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Das Horoskop

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Im Jahre 1662 ahnte die Stadt Dieppe noch nicht die Umformung, welche die moderne Therapeutik, unterstützt durch die Vorliebe für den Schutz einer erhabenen Fürstin, ihr für die Zukunft aufbewahrte.

Es war eine ausschließlich handeltreibende Stadt.

Natürlich waren um jene Zeit die Gasthäuser der Stadt Dieppe weit davon entfernt, den luxuriösen Palais zu ähneln, die heute den Fremden, die ihre Gesundheit in den wohltätigen Gewässern dieses Strandes suchen, eine komfortable Gastfreundschaft bieten.

Der »Klare Anker«, das berühmteste Wirtshaus hier am Ort, entsprach ganz der praktischen und bescheidenen Physiognomie der Stadt.

Er lag an der Ecke, welche die Straßen de la Poissonnerie und de l'Epée bilden, wo sie sich kreuzen.

Eine junge Fichte, die horizontal in der Mauer befestigt war, ein großes Schild, auf dem man einen am Schiffsbord aufgehängten Anker sah, kündigten dem Fremden schon von fern das Wirtshaus an. Sein Eingang war unter einer Halle, die von schweren Säulen gestützt wurde, Überbleibsel von irgendeinem Schiffbruche, die eine Art Wetterdach bildeten, wo die unbeschäftigten Seeleute gewöhnlich eine Zuflucht vor dem Regen suchten. Ein breiter Gang führte gleichzeitig zum Erdgeschoss und auf einen inneren Hof. Zur Rechten befand sich die große Küche, zur Linken die große Gaststube.

Eine außen angebrachte Treppe führte vom Hofe nach den Zimmern des oberen Stockwerkes, deren sämtliche Eingangstüren sich auf eine viereckige bedeckte Galerie, welche um das ganze Gebäude lief, öffneten.

Diese Bauart hatte einen sehr alten Anschein; sie machte den Arbeitern, die die Balken zugeschnitten und die Steine aufgestellt hatten, nicht mehr Ehre als dem Architekten, der den Plan entworfen hatte, und dennoch besaß der »Klare Anker« das Vorrecht, nicht allein die Schiffskapitäne zu beherbergen, sondern auch die großen Herren der Umgegend und die Offiziere des Regiments de la Boissière, das damals zu Dieppe in Garnison lag.

Eines Abends im Monat Februar des Jahres 1662 widerhallte der Saal des »Klaren Ankers« von Gesängen und Gelächter, worin sich das Klirren von aneinander gestoßenen Gläsern mischte.

Ich bitte meine Leser um die Erlaubnis, sie in diesen Saal führen zu dürfen.

Die Gäste des Meisters Baudrillart, Eigentümers und Kochs des »Klaren Ankers«, waren in der Tat weniger zahlreich, als es sich die Einbildungskraft der Vorübergehenden vorstellen mochte.

Nicht mehr als drei Gäste saßen um die lange Eichenholztafel mit spiralförmig gedrehten Füßen, die das Hauptmöbel dieses großen Raumes ausmachte. Es ist wahr, dass diese Tafel mit einer solchen Menge von Gerichten und einer so hübschen Auswahl von Flaschen aller Formen und Dimensionen besetzt war, dass es wahrscheinlich schien, die drei Gäste Meister Baudrillarts hätten, nachdem sie für sechs gegessen und getrunken, das Recht, für zwölf Lärm zu machen.

Aus den drei Degen, die an einigen Nägeln an der Wand hingen, sowie aus den Kostümen der Eigentümer derselben wurde es klar, dass alle drei vornehme Leute seien.

Zwei dieser Männer waren jung, der dritte streifte an das Alter, wo, wenn die Vernunft schweigt, die Gesundheit wenigstens Weisheit fordert, und dennoch war, wenn man dem Anscheine trauen durfte, gerade er der Anführer dieses Trios.

Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, groß, mager, knochig. Seine scharf ausgeprägte, beinahe eckige Physiognomie deutete auf seine südliche Abkunft ebenso gut als der Name des Chevaliers von Blignac, den ihm seine Kameraden gaben. Alle Begierden, alle Kühnheit des Gaskogners sprachen sich auf diesem Gesichte aus. Seine Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, aber ungemein lebhaft waren, übertrafen noch den Ausdruck von Feinheit, wie ihn seine Landsleute haben, sie drückten List und Schlauheit aus. Der vorzüglichste Charakter seines Gesichtes war der sonderbare Mangel an Übereinstimmung zwischen dessen oberem und unterem Teile.

Herr von Blignac trug die Farben des Regiments de la Boissière.

Der zweite der Gäste war nicht älter als zwanzig Jahre. Er war mit großer Sorgfalt gekleidet; der Stoff und der Schnitt seiner Kleider, der Überfluss an Bändern, mit denen sie besetzt waren, zeigten eine Eleganz, der man fern vom Hofe sehr selten begegnete.

Unter diesem Äußeren des Stutzers bewahrte dieser junge Mann den ganzen Reiz, die ganze naive Ungezwungenheit der Jugend. Seine Sprache, seine Manieren waren frei von der anspruchsvollen Gezwungenheit der Modegecken jener Zeit. Sein Gesicht blieb einfach im Ausdrucke aller seiner Gefühle. Er gab sich dem Vergnügen, das vielleicht noch neu für ihn war, mit dem ganzen Ungestüm seines Alters hin. Noch erhitzter durch den Lärm als durch den Wein, den er getrunken hatte, wetteiferte er mit Herrn von Blignac im Geschrei, Lachen und Quodlibets; er wiederholte mit Enthusiasmus alle Refrains, die der alte Soldat anstimmte, und man brauchte sie bloß einen Augenblick zu beobachten, um sich zu überzeugen, dass diese Herren allein den Lärm machten, der die tugendhaften Bürger von Dieppe so sehr ärgerte.

Der dritte schien nicht in einer ebenso lärmsüchtigen Laune wie die beiden ersten zu sein.

Er war ein Mann von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, mit schmalem und ernstem Gesicht. Ehe man noch die charakteristische Schönheit seiner Züge beobachtet hatte, staunte man schon über den Anflug von Melancholie, den sein Gesicht mitten unter den geräuschvollen Vergnügungen bewahrte, und man musste sich fragen, welcher Kummer und welche frühzeitigen Schmerzen seine junge Stirn mit so vielen Falten bedeckt hatten.

Wie Herr von Blignac gehörte er zum Regiment de la Boissière. Seine Figur gab in nichts der seines Kameraden nach, aber sie hatte Proportionen von Kraft, die dem letzteren mangelten. An der Breite der Schultern, der Wölbung der Brust, an dem, was man von dem Muskelspiele des jungen Offiziers gewahrte, sowie an dem langen blonden Haar, das ihm zu beiden Seiten des Hauptes niederfiel, erkannte man ebenso wie an der Durchsichtigkeit seiner Hautfarbe die untrüglichen Zeichen, welche die nordischen Rassen ihren Nachkommen hinterlassen haben.

Herr von Blignac hatte soeben eine neue Flasche entkorkt; erfüllte sein Glas, ließ das rubinfarbige Getränk in dem Kristall funkeln, indem er es vor dem Lichte erhob und wieder senkte, dann kostete er mit dem nachdenklichen Entzücken eines Kenners.

Der blonde Offizier, den die Geschwätzigkeit seines Kameraden seit einigen Augenblicken etwas zu beunruhigen schien, benutzte die kurze Pause, welche diese ernste Beschäftigung erforderte, beugte sich zu dem jungen Manne und sagte:

»Du wirst also erst in einem Jahre nach Neu-Frankreich zurückkehren, Paul?«

»Ja,« erwiderte der, den er Paul genannt hatte, »und dieses ganze Jahr will ich bei dir zubringen, mein guter Charles.«

»Es wird uns sehr kurz vorkommen, aber deiner Mutter sehr lang werden, liebes Kind.«

Eine lebhafte Bewegung malte sich auf dem Gesichte des Jünglings, aber Herr von Blignac ließ ihm nicht die Zeit, zu antworten. Diese Unterhaltung hatte schon die Ungeduld des würdigen Edelmannes erregt:

»Gottes Tod, meine jungen Freunde, es scheint mir, dass, wenn ihr ein ganzes Jahr beisammen zuzubringen habt, euch die Zeit nicht fehlen wird, eure kleinen Geheimnisse auszutauschen, und ihr werdet mir die Bemerkung erlauben, dass es nicht recht passend ist, mich, nachdem ihr die Ehre meiner Gesellschaft verlangt habt, in meiner Ecke mit der Physiognomie einer Flasche, die man ausgetrunken hat, allein zu lassen. Dieser Vorwurf gilt Ihnen, Leutnant von Longval, denn Ihr Cousin, Herr Bertaut, würde gewiss nicht die Rücksichten vergessen, die man sich unter Edelleuten schuldig ist.«

Der Offizier, den Herr von Blignac Herrn von Longval genannt und mit dem Titel Leutnant belegt hatte, zuckte die Achseln und erwiderte:

»Erlauben Sie mir andererseits, mein lieber von Blignac, die wahre Lage unserer gegenseitigen Beziehungen wieder herzustellen. Vor vierzehn Tagen kam mein Cousin, Herr Paul Bertaut, aus Amerika an, und ohne sich Zeit zu nehmen, mich zu umarmen, reiste er denselben Abend weiter nach Paris, wo er Herrn von Mazarin die Depeschen des Gouverneurs von Kanada abzugeben hatte. Heute morgen kamen wir beide, Sie und ich, aus der Zitadelle, als derselbe Herr Bertaut vom Pferde stieg, um sich mir in die Arme zu werfen, und mir vorschlug, das Souper, das ihn im ›Klaren Anker‹ erwartete, mit ihm zu teilen. Soviel ich mich entsinne, waren Sie es, mein lieber Chevalier, der um die Ehre bat, einer der Unsrigen sein zu dürfen. Es war indessen ziemlich natürlich, vorauszusetzen, dass wir nach einer langen Trennung allein zu sein wünschten. Sie haben anders gedacht, wir beklagen uns nicht darüber, wenigstens aber klagen Sie sich nur selbst der Unannehmlichkeit Ihrer Lage an.«

Ein Zornesblitz schoß aus den Augen des Gaskogners; mit einer heftigen Bewegung ergriff er sein Glas, aber fast in demselben Augenblicke unterdrückte er mit einer Schnelligkeit, die unter einer frivolen, fast grotesken Außenseite eine gewisse Willenskraft offenbart, den drohenden Ausdruck auf seinem Gesicht, und seine Hand änderte seinen Entschluss dahin ab, dass er das Glas an seine Lippen führte.

Er leerte es mit einem Zuge, stellte es wieder auf den Tisch und erwiderte mit der scherzhaften Gutmütigkeit, die ihm eigen war:

»Nun, so verkennt man die schönsten Gefühle! Unter dem Eindrucke meiner tiefen Freundschaft für Sie, mein lieber von Longval, unter dem Einflusse der außergewöhnlichen Sympathie, die ich, ohne ihn zu kennen, für Ihren jungen Cousin empfinde, habe ich überlegt, dass eure Jugend und Unerfahrenheit in der Sache euch zu Schlachtopfern des entsetzlichen Giftmischers mit Namen Baudrillart machen würden, und um die Erlaubnis gebeten, mich mit eurer Überwachung befassen zu dürfen, und nun lassen Sie sich gar einfallen, meine gutherzigen Absichten zu entstellen? Bei dem Blute Christi, Leutnant, das war nicht unsere alte Kameradschaft!«

Paul Bertaut beeilte sich das Wort zu nehmen.

»Sie haben recht, Herr von Blignac!« rief er, »und ich halte mich Ihnen so tief verpflichtet, dass, wenn Sie nichts Anstößiges bei meiner Bitte finden, ich Ihre allmächtige Intervention in den Beziehungen, die ich während eines Jahres notwendigerweise mit diesem Baudrillart, dem man so Schlimmes zutrauen muss, haben werde, erflehe.«

»Baudrillart! Holla! Baudrillart!« brüllte der gaskognische Edelmann mit einer Ungezwungenheit, die seine Reue bewies. »Verdammter Wirt! Dreifacher Faulenzer, wirst du kommen, wenn man dich ruft?«

Der Chevalier von Blignac war damit kaum zu Ende, als Baudrillart sich in demütiger und unterwürfiger Haltung an der Tür zeigte, ein sicherer Beweis, dass der alte Offizier nicht mit Unrecht den Einfluß gerühmt hatte, den er auf den Wirt ausübte.

Baudrillart verneigte sich mit ehrerbietigem Ausdrucke, den sowohl die Details, die er über das Vermögen seines Gastes vernommen, als die Drohungen Herrn von Blignacs hervorgerufen haben mochten.

»Und jetzt«, setzte der letztere hinzu, »bringe uns eine Flasche besseren Nektars als den, mit welchem du uns bisher bedient hast.«

»Aber«, stotterte der Gastwirt, »ich muss mir die Freiheit nehmen, dem Herrn Baron bemerklich zu machen, dass der Wein, den ich seiner ehrenwerten Gesellschaft vorgesetzt habe, der beste war, den ich besaß, und –«

»Keine Einwendung! der Wein soll wie die Heiterkeit crescendo gehen, wie unsere italienischen Nachbarn sagen. Wein und Karten!«

»Warum denn Karten?« fragte Charles von Longval erstaunt. »Sie haben vergessen, dass ich nie spiele, mein lieber Chevalier.«

»Gottes Tod! das ist wahr! Hole Sie der Teufel, mein Freund; Sie haben Ihren Beruf verfehlt, eine Kutte würde Ihnen besser stehen als die Uniform.«

»Vielleicht werde ich Ihnen zum Gefallen noch einst eine solche anziehen; diese Aussicht schafft Ihnen aber immer noch keinen Dritten zum Lanzknecht.«

»Verdammt! Ich muss aber einen finden! He! Baudrillart, du wirst in deiner Herberge wohl einen Reisenden haben, der einige Pistolen besitzt, um sie gegen die unserigen einzuwechseln; geh und hole ihn, und wenn er sich darüber beklagt, dass du ihn geweckt hast, so wirst du seinen Ärger auf die Rechnung setzen; mein berühmter Freund, Herr Bertaut, handelt niemals.«

Meister Baudrillart zögerte noch.

In diesem Augenblicke erschütterten heftige Schläge die Haustür der Herberge.

»Gottes Tod!« rief der Chevalier von Blignac; »der Zufall ist gescheiter als du, Baudrillart, denn da schickt er uns den, den wir brauchen. Geh dem Reisenden entgegen, und wer er auch sei, führe ihn hier zu uns ein.«

Der Gastwirt gehorchte, und einige Augenblicke später stand ein Mann, der sich bis an die Augen in einen großen Mantel von rötlichem Tuche gehüllt hatte, auf der Schwelle des Saales. Als er die drei Edelleute bemerkte, zögerte er, weiterzugehen.

Sein Kostüm hatte viel Ähnlichkeit mit dem eines Soldaten. Es bestand in einem Wams von düsterrotem Tuche, darüber ein Oberrock von Büffelleder ohne Ärmel, der die Brust bedeckte. Eine Hose von demselben Stoffe wie das Wams verlor sich in ein Paar Lederstiefel, die, auf der Seite zu öffnen, das Bein vom Knie bis zur Sohle bedeckten und deren sich die Bewohner der Normandie noch heute als Reitstiefel bedienen.

Vor dem Kamine stehend, wärmte er seine breiten Hände, und seine Blicke blieben starr und zu Boden gesenkt, als ob das phantastische Spiel der Flammen oder das Knattern der verkohlenden Zweige seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte.

Nur ein- oder zweimal hatte er die Augen erhoben, und Paul Bertaut fühlte sich von ihrem wilden Ausdruck betroffen.

Wenn auch das Gesicht des Fremden ruhig war, so funkelten seine Augen doch unter den dicken, ergrauten Brauen und schleuderten Blitze, wie die einer Degenklinge, die in der Luft umherzischt, ehe sie sich niedersenkt, und wie das Eisen hatten sie etwas Spitziges an sich, das durch das Fleisch bis zum Herzen drang.

Ohne sich von ihren Eindrücken Rechenschaft geben zu können, fühlten die beiden jungen Männer diesem Menschen gegenüber ein unbeschreibliches Unbehagen; sie betrachteten ihn mit einer Neugierde, die an Staunen grenzte.

Nur der Chevalier von Blignac hatte nichts von seiner Ruhe verloren; er machte ein Kuvert zurecht, stellte die Flaschen in eine Linie und ordnete die etwas verwirrten Schüsseln mit einer Geschicklichkeit, auf die Meister Baudrillart gewiß eifersüchtig gewesen wäre.

Der Reisende war der erste, der das Schweigen brach. Er schien sich selbst zwingen zu müssen, als er sich an seine drei Gesellschafter mit den Worten wandte:

»Nachdem ich Ihnen für Ihre Höflichkeit gedankt habe, meine Herren, bleibt mir noch zu erfahren übrig, was Sie von mir erwarten.«

In diesem Augenblicke hatte der Gaskogner einen Schemel an den Tisch herangezogen und betrachtete die gastronomischen Dispositionen, die sein Werk waren, mit stolzer Genugtuung.

»Wir erwarten,« erwiderte er, »dass Ihr Euch an diesen Platz setzt, mit dem Rücken gegen das Feuer, und Eure Rechte an dieses Bataillon Flaschen lehnend, das die Reserve sein wird; dann, dass Ihr die Bresche in dieser Pastete erweitert und sie mit Sturm nehmt, worauf noch übrig bleiben wird, die Hilfsarmee, welche durch diese Butte mit Krabbensoße repräsentiert wird, in die Flucht zu schlagen.«

»Lasst Eure Artillerie spielen,« fuhr Herr von Blignac fort, indem er eine ganze Flasche Wein in das größte Glas, das er finden konnte, goss; »an Munition soll es Euch nicht fehlen.«

»Das ist zu viel Ehre für einen Mann meiner Art, meine Herren, was auch mein Stand sei«, erwiderte der Fremde.

Paul Vertaut vereinigte seine Bitten mit denen des Gaskogners; der junge Offizier beobachtete den Fremden immer stillschweigend.

Dieser ließ sich nicht mehr lange bitten. Er nahm auf dem Schemel Platz, und das ungeheure Stück Pastete, das Herr von Blignac auf seinen Teller gelegt hatte, war bald verschwunden.

Aber zur großen Verwunderung des Gaskogners streckte der Unbekannte, anstatt sich des Bechers von den ungeheuren Proportionen, den der Gaskogner bis zum Rande gefüllt hatte, zu bedienen, die Hand aus, ergriff eine Kanne Wasser, welche die Zecher unberührt gelassen hatten, goss sich daraus ein Glas voll und führte dieses an seine Lippen.

Herr von Blignac war stumm und wie versteinert über das, was sich vor seinen Augen zutrug.

»Wie?« rief er. »Unter soviel Flaschen wählt Ihr gerade diese?«

»Warum nicht? Ich trinke nie Wein, mein Herr«, erwiderte der Fremde einfach.

»Ihr trinkt keinen Wein? Zum Teufel, ich will den Grund wissen!«

»Was kümmert Sie das?« sagte der Unbekannte in düsterem Tone. »Vielleicht, weil er rot ist.«

Das Gesicht Herrn von Blignacs drückte bei der Kundgebung einer Mäßigkeit, welche die von ihm entworfenen Pläne zuschanden zu machen schien, eine so vollständig komische Enttäuschung aus, dass Paul Bertaut nicht sein lautes Lachen zurückhalten konnte.

Der Fremde glaubte, dass man sich über ihn lustig mache; seine Brauen zogen sich zusammen, und mit einer Bewegung, so rasch wie der Gedanke, fasste er mit der Hand an seinen Degengriff.

Der junge Offizier hielt seinen Arm zurück, und schnell beruhigt stieß der Mann die Klinge in die Scheide zurück.

»Mein Herr,« sagte der Offizier, »wir müssen uns entschuldigen. Ich möchte um keinen Preis, dass Sie mich für den Mitschuldigen einer Unbesonnenheit hielten, die sich einen Mann, der einen Degen trägt und der, wenn er nicht Edelmann ist, wahrscheinlich wenigstens Soldat gewesen, zum Opfer wählte.«

»Eine offene Erklärung wird uns auf der Stelle rechtfertigen, mein Herr,« setzte Paul Bertaut hinzu. »Die Höflichkeit unseres Freundes Herrn von Blignac war nicht so uninteressiert, als Sie glauben mochten, er hatte gehofft –«

Der Gaskogner fühlte sich veranlasst, selbst das Wort zu ergreifen.

»Das heißt: er hofft noch!« rief er und mischte schnell ein paar Spiele Karten, die der Wirt auf den Tisch gelegt hatte:

»Ja, mein Herr, wenn ich einiges Erstaunen über Ihren Geschmack an einem Getränke zu erkennen gab, das, meiner Ansicht nach, den Menschen zum Tier herabwürdigt, so habe ich nichtsdestoweniger an der großen Miene, mit der Sie die Hand an die Waffe des Edelmannes legten, erkannt, dass Sie nicht von so gewöhnlichem Stande sind, wie Sie uns überreden zu wollen scheinen, und ich bin überzeugt, dass Sie nach dem Essen anerkennen werden, dass anständige Leute etwas Besseres zu tun wissen, als ihre Zeit damit zu verlieren, dass sie einsam zwischen zwei Tüchern schlafen.«

»Wirklich, sie können sie dazu anwenden, ihr Geld zu verlieren.«

»Oder das ihres Nächsten zu gewinnen«, erwiderte Herr von Blignac, indem er stolz einiges Geld in seiner Hosentasche klingen ließ.

»Wirklich,« sagte der Unbekannte, der seit einigen Augenblicken Herrn von Blignac durchdringend anblickte, »wirklich hat der Zufall Sie bisher nicht begünstigt, obgleich Sie, wie ich glaube, sich nie den Vorwurf machen können, dass Sie eine Gelegenheit, ihn zu versuchen, haben vorübergehen lassen.«

»Wer hat Sie so gut unterrichtet?« fragte der Gaskogner.

»Verzichten Sie auf das Spiel, Herr Chevalier von Blignac«, sagte der Fremde mit ernster Stimme.

Der Gaskogner brach in ein wildes, schallendes Gelächter aus.

»Ich kenne das menschliche Herz zu gut, um nicht vorhergesehen zu haben, wie Sie meinen Rat aufnehmen würden; indessen wiederhole ich Ihnen nochmals: entsagen Sie dem Spiel, Herr Chevalier von Blignac.«

»Und warum das?« sagte der Gaskogner, sich auf die Tafel stützend und eine heitere Miene annehmend.

»Ist es nicht wahr, Herr Chevalier von Blignac, dass Ihnen bis heute das Spiel immer sehr fatal gewesen ist?«

»Nach den Geständnissen, die ich Ihnen soeben machte, würde das, womit Sie anfangen, eben keinen großen Prediger verraten.«

»Der unerwartete Tod eines älteren Bruders hatte Sie, den jüngeren, in den Besitz des väterlichen Erbteils gesetzt. Herr von Blignac, wo ist Ihre Erbschaft geblieben?«

»Wo der Schnee bei Südwind hingeht, wie Clement Marot gesagt hat,« erwiderte der Chevalier, »aber Sie scheinen mich zu kennen, mein lieber Herr, und es ist nichts Außerordentliches dabei, mir meine Geschichte zu erzählen.«

»Wo ist die Aussteuer geblieben, die Ihre beiden für den Schleier bestimmten Nichten ihrem Kloster zubringen sollten?«

»Gott hat sie auch ohne Geld zu sich genommen; ihre Personen sind zu ehrenwert, um den schlechten Geschmack zu haben, sich zu beklagen. Ist das alles?«

»Ein wenig Geduld, Herr Chevalier. Während des Streites der Fronde waren Sie, wie ich glaube, Gefreiter im Regimente Herrn von Corinthes.«

»Pest!« sagte Paul Bertaut, »es scheint, dass Sie dem Herrn Chevalier von Blignac nicht erst gestern begegnet sind.«

»Der Herr Herzog von Beaufort«, fuhr der Fremde fort, »schätzte Sie sehr hoch; Sie waren tapfer und ein guter Kamerad; das war ein sicheres Mittel, dem Enkel Heinrichs IV. zu gefallen. Ihr Geschwätz wurde ihm so unentbehrlich, dass er Sie zu der Ehre zuließ, die Sie mir soeben erzeigen wollten. Alles ging so gut, dass Sie immer beliebter wurden; unglücklicherweise hatte dieser berühmte Herr von Beaufort von seinem königlichen Vater her einen wahren Schrecken vor allem, was einer Niederlage ähnelte. Er verlor Partie auf Partie, und in seinem Ärger wagte er zu behaupten, dass die Würfel falsch seien. Ich glaube nicht daran; wenn man aber dem, was damals erzählt wurde, Glauben beimessen will, so drehte die schlechte Laune des Königs der Hallen in wunderlicher Weise die Rollen um. Nachdem Sie bis dahin geschlagen hatten, wurden Sie nun geschlagen, Herr Chevalier.«

Der Gaskogner, dessen Gesicht seit einigen Augenblicken alle Farben des Regenbogens angenommen hatte, stieß einen schrecklichen Fluch aus, und ehe seine Gefährten es hindern konnten, hatte er seinen Degen gezogen und stürzte sich auf den Fremden.

Das Gesicht desselben bewahrte seinen spöttischen Ausdruck und verriet nicht die geringste innere Bewegung; er streckte nur in seiner unerschütterlichen Ruhe den Arm aus, presste die Faust des Chevaliers von Blignac in seiner breiten Hand und schüttelte sie mit solcher Heftigkeit, dass dieser einen Schmerzensruf ausstieß und seinen Degen auf die Dielen fallen ließ.

»Du lügst in deine Kehle hinein,« heulte der Gaskogner; »wenn die Sache so zugegangen wäre, wie du erzählst, ich hätte gewiss Herrn von Beaufort, gleichviel ob er Herzog oder Sohn eines Königs gewesen, gezwungen, mir Rechenschaft zu geben.«

»Sie taten das wirklich, denn der Hochmut fehlt Ihnen ebenso wenig als die Tapferkeit; aber Ihre Berufung hatte keinen anderen Erfolg, als dass Sie in die Bastille kamen, wodurch Sie die Aussicht verloren, die Kompanie zu erhalten, die Ihnen Herr von Montigny in seinem Regiments versprochen hatte. Ist das nicht Ihre Geschichte, und bin ich nicht gut über das, was Sie betrifft, unterrichtet, Herr Chevalier von Blignac?«

»Teufel, Teufel!« sagte Paul Bertaut, »es scheint mir, dass Sie sich weniger amüsieren, als Sie erwartet hatten, Herr von Blignac.«

Dieser machte in der Tat ein jämmerliches Gesicht; er trat dem Fremden näher.

»Wer sind Sie?« fragte er ihn. »Ich kann in meinem Gehirne hin und her suchen, ich finde darin keine Erinnerung, die mir Ihre Züge und Ihre Person zurückruft.«

»Das ist ziemlich natürlich, Herr Chevalier; ein Edelmann wie Sie geht an dem Insekt vorbei, das zu seinen Füßen kriecht, aber er hält es nicht der Mühe wert, seinen Blick zu senken, um es anzusehen.«

»Das alles sagt mir nicht Ihren Namen, und Ihr Name ist es, den ich wissen will.«

»Sie haben mich nicht darnach gefragt, als Sie mir die Ehre antaten, mich an Ihre Tafel zu ziehen; jetzt bin ich im Recht, wenn ich mich weigere, ihn zu nennen.«

»Ich werde ihn doch wissen, Gottes Tod!« rief der Chevalier, hob seinen Degen vom Boden auf, legte aus und schrie, während er mit dem Fuße zweimal gewaltig Appell schlug: »Ziehe dein Rappier, Schurke, und verteidige dich!« Der junge Kamerad Herrn von Blignacs warf sich zwischen ihn und den Fremden, der die Arme gekreuzt und sich nicht von der Stelle gerührt hatte.

»Zu meinem großen Bedauern«, sagte er mit seiner festen und ernsten Stimme, »bin ich genötigt, für den Herrn Partei zu nehmen und gegen Sie, mein lieber von Blignac. Ihre Absichten auf ihn waren gerade nicht christlich, und Ihre jetzige Empfindlichkeit verrät wenig guten Geschmack.«

»Partie zu vieren, Gottes Tod!« schrie der Gaskogner. »Zu mir, zu mir, lieber Herr Bertaut – ein schönes Duell! Das ist wahrhaftig noch mehr wert als das Landsknechtspielen.«

Der Jüngling lachte laut auf.

»Den Degen gegen meinen Cousin ziehen? – Daran dachten Sie nicht, Chevalier. Diese Nacht haben Sie gewiss kein Glück, und es ist gut für Ihre Taler, dass wir auf das Kartenspiel verzichtet haben. Stecken Sie den Degen ein! Zum Teufel! Sie können sich doch nicht mit einem Menschen schlagen, der sich nicht verteidigt.«

»Ich werde dich wiederfinden, Schurke!«

»Gott behüte Sie davor, Herr Chevalier,« sagte der Fremde, »und jetzt erlauben Sie mir, mich zu erklären. Wenn ich Ihnen eine Vergangenheit in das Gedächtnis rief, die Ihnen nicht angenehm zu sein scheint, so geschah dies nicht in der Absicht, Sie zu beleidigen; ich wollte Sie bloß vermögen, meinen Worten einige Aufmerksamkeit zu schenken, als ich von der Zukunft sprach.«

»Von der Zukunft?« wiederholten gleichzeitig die drei Gefährten.

»Ja, meine Herren, von der Zukunft«, antwortete der Unbekannte einfach, aber im Tone sehr fester Überzeugung.

