen meines Ahnen gerissen.

Er erhob sich zerquetscht und verwundet, aber er dachte an Colombe und vermochte nicht das Blut zu fühlen, das an ihm herabfloß.

Er suchte sie vergeblich in seiner Nähe. Dann rief er ihren Namen.

Niemand antwortete ihm; er hörte nichts als das Geräusch des Regens, der die Erde peitschte, und den Widerhall des Hufschlags seines Pferdes, das, nachdem es wieder aufgesprungen war, nach der Stadt zu davonjagte.

Endlich gelangte er dazu, sich davon Rechenschaft geben zu können, dass neben der Stelle, an der er gestürzt, ein tiefer Graben den Weg einfasste; er stürzte sich mehr hinab, als dass er hinunterstieg. Er fand auch sogleich den Körper Colombes, aber dieser Körper war unbeweglich und schien entseelt.

Vergebens versuchte er, sie in das Leben zurückzurufen; alle seine Bemühungen waren unnütz wie seine Gebete, seine Seufzer, sein Geschrei, wie auch sein herzzerreißender Hilferuf, den der Wind in seinem Brausen mit sich forttrug.

Er nahm hierauf Colombe in seine Arme und begann verzweifelnd querfeldein zu laufen, ohne zu wissen, welche Richtung er einschlage – so groß war die Verwirrung seines Geistes.

Als er durch eine Hecke brach, zerrissen ihm deren Zweige das Gesicht, aber in demselben Augenblicke bemerkte er ein Licht, das zwischen dem Laube eines Gartens, in den er eingedrungen war, funkelte; er fühlte nicht seine Schmerzen. Er eilte vorwärts, fand eine Tür, erschütterte sie durch einen Fußtritt, und mehr erschöpft von der schrecklichen Erregung des Abends als durch das Blut, das er verloren hatte, unter dem Gewichte seiner Last erliegend, fiel er ohnmächtig auf die Schwelle nieder. –

Es verging lange Zeit, bis ihm die Besinnung wiederkehrte.

Als er zu sich kam, wankte seine Vernunft in dem Gehirn, das ihm leer schien; vergebens suchte er sich auf das, was geschehen war, auf den Ort, wo er sich gegenwärtig befand, zu besinnen. Die Sonnenstrahlen, die durch ein ziemlich hohes, aber schmales Fenster in das Zimmer fielen, beschienen ihn hell und blendeten seine Augen, als er sie halb öffnete.

Dennoch hatte er den schönen Kopf eines jungen Mädchens mitten in den Lichtstrahlen gesehen, die ihn mit einem Heiligenscheine umgaben; sie saß in der Fensternische und schien beschäftigt, die Stängel einiger Feldblumen zu einem Bukett zusammenzubinden.

Wahrscheinlich machte er auf seinem Lager eine Bewegung, denn das schöne junge Mädchen erhob sich und trat ihm näher. Als er sie auf sich zukommen sah, fand Charles schnell den Namen und die Gedanken, die ihm verloren gegangen waren, wieder.

Dieser Name war der Colombes.

Seine Gedanken spiegelten sich in der Angst ab, mit der er ihn aussprach.

Das junge Mädchen schwieg darauf.

»Und Colombe, Colombe?« wiederholte mein Ahne, indem er die Hände gegen die Fremde ausstreckte, um sie mit dieser Bewegung, wie in seinem Herzen, um Antwort anzuflehen. Er fühlte, dass zwei heiße Tränen auf seine Hände niederfielen; er sah, wie sich die beiden schönen Augen, aus denen diese Tränen gekommen waren, auf ihn mit dem Ausdruck zärtlichen Mitleids richteten.

Darauf begann das junge Mädchen, vor einem hölzernen Christusbild, das über dem Kamine befestigt war, niederknieend, zu beten.

Diese Tränen und das Gebet einer Fremden hatten ihre stumme und ergreifende Beredsamkeit; mein Ahne begriff, dass Colombe tot sei, seine Kräfte verließen ihn, und von der Unermesslichkeit seines Schmerzes vernichtet, verlor er zum zweiten Male das Bewusstsein.

Ein heftiges Fieber bemächtigte sich seiner. Er hatte heftige Anfälle von Raserei.

Dann sank er in eine Art Erstarrung, die mehrere Tage anhielt.

In der ersten Periode dieses Zustandes glaubte er mehr als einmal die anmutige Figur des jungen Mädchens zu sehen, die sich über sein Bett beugte und den Kranken angstvoll betrachtete.

Als er aber erst seine ganze Besinnung wiederhatte, war sie es immer, die seine Blicke suchten, wenn er erwachte, er fand sie dann aber niemals bei sich. Eine alte gute Frau hatte die Stelle seiner reizenden Krankenwärterin ersetzt.

Hin und wider sah er auch seinem Bette einen Mann sich nähern, dessen Gesicht ihn eigentümlich betroffen machte, denn es schien ihm, dass er diesem Manne nicht zum ersten Male begegne.

Eines Abends, als Charles eben erwacht war, trat sein Wirt in das Zimmer, ergriff seinen Arm und zählte aufmerksam die Pulsschläge; dann sagte er: »Mit Freuden kann ich bestätigen, dass der Tod Sie dieses Mal nicht gewollt hat, Herr von Longval.«

Bei dem Tone dieser Stimme waren die Erinnerungen meines Ahnen bestimmt geworden; er hatte den Fremden wiedererkannt, den der Chevalier von Blignac zum Abendessen im »Klaren Anker« eingeladen, denselben, der ihm so eigentümliche Worte gesagt hatte.

Er setzte sich in seinem Bette auf, schüttelte herzlich die Hand, welche die seinige hielt, und sagte mit traurigem Lächeln:

»Mein Herr, wenn Sie ein ebenso sicherer Prophet sind, wie Sie sich als guter Arzt gezeigt haben, so hätten Sie vielleicht ruhig den Tod sein Geschäft an mir verrichten lassen sollen.«

Dann fügte er in traurigem Tone hinzu:

»Wollen Sie mich wohl an die Stelle führen, wo sie ruht?«

Der Herr des Hauses war weit davon entfernt, Charles' Bewegung zu teilen; sein mürrisches Gesicht drückte mehr schlechte Laune als Mitgefühl aus.

»Herr von Longval,« sagte er, »Sie scheinen mir von Ihrem Zufalle und Ihrer Krankheit weit genug wieder hergestellt, dass eine Reise von einer Stunde keine bösen Folgen mehr für Sie haben kann. Ein Mann von mir führt in dieser Nacht einen Karren nach Dieppe; er wird Sie ohne Anstrengung nach Hause bringen, und der Wächter des Kirchhofes wird Ihnen den Dienst erweisen, den Sie von mir verlangen.«

Obwohl mein Ahne die sonderbaren Formen dieses Mannes schon kannte, war er über diese Rohheit erstaunt, die sich so schlecht mit der ihm erwiesenen Sorgfalt vertrug.

»Sei es so,« sagte er. »Ehe wir uns aber trennen, mein Herr, werden Sie mir wenigstens sagen, wie man Sie nennt.«

»Beten Sie für die, welche leiden, Herr von Longval, und Sie werden auch für mich gebetet haben. Meinen Namen zu kennen, würde Ihnen nicht von Nutzen sein, und wenn Sie mir wirklich einigen Dank für die Gastfreundschaft, die ich Ihnen zuteil werden ließ, schuldig zu sein glauben, so beweisen Sie ihn dadurch, dass Sie nicht mehr in mich dringen.«

»Dürfte ich nicht wenigstens ihr Lebewohl sagen, die –«

Der Mann unterbrach ihn rau, indem er in finsterem Tone rief:

»Reisen Sie ab! Wir sind uns schon zweimal in der Welt begegnet, Herr von Longval; Gott gebe, dass es das letzte Mal gewesen sei!«

Dann half er meinem Ahnen, sich anzukleiden; dieser fand auf dem Hofe einen kurzen Karren, vor den ein Pferd gespannt war, und neben diesem Karren eine Art von Bauer von riesenhafter Gestalt, der ihn zu erwarten schien.

Er wandte sich um, seinem Wirte zum letzten Male zu danken, aber dieser war schon in das Haus getreten und hatte die Tür hinter sich zugeschlossen.

In diesem Augenblick, als der Karrenführer, der eine große Ungeduld, abzufahren, an den Tag legte, dem Offizier behilflich war, in den Karren zu steigen, glaubte dieser zu bemerken, dass der Vorhang des einzigen Fensters der oberen Etage, das erleuchtet war, sich bewege und dass die reizende Figur des jungen Mädchens, das er am Morgen gesehen hatte, hinter den Vorhängen verschwinde.

Der schwere Karren rüttelte und setzte sich in Gang.

Umsonst versuchte er den Karrenführer zum Sprechen zu bringen; dieser schien entschlossen, genau der Weisung, stumm zu bleiben, die er wahrscheinlich erhalten hatte, Folge zu leisten. Alles, was er erfahren konnte, war, dass das Haus, in dem er eine so großmütige Gastfreundschaft gefunden hatte, sich das »verwünschte Gehöft« nannte.

Als er in sein einsames kleines Zimmer zurückgekehrt war, bemerkte Charles mit Schrecken, dass ihm das Andenken an das schöne junge Mädchen von dem »verwünschten Gehöft« dahin gefolgt war und dass er nicht mehr den Schatten der Toten vor sich beschwören könne, ohne dass ein anderes Bild sich zwischen diesen Schatten und ihn stellte.

Von diesem Augenblick seines Lebens an beginnt mein Ahne seine eigene Erzählung.

Tagebücher der Henker von Paris

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