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Charles Sanson de Longval

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Charles Sanson war zu Abbeville im Jahre 1635 geboren. Als er noch in der Wiege lag, starben ihm schon Vater und Mutter.

Er hatte einen schon 1624 geborenen, also elf Jahre älteren Bruder, Jean Baptiste Sanson.

Ein Bruder der Mutter, Pierre Brossier, Herr von Limeux, nahm die beiden Waisen zu sich. Seine Güte und Zärtlichkeit entschädigten sie für die Traurigkeit ihrer Lage. Er hatte eine Tochter, die Colombe hieß; seine beiden Neffen behandelte er ganz wie diese, nicht allein, was die Sorgfalt, mit der er sie umgab, anbetraf, sondern auch mit seiner väterlichen Liebe.

Colombe Brossier und Charles Sanson waren beinahe von demselben Alter. Die süße Kameradschaft der Kinder wurde durch die Bande des Blutes noch fester geschlossen und stellte gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen her.

Jean Baptiste stand durch sein Alter seiner Cousine und seinem Bruder ferner. Sein Onkel hatte ihn für den Gerichtsstand bestimmt; das Studium ersetzte ihm also schon frühzeitig die Kinderspiele; er begann die Tiefen des Rechts zu ergründen, als die anderen beiden fast noch stammelten und ihre ersten Zärtlichkeitsbezeigungen austauschten.

Diese Zuneigung wuchs mit ihnen, aber es kam der Tag, an dem sie begriffen, dass sie sich einen süßeren Namen geben müssten als den von Bruder und Schwester.

Ihre Freundschaft war Liebe geworden.

Diese Liebe hatten weder Pierre Brossier noch Jean Baptiste entstehen sehen; keiner von ihnen dachte daran, dass sie zur Leidenschaft geworden sei.

Für sie waren Colombe und Charles noch immer Kinder; sie beurteilten die Gefühle, welche die beiden jungen Leute füreinander kundgaben, nur nach deren Alter.

Indessen kündigte Pierre Brossier eines Sonntags nach dem immer etwas feierlichen Mahle, das zwischen der Messe und der Vesper stattfand, seiner Tochter an, dass er tags zuvor für Jean Baptiste die Stelle eines Rates beim Landgerichte zu Abbeville erhalten habe.

Colombe und Charles wollten den neuen Rat beglückwünschen, aber Pierre Brossier gab ihnen ein Zeichen, dass er noch nicht zu Ende sei, und fügte hinzu, es scheine ihm gut, dass Jean Baptiste sich verheirate, ehe er sein Amt anträte.

Ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, warfen sich die beiden jungen Leute den angstvollen Blick zweier armen Gazellen zu, die das Blei des Jägers gleichzeitig tödlich getroffen hat; eine düstere Ahnung erfasste sie, und sie zitterten, den Beschluss des Greises zu hören; die Pausen, die dieser zwischen allen seinen Worten machte, schienen ihnen ebenso viel Jahrhunderte.

Pierre Brossier hatte kaum geendet, so stand das junge Mädchen auf, schützte ein plötzliches Unwohlsein vor und floh in ihre Kammer, wo sie ihren Tränen, die sie im ersten Augenblick zu ersticken gedroht hatten, freien Lauf ließ. Der Vater setzte dieses plötzliche Verschwinden auf Rechnung ihrer tiefen Bewegung, die bei einem so unschuldigen Kinde, das zum ersten Male das Wort Hochzeit aussprechen hört, sehr natürlich war.

Einige Worte, die Charles mit Colombe wechseln konnte, und das Fieber, das die ganze Nacht hindurch das Blut des Jünglings in Wallung setzte, gaben ihm einen Teil seiner Energie zurück.

Am folgenden Morgen harrte er ungeduldig auf die Stunde, zu der sein Bruder gewöhnlich ausging, und suchte dann seinen Onkel auf, der sein Frühstück an dem Kamin im niedrigen Saale einnahm, in welchem man auch zu Mittag speiste. Er warf sich dem edlen Manne zu Füßen und gestand ihm mit einem Ausdrucke, der einen Stein gerührt haben würde, die Liebe zu seiner Cousine; er beschwor ihn, die nicht zu trennen, die Gott so auffällig füreinander bestimmt habe.

Während Charles sprach, goss Pierre Brossier sein braunes Bier aus der Zinnkanne in seine Tasse und trank es in kleinen Zügen.

