Читать книгу Parkour - Herbert Lipsky - Страница 4
Die Inspektorin
ОглавлениеSein Wecker riss ihn um zwölf Uhr mittags aus dem Schlaf. Erst nach einem starken Kaffee war er in der Lage, über seine Situation nachzudenken. Er hatte sich über den Befehl der Einsatzleiterin hinweggesetzt und war in die Wohnung eingedrungen. Auch seine weiteren Handlungen waren gegen alle Regeln der Ausbildung gewesen: allein vorgehen, schießen ohne Warnung und eine Verfälschung des Ablaufs durch die Abgabe von zwei Schüssen aus der Pistole des Verbrechers. Wenn das aufkäme, wäre seine Karriere bei der Polizei zu Ende, bevor sie begonnen hatte. Sein Opfer würde natürlich die Wahrheit sagen, es würde Aussage gegen Aussage stehen. Er war selbst erstaunt, wie er gehandelt hatte: eiskalt und abgebrüht. Seine Hand war beim Zielen ruhig gewesen, und die Schüsse aus der Pistole Kabakows hatte er überlegt abgegeben. Dabei hatte er zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Menschen geschossen. Dann fiel ihm das Handy ein. Der Mann hatte telefoniert! Wenn jemand auf die Uhr geschaut hatte, während die ersten Schüsse gefallen waren, und es mit der Zeit des Gesprächs verglich, war er dran. Aber es war alles so schnell gegangen, es konnte ihm nichts passieren. Er hatte eigentlich nicht auf den Balkon springen wollen, aber das hilflose Schreien der Frau hatte seine Reaktion ausgelöst. Verzweifelte Frauen – das war der Grund, weswegen er diesen Beruf gewählt hatte.
Er rief seinen Vater in Paris an und erzählte ihm die ganze Geschichte. Sein Vater war Franzose, Journalist. Er hatte sein ganzes Leben in Ländern verbracht, in denen Unruhen und Kriege Alltag waren, hatte aus erster Hand über Mord und Totschlag berichtet und war mehr als einmal in Gefahr gewesen. Er war in Gefängnissen gesessen, und im Nahen Osten hatte man ihn sogar einmal gefoltert.
Sein Vater riet ihm: „Bleib bei deiner Geschichte, man wird sie dir glauben. Du hast sehr umsichtig gehandelt. Ich finde es in Ordnung, dass du sofort abgedrückt hast. Ich habe neben mir Polizisten sterben gesehen, die Warnschüsse abgegeben haben. Apropos, wie geht es deiner Mutter?“
„Sie hat derzeit eine Gastprofessur in Deutschland. Wir haben vor zwei Tagen telefoniert. Es geht ihr gut.“
Sie plauderten noch ein wenig und verabschiedeten sich dann. Er hatte das Gefühl, sein Vater wollte ihm noch etwas sagen, tat es aber nicht. Lukas fühlte auch jetzt als Erwachsener noch immer das Bedürfnis, seinem Vater Rechenschaft über sein Handeln zu geben. Fast seine ganze Jugend hatte er bei ihm in Paris verbracht, eigentlich bei seiner Haushälterin, die für ihn sorgte, während sein Vater herumreiste. Nie hatte er gegen seinen Vater rebelliert, er war für ihn stets ein Freund gewesen. Seine Mutter, eine Wienerin, hatte er als Kind und Halbwüchsiger nur in den Ferien gesehen, die er mit ihr in Wien und am Attersee verbracht hatte, wo sie ein Haus besaß.
Bei Tageslicht schienen ihm die Ereignisse der letzten Nacht unwirklich. Die Kletterei war für ihn eine sportliche Angelegenheit gewesen, doch das Schreien der Frau hatte bei ihm eine Kette von Reaktionen ausgelöst, über die er keine Herrschaft gehabt hatte, sie waren automatisch abgelaufen. Hätte er den Kriminellen auch erschossen? Er war sich nicht sicher. Er war für ihn ein Ziel gewesen, wie auf dem Schießstand, wo man ihm beigebracht hatte, auf die Beine zu zielen. Nein, erschossen hätte er ihn nicht.
Um Punkt vierzehn Uhr traf er in der Gartenstraße ein. Vor dem Haus standen mehrere Polizeiautos. Er stieg in den dritten Stock hinauf. Außer der Gruppeninspektorin kannte er keine der Personen, die anwesend waren. Ältere Polizisten in Zivil mit ernsten Gesichtern. Er wurde aufgefordert, den Ablauf seiner Aktion zu schildern. Sein Bericht über die Klettertour und den Sprung auf den Balkon rief Erstaunen hervor. Ungläubig blickten alle in die Tiefe.
„Er betreibt die Sportart Parkour, da klettert man auf Gebäude und springt in die Tiefe. Er ist eine Art Fassadenkletterer“, erklärte Frau Gruppeninspektor Bauer.
„Ich habe gegen den Befehl gehandelt, aber als die Frau geschrien hat, war mein Impuls zu helfen so stark, dass ich etwas unternehmen musste. Ich sprang wie in Trance. Alles andere, die Schüsse waren Selbsterhaltung. Es ging alles so schnell.“
Lukas zeigte, wie er gelandet, wie er eingedrungen war, wo die Frau gelegen hatte und wo der Verbrecher gestanden war. Er habe ihn vorschriftsmäßig aufgefordert, die Hände zu heben, aber Kabakow habe sofort zu seiner Waffe gegriffen und geschossen.
„Haben Sie sich danach um den Verbrecher gekümmert?“
„Ich habe gesehen, dass er lebt, und habe ihn nach Waffen abgetastet. Sein Zustand hatte für mich keine Priorität.“
Er musste die Geschichte wiederholen, Fotos wurden gemacht, Winkel ausgemessen, und die Sachverständigen nickten. Er wollte schon gehen, als die Inspektorin zu ihm sagte: „Warten Sie unten auf mich, ich habe mit Ihnen noch eine Kleinigkeit zu besprechen.“
Er musste über zehn Minuten warten, bis sie endlich kam. Erst jetzt sah er, dass sie eine durchaus attraktive Frau war. Sie war etwa gleich groß wie er, hatte kurzes dunkelblondes Haar, ein breites Gesicht, schöne Zähne, volle Lippen und eine sportliche Figur. Gestern hatte sie eine Hose und eine Lederjacke angehabt, heute trug sie ein anliegendes schwarzes Kostüm, dessen Rock nur knapp bis zu den Knien reichte. Die Füße steckten in flachen schwarzen Schuhen, sie bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, wie große Raubkatzen sie haben. Mit hohen Absätzen würde sie ihn überragen. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, vielleicht fünfunddreißig.
„Du bist mit dem Auto da?“
Er bejahte und ging mit ihr zu seinem VW Golf.
„Wir müssen uns ein wenig besser kennenlernen. Es sind noch einige Dinge zu klären.“
Lukas schwieg.
„Wo wohnst du?“
„In Grinzing.“
„Das ist gut, glücklicherweise wohne ich in Neustift. Fahren wir zu dir. Du kannst mich nach unserem Gespräch bei mir absetzen.“
Lukas fuhr schweigend in den Norden der Stadt.
„Lukas Bernard, das ist doch kein österreichischer Name?“
„Mein Vater ist Franzose.“
„Ich habe deine Personalakte studiert. Sie ist noch sehr schmal.“
„Ich bin erst seit etwa einem Jahr bei der Polizei.“
„Warum willst du Polizist werden, du hast doch Jus studiert?“
„Darüber möchte ich nicht sprechen.“
„Gut, und warum bist du in Wien?“
„Meine Mutter ist Wienerin, ich habe auch hier studiert, übrigens lebe ich mit ihr zusammen.“
Sie fuhren durch Grinzing, Lukas blieb auf der Straße, die zum Kahlenberg führte, stehen. Er zeigte auf eine Jugendstilvilla, die hundert Meter entfernt in erhöhter Lage stand.
„Hier wohne ich. Kommen Sie mit hinauf?“
„Das ist eine herrliche Villa. Ich kenne sie vom Vorbeifahren, ich habe mich oft gefragt, welchem Millionär sie gehört.“
Er betätigte die Fernbedienung, das schmiedeeiserne Einfahrtstor sprang auf, und sie fuhren eine breite gekieste Auffahrt hinauf. Er sperrte eine große, mit Jugendstilornamenten verzierte Tür auf und betätigte die Knöpfe einer Alarmanlage. Sie befanden sich in einer riesigen Diele. Rechts führte eine Treppe ins Obergeschoß.
„Da oben wohne ich.“
Sie stiegen die breite Treppe hinauf. Er öffnete eine weitere Tür, ging in ein großes Wohnzimmer voraus und bat sie, auf einem großen geblümten Sofa Platz zu nehmen. Neugierig sah Lara sich um. Lukas war in die Küche gegangen und kam mit zwei Espressi zurück. Er stellte sie auf ein Tischchen und setzte sich zu ihr.
„Zunächst möchte ich einiges zum gestrigen Abend sagen. Den ganzen Hergang, so wie du ihn erzählst, den glaube ich dir nicht.“
Lukas sagte kein Wort.
„Ich glaube, dass du Kabakow sofort und ohne Warnung angeschossen hast. Er ist ein gefährlicher Bursche und wahrscheinlich ein so geübter Schütze, dass er dich nicht verfehlt hätte, oder zumindest wären seine Kugeln näher an der Stelle in der Wand eingeschlagen, wo du angeblich gestanden bist. Ich habe ein gutes Gehör, und mir schien, als ob es zwei Doppelschüsse gegeben hätte. Das war kein normaler Schusswechsel. Okay, du hast ihn nur verletzt, also wird es keinen Stunk geben. Er wird natürlich eine andere Version abgeben, und zwar die richtige. Ich werde im Protokoll deine Version unterstützen. Du hast sehr kaltblütig reagiert, auch im Verwischen deiner Spuren, das ist erstaunlich für dein Alter. Wenn du solche Dinge in Zukunft nicht mehr machst, hast du das Zeug, ein guter Polizist zu werden. Denn wir müssen uns immer im Rahmen des Legalen bewegen. Welche Karriere schwebt dir vor?“
„Ich denke daran, mich für die WEGA zu bewerben.“
„Die könnten dich gut gebrauchen. Weißt du etwas von mir?“
„Mein Kollege hat mir gesagt, dass Sie bei der Sitte arbeiten und knallhart sind. Auch dass Sie gute Beziehungen nach oben haben. Sie haben auch einen Spitznamen – die Russin.“
„Ich weiß, was man so alles spricht. Ich mach dir einen Vorschlag, den du dir überlegen solltest: Komm zu mir. Dieses Schwein von einem Zuhälter, das du angeschossen hast, hat vor ein paar Tagen einen Mitarbeiter von mir erwischt. Der fällt nun für längere Zeit aus. Ich könnte dich gut gebrauchen. Dafür werde ich deine Version unterstützen und auch sagen, dass ich dir erlaubt hätte, bei Gefahr in Verzug einzugreifen.“
„Ist das nicht Erpressung?“ Lukas lächelte. Sein Haar war wie immer etwas durcheinander, und eine Locke war ihm in die Stirn gefallen, er sah ein wenig wie ein Unschuldsengel aus.
„Du hast es faustdick hinter den Ohren, mein Süßer. Es ist eine große Chance für dich.“
„An die Sitte habe ich zwar nicht gedacht, aber alles ist besser als der normale Dienst in der Polizeiinspektion. Ich muss aber noch einen Monat bleiben. Trotzdem: Ich bedanke mich für Ihr Angebot und komme gerne, wenn es geht.“
„Wenn es klappt, dann kommst du nicht zur Sitte, sondern zu einer Sonderkommission, und das nur vorübergehend. Genaueres wirst du noch erfahren.“
Er stand auf, ging hinaus und kam mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück.
„Du hast die Flasche schon geöffnet, während du den Kaffee gemacht hast.“
„Ich schwöre Ihnen: Nur für mich, denn ich habe noch nichts gegessen und muss mir später noch etwas kochen. Sie wissen, wir Franzosen legen großen Wert auf das Essen und Trinken.“
„Was machen deine Eltern?“
„Vater ist Journalist, er lebt in Paris, und meine Mutter ist Professorin für Soziologie und arbeitet derzeit in Deutschland, ich bin gegenwärtig allein im Haus. Meine Eltern sind übrigens nicht verheiratet. Die Villa hat meine Mutter von ihrem Großvater geerbt.“
Er schenkte ein und hob sein Glas.
„Frau Gruppeninspektor, auf eine gute Zusammenarbeit.“
Sie nahm einen genießerischen Schluck und leckte sich danach wie eine Katze die Lippen. Dann nahm sie die Flasche und betrachtete das Etikett.
„So viel bin ich dir wert?“
Er lächelte entwaffnend.
„Wenn Sie heute noch nichts vorhaben, koche ich für Sie eine Kleinigkeit mit.“
Sie nahm ihr Telefon, stand auf, ging zu der Tür, die auf eine Terrasse führte, trat hinaus und führte ein längeres Gespräch. Als sie zurückkam, erleuchteten gerade die letzten Sonnenstrahlen das Zimmer und verliehen ihr eine Aura wie einer Sonnengöttin.
„Ich kann eine Zeit lang bleiben.“
Lukas begab sich in die Küche. Sie ging im Wohnzimmer herum, betrachtete die Bilder. Einige konnte sie zuordnen, Wiener Jugendstil, andere schienen aus Frankreich zu stammen. Die Teppiche waren erstklassig, antike Möbel standen neben modernen und funktionellen. Im nebenan liegenden Schlafzimmer sah sie ein großes, nicht gemachtes Bett. Das Badezimmer war blitzsauber. Nirgends gab es ein Anzeichen, dass hier ein weibliches Wesen wohnte.
Der Bursche bewohnt hier allein mehr als hundertzwanzig Quadratmeter, dachte sie sich. Es war die schönste Wohnung, in der sie jemals gewesen war, eine geglückte Mischung aus Alt und Modern. Seine Familie musste wohlhabend sein, auf alle Fälle hatte er einen guten Geschmack.
Sie ging in die Küche, wo der Hausherr sich bemühte. Er hatte zwei mit Pfefferkörnern bestreute Filets in eine Pfanne gelegt. Der große Refektoriumstisch war für zwei Personen gedeckt. Er bereitete gerade ein Dressing für den Salat zu.
„Hast du manchmal weiblichen Besuch, oder bist du schwul?“
„Ich interessiere mich ausschließlich für Frauen, aber es ergibt sich nur selten, dass ich sie zu mir einlade. Sie sind ein Ausnahme.“
„Ich habe mich selbst eingeladen.“
Er öffnete das Backrohr und nahm ein feuerfestes Geschirr heraus.
„Ich habe das Gratin von gestern aufgewärmt.“
Er goss Cognac in die Bratpfanne, flambierte die Filets und legte sie auf einen Teller, den er ins Backrohr schob. