Читать книгу Parkour - Herbert Lipsky - Страница 3

Parkour 1

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Lukas Bernard saß schläfrig im Streifenwagen. Sein Kollege war zu einem Würstelstand gegangen, um etwas Essbares zu holen. Es war kurz nach Mitternacht, und es lagen noch einige Stunden Dienst vor ihnen. Bisher war es ungewöhnlich ruhig gewesen. Als Bucher zurückkam, kauten beide schweigend an ihren Würsten. Nach den Jahren in Paris hatte Lukas einige Zeit gebraucht, um an den Burenwürsten Geschmack zu finden. Und wenn die Wiener von der Käsekrainer als der Eitrigen sprachen, ekelte es ihn immer noch. Eine barbarische Speise und ein noch schrecklicherer Name. Jetzt, nach über einem Jahr Polizeidienst, hatte er sich neben den Burenwürsten auch an vieles anderes gewöhnt. An die Betrunkenen, die Verkehrsunfälle, die Zwiste zwischen den Ehepaaren, zu denen sie geholt wurden und wo sie zum Dank für ihr Einschreiten von den Frauen meist beschimpft wurden. Die jungen Drogensüchtigen, die sie im Rinnstein auflasen, die Beschwerden über die zu lauten Nachbarn. Die vielen Schlägereien, bei denen man immer wieder einmal selbst was abbekam. Eigentlich hatte Lukas genug von der Streife, er wollte sich für die WEGA bewerben, aber es würde noch eine Zeit lang dauern, bis das möglich war. Er hatte die Bedingungen für die Bewerbung durchgelesen. Vor der Aufnahmeprüfung hatte er keine Angst. Er hatte sich im letzten Jahr oft gefragt, ob es die richtige Wahl gewesen war, Polizist zu werden. Er wusste, dass sein Vater von ihm eigentlich erwartet hatte, dass er nach seinem Jusstudium die Anwaltslaufbahn einschlagen würde, aber es waren keine Einwände gekommen, als er ihm seinen Berufswunsch mitgeteilt hatte. Lukas dachte sich, dass er die Erfahrungen, die er hier machte, sehr wohl in einem zukünftigen Rechtsberuf brauchen könne.

Sein Kollege, Inspektor Karl Bucher, war älter als er, über dreißig, und er war dabei, sich zu einem zynischen und abgebrühten Polizisten zu entwickeln, der niemandem mehr vertraute und allen gegenüber misstrauisch war. Seine berufliche Erfahrung war bereits beträchtlich, und Lukas gestand sich ein, viel von ihm gelernt zu haben. Ihr Verhältnis war gut, er sprach mit ihm auch über persönliche Dinge. Überhaupt war die Kameradschaft unter den Kollegen groß. Man traf sich auch außerhalb des Dienstes.

Ein Ruf der Zentrale erreichte sie: „Welche Position habt ihr?“

Lukas gab ihre Koordinaten durch. „Wir fahren gerade los, den Donaukanal entlang.“

„Fahrt Richtung Norden, ein Notfall in der Gartenstraße 52, aber schaltet kein Blaulicht ein. Ihr seid von allen verfügbaren Wagen am nächsten. Vorsicht, höchste Gefahrenstufe, schusssichere Westen anlegen.“

Lukas gab die Adresse in das GPS-System ein, und Bucher, der die Stadt wie seine Westentasche kannte, gab Gas. Wenige Minuten später waren sie am Zielort. Ein Auto parkte quer über die Straße. Eine Frau stand neben dem Fahrzeug und hob ihre Hand. Sie sprangen aus dem Wagen.

„Gruppeninspektorin Bauer, ich glaube, dass wir einen gefährlichen Kunden gestellt haben, im dritten Stock, in der Wohnung seiner Freundin. Er hat sich vor zwei Tagen einer Festnahme entzogen und einen Kollegen angeschossen. Ein gewisser Kabakow, Tschetschene. Er ahnt nicht, dass wir hier sind. Mein Kollege überwacht den Hof. Allein kriegen wir ihn nicht, ich habe schon die WEGA alarmiert, aber die kommen gerade von einem Einsatz zurück, es wird sicher noch fünzehn Minuten dauern.“

Sie zogen sich gerade ihre kugelsicheren Westen an, als ein Streifenwagen mit lautem Folgetonhorn und Blaulicht einbog.

„Diese Idioten“, stieß die Inspektorin hervor.

Im dritten Stockwerk wurde ein Fenster hell, kurz wurde die Gestalt eines Mannes sichtbar, verschwand aber schnell wieder. Er tauchte wieder auf, öffnete das Fenster, neben sich eine Frau, die er am Hals gepackt hatte, in der anderen Hand eine Pistole.