Er hatte eben eine neue Tasse ausgetrunken, als er plötzlich den ihn stets charakterisierenden Ernst verlor und so laut und heftig zu lachen begann, dass er sich verschluckte. Auf dieses Lachen folgte ein starker Husten, durch den noch immer die Heiterkeit hervorbrach, der aber auch schmerzlich genug sein musste, um dem alten Manne ein ängstliches Schlucken zu verursachen.

Charles war ganz betroffen.

Aber seine Gefühle waren zu leidenschaftlich, um lange Zeit unterdrückt werden zu können. Er begann von neuem mit seinen Klagen und suchte seinen Onkel dadurch zu rühren, dass er ihm bemerklich machte, welche Folgen das Unglück, das sich vorbereitete, haben könne. Er berief sich auf das Andenken der viel geliebten Schwester des Greises, er rief ihren Schatten an, er möge mit ihm nicht allein für das Glück, sondern auch für das Leben seines Kindes bitten.

Der Herr von Limeux stellte das Altersrecht ebenso hoch, als es nur ein Sire von Concy, wenn es damals noch solche gegeben haben würde, hätte treiben können.

Er war kein schlechter Mensch, aber er hatte die Leidenschaft niemals gekannt und fand es ganz logisch, zu leugnen, was er selbst nicht kannte. Für ihn hatte das Leben ein gewisses Programm, das alle Zufälle von Wichtigkeit im voraus berechnete; er war fest überzeugt, dass es nur Gott allein zustehe, etwas daran zu ändern.

Charles' Dringen auf ihn verletzte seine Gefühle; er hörte auf zu lachen und sprach zu seinem Neffen mit einer Strenge, an die er ihn nicht gewöhnt hatte. Er sagte ihm, dass man in seinem Alter und in seiner Lage daran denken müsse, sich eine Existenz dadurch zu begründen, dass man dem Könige diene, und nicht, sich zu bereichern, indem man eine Frau nähme. Er setzte hinzu, dass, wenn er auch nicht beschlossen hätte, seine Tochter an den ältesten seiner Neffen zu verheiraten, an den, welchen die Vorsehung bestimmt habe, sein Geschlecht fortzuführen, nichts in der Welt ihn vermögen könne, jene einem Kadetten zu geben. Er warf ihm auf harte Weise seine Undankbarkeit vor.

Charles erhob sich schwankend und ging gesenkten Hauptes aus dem Saale.

Hinter der Tür des Korridors erblickte er eine weibliche Gestalt, die auf den Steinen saß.

Es war Colombe, welche die Unterhaltung ihres Vaters und dessen, den sie liebte, belauscht hatte und jetzt, das Gesicht in ihre Hände verbergend, bitterlich weinte.

Als sie den Schritt ihres Freundes hörte, erhob sie den Kopf nicht; Charles ging, ganz seiner Verzweiflung hingegeben, schweigend an ihr vorüber.

Beide hatten begriffen, dass für sie alles in dieser Welt zu Ende sei.

Der junge Mann verließ sogleich das Asyl seiner Kindheit; er floh zu einem Verwandten, der in Amiens wohnte, und ging von da nach Paris. Aber in Paris befand er sich noch in gar zu großer Nähe Colombes.

Als der Tag, der für die Hochzeit Jean Baptistes und Colombes festgesetzt war, näher herankam, fürchtete er, in dem Kampfe zwischen Liebe und Pflicht den Verstand zu verlieren.

In einem dieser niederdrückenden Augenblicke, die der Krise, in der sich seine Verzweiflung zum Paroxysmus gesteigert hatte, folgten, ergriff ihn Furcht.

Er beschloss, bis an das Ende der Welt zu gehen, um sich der Verführung zu entziehen, gegen die ihn der Gedanke, dass Colombe einem anderen angehöre, so schwach machte.

Er glaubte, das Gespenst, das ihn weder Tag noch Nacht verließ, würde verschwinden, wenn er die Luft nicht mehr atmete, die sie atmete, wenn er nicht mehr Wesen sähe, die ihn an ihre Züge erinnerten, nicht mehr die klangvolle Sprache hörte, die sie redete; er glaubte, dass die Entfernung auch Vergessenheit mit sich bringe und dass er jenseits der Meere sein Herz wiederfinden werde, das er ihr streitig machen konnte.

Er beschloss also, sich einzuschiffen.

Als er seinen Namen genannt hatte, nahm ihn der Großadmiral von Frankreich unter die Zahl der Flaggengarden Seiner Majestät Marine auf; er reiste auf der Stelle nach Rochefort, bat um den Befehl zur Einschiffung und ging wenige Tage nach seiner Ankunft in dieser Stadt nach Kanada unter Segel. In Quebeck fand er eine Schwester seines Vaters wieder, deren Haus sich ihm öffnete.

Aber weder die unwiderstehlichen Zerstreuungen, welche die Neue Welt einer so frischen Einbildungskraft darbot, noch der herzliche Empfang, den er bei seiner Tante fand, noch die Freundschaft, die ihm sein Cousin Paul Bertaut mit dem naiven Vertrauen seines jugendlichen Alters zutrug, konnten in dem traurigen Zustande seines Herzens eine Änderung hervorbringen.

Als er zum zweiten Male nach Toulon zurückkehrte, fand er dort einen Brief, der ihn schon erwartet hatte.

Dieser Brief war von Colombe, und Colombe rief ihn unverzüglich zu sich.

Er ließ sich kaum die Zeit, Urlaub zu nehmen, und reiste ab. Während dieser Reise wurde er von den verschiedensten Vermutungen beunruhigt.

Colombes Brief war kurz; er konnte zu der Annahme berechtigen, dass sie ein großes Unglück betroffen habe; sie sprach darin gar nicht von seinem Bruder.

War Jean Baptiste tot?

Eine Sekunde der Überlegung reichte hin, dieses blendende Zauberbild zu zerstören.

Sollte er sie auch als Witwe finden, sollte er sie auch frei finden, diese für ihn in der Welt allein geheiligte Frau – er hatte das Recht verloren, nach ihrer Hand zu streben, und er dachte mit Schrecken daran, dass, nachdem er die Eifersucht auf einen Bruder kennengelernt habe, er vielleicht auch noch die auf einen Fremden werde ertragen lernen müssen.

Man brauchte damals beinahe fünf Wochen, um von Toulon nach Abbeville zu kommen. Charles reiste Tag und Nacht und legte den Weg in zwölf Tagen zurück.

Sobald er am Horizonte den Glockenturm erblickte, der in den Strahlen der untergehenden Sonne glänzte, und das rote Ziegeldach, aus dem er sich erhob, stieg er vom Pferde und warf sich auf die Knie.

Er wollte beten, aber er fand kein Wort, um Gott zu danken.

Sein Herz schlug mit solcher Heftigkeit, dass er glaubte, es werde ihm die Brust sprengen, ehe er die wenigen Schritte zurückgelegt hätte, die ihn noch von Colombe trennten.

Als er um eine Straßenecke bog, sah er das Haus Pierre Brossiers mit seinem spitzen Dache, seinen gotischen Fenstern und seiner weißen, von schwarzen Balken durchzogenen Fassade vor sich.

Sein Auge überflog alle Öffnungen. Sollte Colombe ihn nicht angstvoll an der Tür erwarten?

Als er näher kam, wurde sein Herz bedrückt. Dieses Haus, das ehemals ganz mit der ernsten, aber ruhigen und reinen Physiognomie seines Besitzers harmonierte, hatte einen finsteren und traurigen Anblick bekommen.

Die Mauern, welche man früher so sorglich jedes Jahr übertünchte, hatten lange Risse und zeigten hier und da weite Spalten. Moos bedeckte das Dach, eine Menge von Scheiben fehlte in ihren Bleirahmen, und auf der Schwelle wuchs dickes Gras zwischen den Steinen.

Der junge Seemann hob mit zitternder Hand den schweren Hammer an der Tür. Die wurmstichigen Dielen des Korridors erzitterten drinnen, aber niemand kam, keiner antwortete. Alles schien im Innern in so festem Schlummer zu liegen, wie man ihn in den Totenhallen schläft. Ein Nachbar trat an ihn heran, erkannte ihn und sagte ihm, dass die Tochter und der Schwiegersohn Pierre Brossiers nicht mehr ihr Haus auf dem Platze Saint-Jean bewohnten, sondern seit einem Jahre in der Vorstadt von Amiens.

Charles dachte nicht daran, sich zu bedanken; er dachte nur daran dass er soeben an dieser heiß geliebten Colombe so dicht vorübergegangen sei und nichts ihm zugerufen habe: »Hier ist sie!«

Gesenkten Hauptes trat er den Rückweg an.

Man zeigte ihm die neue Wohnung seines Bruders.

Das Äußere derselben war bescheiden, fast ärmlich, und Charles erriet, auf welches Unglück der Brief Colombes ihn hatte vorbereiten wollen.

Er klopfte; eine Stimme, die ihm Schauer einflößte, rief »Herein!« Aber er blieb unbeweglich wie eine Statue von Stein vor der Tür stehen.

Dieses Glück des Wiedersehens, das drei Jahre lang der durch jeden seiner Seufzer ausgedrückte höchste Wunsch gewesen war, erregte in ihm jetzt ein Gefühl, das dem Schrecken glich.

Man hörte drinnen ein Geräusch von Schritten, die über den Flur streiften, die Tür drehte sich leise in ihren Angeln, und eine Frauengestalt zeigte sich in dem Halbdunkel. Diese Frau stieß einen lauten Schrei aus und sank in Charles Arme.

Es war Colombe, ein wenig blass, aber immer noch reizend. Sie war es, die er ebenso zärtlich wiederfand wie damals, als ihr Cousin der einzige Gegenstand ihrer Zärtlichkeit gewesen zu sein schien.

Die Gedanken der jungen Frau gingen von der Gegenwart ohne Zweifel wieder auf die Vergangenheit über, denn nachdem sie sich rücksichtslos dem Zuge überlassen hatte, der sie in Charles' Arme trieb, zog sie sich plötzlich schnell zurück und strengte sich an, sich der Umstrickung, die sie an dem Herzen ihres Freundes festhielt, zu entziehen.

Über und über errötet, ergriff sie die Hand des Seemanns, zog ihn in das Haus und blieb vor einem Manne stehen, der ausgestreckt in einem großen Lehnsessel zu schlummern schien.

Das Gesicht dieses Mannes war von so tiefen, so zahlreichen Narben gefurcht, dass sie es entstellten. Sowohl seine Haltung als diese Male deuteten auf erst neue und heftige Leiden; als er die Augenlider aufschlug, zeigte er zwei starre, glanzlose und schrecklich anzuschauende Augäpfel.

Charles vermochte in diesem Gespenste seines Bruders kaum Jean Baptiste wiederzuerkennen.

Er blickte auf Colombe; ganz niedergebeugt weinte sie wenige Schritte von ihm entfernt.

Nun zweifelte er nicht mehr; von herzbrechender Verzweiflung hingerissen, stürzte er sich in die Arme seines Jugendgefährten, bedeckte mit Küssen und Tränen die Spuren der grausamen Wunden und murmelte mit tonloser Stimme unverständliche Worte, unter denen man die Bitte um Verzeihung vernahm.

Vielleicht erschienen ihm in diesem Augenblicke die Gedanken, die seine Seele seit drei Jahren bewegten, als Verbrechen.

Als endlich alle drei ein wenig Ruhe wiedergefunden hatten, setzten sich Charles und Colombe neben Jean Baptiste, und dieser erzählte nun seine traurige Geschichte.

Sechs Monate nach der Abreise Charles' war Pierre Brossier gestorben, und es schien, als habe dieses erste Unglück allen anderen Tür und Tor geöffnet.

Das Lehen von Limeux, welches das ganze Vermögen Colombes ausmachte, wurde durch den hohen Herrn, der es zu vergeben hatte, zurückgefordert, wobei er sich auf ein altes Gesetz wegen der Lebensdauer des Lehnsträgers berief.

Die Besitztitel Pierre Brossiers waren nicht ganz in der Regel; aber auf dem Boden der Schikane angegriffen, nahm der Gerichtsrat den Kampf mit derselben nichtachtend auf, wie es der Mann vom Schwerte getan haben würde, wo es sich darum handelte, in den Schranken zu kämpfen. Er hatte plädiert, aber ganz gegen seine Erwartung den Prozess verloren, und nun hatte man ihm nicht allein das Lehen von Limeux genommen, sondern er hatte auch das kleine Haus auf dem Platze verkaufen müssen, um die Gerichtskosten bezahlen zu können.

Einige Zeit nach Brossiers Tode setzte der Bankerott eines seiner Freunde, eines Leinwandhändlers zu Amiens, dem Jean Baptiste Geld anvertraut hatte, das Vermögen dieses letzteren auf eine einzige Besitzung herab, deren Einkünfte kaum hinreichten, sein Leben zu fristen.

Unter dem Eindrucke dieser Unglücksfälle kehrten alte Nervenzufälle wieder, die ihn in seiner Kindheit heimgesucht hatten, von denen er sich aber geheilt glaubte.

Als seine Frau eines Tages hinausging und ihn am Kamine sitzen ließ, bekam er einen furchtbaren Anfall von Epilepsie; er fiel von seinem Stuhle so unglücklich in den Kamin, dass, als die auf das Geräusch herbeieilende Magd ihn aufhob, sein Gesicht nicht nur von den schrecklichsten Brandwunden, deren Spuren man jetzt noch sah, bedeckt, sondern dass auch die Sehorgane zerstört waren: er war blind.

Damals verkaufte er sein Amt und zog sich mit seiner Frau in dieses kleine Haus der Vorstadt zurück.

Als Jean Baptiste seine traurige Geschichte erzählt hatte, erhob er in lebhafter Bewegung die Zärtlichkeit und Ergebenheit Colombes, durch deren Sorgfalt allein, wie er sagte, er noch lebe.

Charles sah die junge Frau an; sie war sehr bleich geworden, vermied, die Augen aufzuschlagen, und er glaubte zu bemerken, dass ihre Hand, die sich mit einer Stickerei beschäftigte, leicht zitterte.

Er näherte sich ihr und sagte mit möglichst fester Stimme, indem er auf das erste Wort einen besonderen Nachdruck legte:

»Meine Schwester, willst du, dass wir fortan zwei seien, über ihn zu wachen?«

Ein stolzes Lächeln trat auf Colombes Lippen.

»Ich erwartete nichts weniger von dir, mein Bruder,« antwortete sie, »und weil ich es so wünschte, rief ich dich eben.«

Alle beide glaubten zuversichtlich, dass die Wechselung eines Namens allein hinreiche, jede Spur eines Gefühles auszulöschen, das so lange Zeit hindurch vollständig ihre Herzen beherrscht hatte.

Charles verzichtete also auf seine Karriere. Er brachte die Einnahme von seinem Lehen Longval in das Haus, dadurch trug er eine Wohlhabenheit hinein, deren der arme Kranke so nötig bedurfte. Er wetteiferte mit Colombe an Sorgfalt um seinen Bruder, und seine Plaudereien, die Erzählungen von seinen Reisen trugen nicht wenig dazu bei, die schreckliche Monotonie der Existenz des Blinden zu mildern.

Diese Hingebung flößte Jean Baptiste eine Erkenntlichkeit ein, die zu beweisen er keine Gelegenheit vorübergehen ließ. Wenn er mit seiner Frau allein war, so gaben der edle Charakter, das erhabene Gefühl seines Charles den Stoff zur Unterhaltung; wenn er mit ihm allein war, so gefiel er sich darin, Colombe mit den Engeln des guten Gottes zu vergleichen.

Wahrscheinlich hatte Pierre Brossier Jean Baptiste nicht von der wirklichen Ursache der Abreise Charles' in Kenntnis gesetzt, oder wenn er sie ihm mitgeteilt hatte, so zweifelte der Exrat, der die Lebensansichten seines Pflegevaters teilte, nicht, dass diese Kinderei keine Folgen gehabt habe, denn unaufhörlich bat er Charles, Colombe dadurch zu zerstreuen, dass er sie spazierenführe oder zur Messe begleite; er führte auf jede Weise Gelegenheiten herbei, dass sie sich einander nähern konnten.

Colombe ihrerseits war zu keusch, um die Gefahr zu ahnen, der sie sich aussetzte. Weit entfernt, diese gefährlichen Zusammenkünfte unter vier Augen zu fliehen, schien sie niemals glücklicher, als wenn sie mit ihrem Schwager allein war.

Indessen bemerkte sie wohl, dass der ehemalige Seemann traurig und träumerisch wurde. Sie beunruhigte sich darüber und sprach davon zu ihrem Gemahle.

Jean Baptiste seufzte tief. Mit dem Egoismus, der allen menschlichen Leiden anhängt, beschäftigte er sich vor allem mit dem, was seine Gesundheit anging. Charles' Gegenwart hatte seinen Zustand derartig verbessert, dass er nicht ohne Schrecken daran dachte, sein Bruder könne wieder abreisen. Er erwiderte nur, es sei gar nicht außergewöhnlich, dass ein junger Offizier, der gewöhnt sei, in die Welt zu kommen, sich in dem traurigsten Hause einer kleinen Landstadt langweile; sie möge daher alles, was in ihren Kräften stehe, tun, damit ihn diese Langeweile nicht bestimme, sie zu verlassen.

An demselben Abende schlug Colombe ihrem Schwager einen kleinen Ausflug auf das Land vor; Jean Baptiste, der einen schlechten Morgen gehabt hatte, schützte das Bedürfnis, zu schlafen vor und vereinigte seine Bitten mit denen seiner Frau. Sie schlugen den Weg ein, auf dem Charles eingetroffen war, und verfolgten nachher einen schmalen Fußsteig, der zwischen Kornfeldern fortführte.

Charles und Colombe gingen Seite an Seite. Der Arm der jungen Frau ruhte auf dem ihres Freundes; in einer unschuldsvollen Hingebung lehnte sie ihren Kopf an die Schulter ihres Begleiters, und ihre langen wallenden Haare, die im Winde wehten, berührten mit ihren seidenen Spitzen sein Gesicht.

Colombe erschien ebenso ruhig wie die sie umgebende Natur zu dieser Stunde, mit der für sie die Ruhe begann. Sie schien nur daran zu denken, wie sich die Wolken auf der Stirn ihres Bruders zerstreuen ließen, und um dahin zu gelangen, hatte sie nichts besseres gefunden, als ihn an die schönsten Szenen ihrer kindlichen Zärtlichkeit zu erinnern.

Aber Charles wurde immer düsterer, seine Aufregung sogar sonderbar. Bald ging er schnell, als wolle er seine Gefährtin in eine noch viel größere Einsamkeit, als diese hier, mit sich ziehen, bald blieb er stehen; er schien umkehren zu wollen, und Colombe fühlte, dass er zitterte.

»Charles,« sagte sie zu ihm, »ist es wahr, wie Jean Baptiste behauptet, dass du dich wieder nach deinem Abenteurerleben sehnst?«

Charles antwortete nicht.

»Charles,« fuhr sie fort, »bist du denn nicht mehr glücklich bei deinem Bruder, der dir so teuer ist, und deiner Schwester –«

Das letzte Wort erstarb auf den Lippen Colombes, sie wagte nicht fortzufahren; Charles verharrte in seinem Schweigen. Plötzlich durchzuckte eine Ahnung von dem, was in der Seele ihres Jugendgespielen vorging, Colombe; sie zitterte, als wäre sie aus einem Traume erwacht.

»Charles, Charles,« murmelte sie mit vor Bewegung zitternder Stimme. »Gott hat gewollt, dass wir für immer Bruder und Schwester bleiben. Ehren wir seinen Willen, mein Freund, und haben wir keinen Seufzer der Sehnsucht mehr für die Träume unserer Kindheit. Sollte denn die heilige Zuneigung, die uns vereinigt, nicht zu unserem Glücke hinreichen? Möchtest du dich undankbar gegen die Vorsehung zeigen, die mir erlaubt hat, dich noch ohne Gewissensbisse lieben zu dürfen?«

Während Colombe so sprach, hatte sie das Haupt erhoben, um ihrem Gefährten ihre Stirn zu bieten. Dieser hatte sich zu ihr hinabgeneigt; statt der Stirn der jungen Frau aber waren es ihre Lippen, die sein Mund fand.

Eine Sekunde lang blieben die beiden in eine Verzückung versenkt, welche sie Himmel und Erde vergessen ließ.

Charles kam zuerst wieder zu sich. Er erhob die Faust gegen das Himmelsgewölbe, stieß eine Gotteslästerung aus und entfloh dann, außer sich, mitten durch die Felder.

Colombe kehrte allein nach Hause zurück.

Am nächsten Tage empfing Jean Baptiste einen Brief von seinem Bruder, worin dieser ihm seinen Entschluß ankündigte, Abbeville zu verlassen, und ihn bat, ihm zu verzeihen, wenn er nicht den Mut gehabt habe, ihm dies selbst zu sagen.

Einige Zeit später kaufte er eine Leutnantsstelle im Regimente de la Boissière.

Er hatte nicht wieder zur See gehen wollen, denn er begriff wohl, dass, wenn die Pflicht seine Entfernung gefordert hatte, sie ihm nichtsdestoweniger doch gebot, über die geliebten Wesen zu wachen, deren einzige Stütze er blieb.

Jean Baptiste nannte seinen Bruder undankbar. Was Colombe anbetraf, so sah man sie seit diesem Tage nie wieder lachen.

Tagebücher der Henker von Paris

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