In einer Sekunde war jede Spur von Zorn auf dem Gesicht Herrn von Blignacs geschwunden. »Bei dem Leben Gottes!« rief er. »Seid Ihr der Astrologe dieses nichtswürdigen Concini, der letzte, den man in Frankreich gesehen hat? Ich glaubte, man habe ihn auf dem Grèveplatze gehangen, nachdem man seine Geliebte verbrannt hatte.«

»Ich bin kein Astrologe, Herr Chevalier; ich bin ein Mann, der beobachtet, vergleicht und sich erinnert; nichts mehr.«

»Und was wird mir geschehen, wenn ich Euren Rat vernachlässige?«

»Es wird Ihnen noch Schlimmeres geschehen, als Sie bis jetzt erlebt haben.«

»Das ist wenig gesagt, mein Herr, und Eure Höflichkeit sollte so weit gehen, mir den Stein zu bezeichnen, an dem mein Gaul stolpern wird.«

»Ihre Leidenschaft, die Ihren Ruin herbeigeführt, Ihr Glück als Soldat gefährdet hat, wird Sie das Leben kosten, Herr Chevalier von Blignac.«

»Ich werde vielleicht vor Freude darüber ersticken, dass ich von Herrn von Mazarin hunderttausend Pistolen gewonnen habe, und die Erstarrung wird darnach kommen.«

»Nein, mein Herr, Sie werden eines gewaltsamen Todes sterben.«

»Das ist der Tod eines Soldaten, mein Teurer.«

»Danken Sie mir nicht zu sehr. Herr Chevalier,« erwiderte der Fremde, »denn ich muss noch hinzufügen, dass Sie durch den Strick umkommen werden.«

»Gehangen?«

»Gehangen.«

»Das ist weniger wahrscheinlich, lieber Herr, denn Ihr, der mich so genau kennt, solltet wissen, dass ich Edelmann bin und dass man die Edelleute nicht hängt.« »Ich erkläre nichts, Herr Chevalier – ich sage nur, was geschehen wird – das ist alles.«

»Gottes Tod! mein Herr,« sagte Paul Bertaut, sich dem Fremden nähernd, »vielleicht haben Sie mir auch etwas zu sagen.«

»Nach dem, was ich soeben Ihrem Kameraden gesagt habe,« erwiderte der Fremde, »ist Ihre Neugierde Kühnheit, mein Herr.«

Aber der Chevalier von Blignac trat dazwischen.

»Ich muss Ihnen sagen, mein Herr, dass dieses zweite Experiment für mich nichts beweisen würde. Man enträtselt leicht ein Gesicht, das, wie das meinige, den Namenszug aller Leidenschaften seines Eigentümers trägt; ebenso leicht ist es, ohne Anstoß auf einer Physiognomie von zwanzig Jahren zu lesen. Wollen Sie, dass ich der Perspektive, die Sie mir an meinem Horizont eröffnet haben, vollen Glauben beimesse, dann probieren Sie Ihre Wissenschaft auf dem Marmorgesichte meines Kameraden. Wenn Sie entdecken, was ich seit drei Jahren, in denen er mein Kamerad ist, vergebens suche, so werde ich an Ihre Kabbala glauben, als ob wir noch zur Zeit Katharinas von Medici lebten.«

Charles von Longval hatte seine Hand hingereicht. Der Fremde hatte sie kaum betrachtet, als er in das fieberische Nachsinnen des Weisen über das, was in seinen Augen den Charakter eines Wunders annimmt, versank.

»Sonderbar! Sehr sonderbar!« murmelte er.

»Nun wohl, Gottes Tod!« sagte der Gaskogner. »Ist Eure Zauberei schon in die Brüche gekommen?«

Der Fremde hatte sich seinem Nachsinnen vollständig entschlagen, und eine lebhafte Bewegung gab sich an ihm kund.

»Sie sind unter einem schrecklichen Stern geboren worden, mein Herr,« sagte er halblaut, »und in den Runzeln Ihrer Stirn wie in den tiefen Furchen Ihrer Hand sehe ich Ihre Existenz durch ein Unglück, von dem es wenige Beispiele gibt, beherrscht.«

»Hum, hum!« brummte der Chevalier von Blignac. »Das ist ja eine sich wenig kompromittierende Wahrsagerkunst.«

»Still!« gebot der junge Offizier.

»Sie haben geliebt; der Gegenstand Ihrer Liebe war mit Ihnen durch Bande des Blutes verwandt, und diese bis dahin so reine Liebe wurde ein Verbrechen – Sie haben fliehen wollen; Sie haben die Unermesslichkeit der Meere zwischen sich und die gelegt, die Ihnen nicht mehr angehören konnte; es war vergebens. – Ihr Bild hat Sie ohne Rast und Ruhe verfolgt. Die Probe war zu stark für Ihr Alter, Sie haben ihr nicht widerstanden. – Es kam eine Stunde, in der Sie, um sie wiederzusehen, das Heil Ihrer Seele auf das Spiel gesetzt haben würden. Sie haben sie wiedergesehen. – Auch sie erwartete Sie; auch sie hatte gelitten; sie verlangte Ihre Hilfe und bat Sie, zu ihr zurückzukehren. Sie gehorchten, und von diesem Augenblicke an war Ihre Existenz nur noch ein schrecklicher Kampf zwischen Pflicht und Leidenschaft. Diese Leidenschaft suchen Sie jetzt noch zu ersticken, denn neue Gefühle sind in Ihrem Herzen erwacht –«

»Genug, genug, ich beschwöre Sie darum, mein Herr!« sagte der junge Offizier mit zitternder Stimme.

Paul Bertaut war blass wie ein Gespenst.

Herr von Blignac hatte einen Pfropfen aufgenommen und schnitt ihn maschinenmäßig entzwei, ohne die in dieser Szene handelnden Personen aus den Augen zu lassen.

Alle vier blieben einige Augenblicke lang still; der Fremde nahm zuerst wieder das Wort.

»Ich bedaure, mein Herr,« sagte er, sich an den jungen Offizier wendend, der seine in Schweiß gebadete Stirn trocknete, »ich bedaure, den Kummer Ihres Herzens wieder erweckt zu haben, um auf das Misstrauen, das mir der Herr Chevalier zeigte, zu antworten, und ich bitte Sie um Verzeihung.«

»Mein Herr,« erwiderte Herr von Longval, der seit einer kleinen Weile aufgeregt im Saale umherging, »Sie haben nur von der Vergangenheit zu mir gesprochen, und diese Vergangenheit ist düster genug, dass Sie mir das Recht zuerkennen werden, Sie jetzt auch um die Zukunft zu befragen. Wollen Sie, ich bitte darum, meinem Wunsche entsprechen?«

Der Fremde nahm seinen Mantel und warf ihn über die Schultern.

»Lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich fort, junger Mann,« sagte er. »Glauben Sie mir, versuchen Sie nicht, den bleiernen Vorhang zu heben, den die Vorsehung zwischen Ihre Augen und die Tage, die Sie noch zu leben haben, hat fallen lassen. Wenn ich Herrn von Blignac das Schicksal, das, meinen Konjekturen zufolge, seine Laufbahn schließen soll, offenbart habe, so geschah es, weil Herr von Blignac, ohne es zu ahnen, für mich eine alte Bekanntschaft ist, gegen die ich eine kleine Rache auszuüben hatte. Sie aber haben das Eisen, das mein Wams bedrohte, abgewandt; nochmals, geben Sie zu, dass ich mich entferne.«

»Nein, nein; ich berufe mich im Gegenteil auf den Ihnen geleisteten Dienst, um Sie anzuhalten, sich zu erklären.«

»So sei es, ich werde sprechen, übrigens, wenn ich auf der Stirn eines Menschen die geheimnisvollen Zeichen des kabbalistischen Astrolabiums lesen kann, so bin ich doch nicht anmaßend genug, um vorauszusetzen, dass meine Wissenschaft unfehlbar sei. Wenn ich an die menschliche Vorherbestimmung glaube, so bin ich auch Christ und glaube, dass der Wille und die Barmherzigkeit des Allerhöchsten diese Prädestination bekämpfen und besiegen können. Ich werde sprechen.«

Der Offizier versuchte zu lächeln.

»Was Sie mir zu sagen haben, muss sehr erschreckend sein, nach der Vorsicht zu urteilen, die Sie anwenden. Wird mich also dieses Unglück, das Sie in meinem Horoskop entdeckt haben, bis zu meiner letzten Stunde verfolgen?«

»Es wird Sie bis über das Grab hinaus verfolgen, es wird sich auf Ihr ganzes Geschlecht erstrecken.«

»Und während meines Lebens?«

Der Fremde zögerte; er war ebenso bleich geworden wie alle, welche ihn umgaben, und seine Pupillen, die von einem konvulsivischen Zittern bewegt wurden, hoben und senkten sich in dem Weißen seiner Augen.

»Sie lieben diesen jungen Mann?« fragte er plötzlich.

»Er ist mein Cousin, mein Freund, mein Bruder!« rief Charles.

»Gut, dieser junge Mann ist bestimmt, von Ihrer Hand zu sterben.«

Der Offizier blieb einige Sekunden stumm und rollte wild die Augen umher, als habe er nicht verstanden; dann schlang er seinen Arm um den Hals Bertauts und sagte, ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an sein Herz ziehend, mit einer von Seufzern halb erstickten Stimme:

»Paul, mein Paul, mein einziger Freund – ich dein Mörder werden!«

»Man kann töten, ohne ein Mörder zu sein, mein Herr«, erwiderte der Fremde mit fast roher Heftigkeit.

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Der Henker ist kein Mörder, mein Herr – wissen Sie das nicht?«

Der Offizier sank vernichtet auf einen Stuhl, und während Paul Bertaut sich bemühte, ihn wieder zu sich zu bringen, während der Chevalier von Blignac, nachdem er statt des Pfropfens die Kartenspiele in die Hand genommen hatte, sie, diese alten Gegenstände seiner Verehrung, einzeln zerriss und nacheinander ins Feuer warf, verließ der Fremde den Saal, und man hörte seinen schweren Schritt, unter dem die Treppe zur oberen Etage knarrte.

Tagebücher der Henker von Paris

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