„Wenn ihr mich nicht gehen lässt, dann lege ich sie um, und das Kind auch.“ Er hob ein kleines Mädchen in die Höhe. „Ich verlange freien Abzug.“

Ein weiterer Streifenwagen bog mit Sirenengeheul um die Ecke. Der Mann schien nervös zu werden, gab einen Schuss in die Luft ab.

Bauer verhielt sich ruhig, gab nur Bucher und Lukas die Order, ihren Kollegen an der Rückseite des Gebäudes bei der Absicherung des Hofes zu unterstützen. Lukas holte sich vom Rücksitz des Streifenwagens eine Sporttasche, zog sich Sportschuhe an und setzte sich eine Mütze auf.

„Was soll das?“, fragte die Inspektorin.

„Damit kann ich schneller laufen.“

„Sei vorsichtig und pass auf, dass dein hübsches Gesicht nichts abbekommt. Wie ich schon sagte: Der Bursche ist gefährlich, er hat schon mehrere Menschen auf dem Gewissen. Und er hat meinen Partner angeschossen.“

Die zwei Streifenpolizisten begaben sich durch den Hausflur in den Hof, wo der Kollege sie schon erwartete, die Inspektorin hatte ihn per Mobiltelefon instruiert, dass er Verstärkung bekommen würde. Es war ein typischer Innenhof wie viele in Wien, umgeben von unterschiedlich hohen Häusern mit kleinen Balkonen. Lukas betrachtete alles genau. Die meisten Balkone hatten eine Umrandung aus Beton, die Abstände zwischen den Stockwerken waren beträchtlich. Der Balkon der Wohnung, in der sich der Täter befand, war nicht vom unteren aus zu erreichen. Die entsprechenden Balkone des Nachbarhauses lagen eine Spur höher, dazwischen Stiegenhausfenster. Hier war seiner Meinung nach ein Aufstieg möglich.

„Es wäre ein Kinderspiel, auf den Balkon zu kommen.“

„Du spinnst.“

„Ich brauche dreißig Sekunden dazu.“

„Du bist aber nicht Spiderman.“

„Ja, doch.“

Der Kollege sprach mit der Einsatzleiterin.

„Du kannst es versuchen, aber bleib am Balkon des Nachbarhauses, du darfst nicht allein in die Wohnung. Warte, bis die WEGA kommt.“

Frau Gruppeninspektor Bauer hatte die Bewohner der umliegenden Häuser mittlerweile per Lautsprecher ermahnt, in ihren Wohnungen zu bleiben. Nachdem zunächst hinter vielen Fenstern Licht gebrannt hatte, war jetzt alles finster. Auch der Innenhof lag wieder im Dunkeln. Man sah zwar niemanden, konnte aber annehmen, dass hinter den Fenstern neugierige Augen in die Dunkelheit starrten.

Lukas legte seine Ausrüstung bis auf die Pistole ab, zog sich die Haube ins Gesicht und streifte sich dünne Lederhandschuhe über. Dann nahm er Anlauf, sprang mit einer flüssigen Bewegung die Mauer an, katapultierte sich nach oben und zog sich mit den Händen auf den ersten Balkon. Er sprang erneut, erreichte das Geländer des Balkons am Nebenhaus einen Stock höher, von dort zurück auf den nächsten Balkon im zweiten Geschoß. Es vergingen kaum dreißig Sekunden, bis er im dritten Stock des Nachbarhauses war und sich hinter der Betonumrandung duckte. Nur wenig später öffnete sich die Balkontür der belagerten Wohnung, Kabakow trat heraus und spähte vorsichtig ins Dunkel der Höfe und Gärten. Aus der Wohnung hörte man die hysterische Stimme einer Frau. Der Verbrecher zog sich wieder zurück. Weitere Schreie ertönten, und dann ein dumpfes Geräusch. In der folgenden Stille hörte man nur das leise Weinen eines Kindes. Mit einem mächtigen Satz sprang Lukas auf den niederer gelegenen Balkon der Wohnung und kam geräuschlos wie eine Katze auf. Er griff nach seiner Glock und entsicherte sie. Kabakow hatte die Balkontür offen gelassen. Im Raum dahinter war es finster. Lukas ging vorsichtig hinein, die entsicherte Pistole in der Hand, konnte erkennen, dass er sich in einer Küche befand. Er stieg über eine bewusstlose Frau, hörte sie leise stöhnen, neben ihr am Boden das wimmernde Kind. Lautlos schlich er in den Vorraum, spähte durch eine angelehnte Tür, aus der ein Lichtschein drang. Kabakow stand in der Mitte des Zimmers und telefonierte. In der rechten Hand hielt er eine Pistole.

Ohne zu zögern richtete Lukas seine Waffe auf den rechten Oberschenkel des Mannes und drückte zweimal ab. Die Wucht der Schüsse warf den Verbrecher zu Boden, er blieb bewegungslos liegen. Lukas stürzte ins Zimmer, Kabakow sah ihn mit leeren, verwunderten Augen an. Blitzschnell ergriff Lukas die Pistole, die neben ihm lag, und feuerte damit zwei Schüsse in Richtung Tür ab. Er tastete den Mann nach weiteren Waffen ab und legte ihm Handschellen an. Die Pistole legte er für ihn unerreichbar auf einen Tisch. Dann öffnete er das Fenster und rief hinunter: „Ich hab ihn, ihr könnt kommen. Ich mach euch die Tür auf.“

Danach ging er zu der bewusstlosen Frau, fühlte ihren Halspuls und legte sie in eine seitliche Position. Das schreiende Mädchen nahm er in seine Arme.

Kaum hatte er das Kind aufgenommen, stürmten schreckenerregende vermummte Gestalten mit ihren Waffen im Anschlag in die Wohnung herein. Er kannte eine derartige Situation nur aus diversen Filmen, live hatte er die WEGA noch nie in Aktion gesehen, und war froh, dass seine kugelsichere Weste die Aufschrift Polizei trug. Auch Frau Gruppeninspektor Bauer betrat die Wohnung. Sie nahm ihm das Mädchen ab.

„Na, mein Kindchen, ist dir etwas passiert?“

Zu Lukas gewandt fragte sie barsch: „Was war da los? Erzähl!“

Seine Erklärungen differierten etwas von der Wahrheit. Er sei am Nebenbalkon gewesen, das stimmte, dann habe er Schreie gehört, das stimmte auch noch. Dann sei er hinübergesprungen und habe vom Balkon aus gesehen, wie der Verbrecher die Frau misshandelt habe, er habe ihr mit der Pistole auf den Kopf geschlagen und sei ins Wohnzimmer verschwunden. Er selbst sei durch die Küche gegangen und habe vom Vorraum aus den Kerl im Wohnzimmer stehen gesehen, dann habe er gerufen: „Achtung, Polizei, lassen Sie die Waffe fallen!“ Der Mann habe sofort auf ihn gefeuert, ihn aber wegen der Dunkelheit verfehlt. Erst darauf habe er geschossen und ihn am Oberschenkel erwischt. Die Frau, die bewusstlos war, habe er in Seitenlage gebracht. Dann habe er die Kollegen verständigt.

„Hast du seine Waffe berührt?“

„Selbstverständlich, ich habe sie dort auf den Tisch gelegt.“

Gruppeninspektorin Bauer übergab das Kind einer jungen Polizistin und ging mit Lukas auf den Balkon.

„Da bist du heraufgekommen?“

„Es war kein Problem. Ich bin ein Traceur.“

„Was ist das?“

„Ich betreibe Parkour und bin auch Free Runner. Das sind Sportarten.“

„Das erklärst du mir morgen, wenn wir das Protokoll schreiben. Auf alle Fälle war das sehr kaltblütig. Und wo hast du so schießen gelernt?“

„Ich schieße seit meiner Jugend. Mein Vater hat es mir beigebracht. Zum Parkour bin ich auch durch ihn gekommen. Parkour ist nicht nur eine Sportart, hier geht es um mehr, es gibt auch philosophische Ansätze, wie beim Zen-Buddhismus. Man gelangt dabei zu einer inneren Reife.“

„Du bist ein erstaunlicher junger Mann. Wir treffen uns morgen um vierzehn Uhr hier zu einer genauen Rekonstruktion der Geiselbefreiung. Denk genau nach, was du dann aussagst. Denn auf alle Fälle hast du meinen Befehl missachtet. Ihr könnt jetzt mit eurer Streife weitermachen.“

Lukas saß neben seinem Kollegen im Streifenwagen, es war bereits vier Uhr morgens.

„Lukas, ich bin ganz weg. Wie du da hinaufgeklettert bist, wirklich wie Spiderman.“

„Es war nicht schwer. Wenn du etwas über Parkour wissen willst, geh ins Internet, es gibt viele Filme darüber.“

„Und wie war das in der Wohnung?“

Lukas gab ihm die gleiche Version des Hergangs wie der Gruppeninspektorin.

„Wie geht es dir jetzt?“

„Ich bin müde, und mir zittern die Knie.“

„Dann schlaf ein wenig, ich werde an einer ruhigen Stelle parken.“

Der Rest der Nacht verlief ohne weitere Probleme. Sein Kollege sagte ihm, er werde den Bericht über Nacht schreiben. Lukas fuhr nach Hause, nahm eine Dusche und sank ins Bett.

Parkour

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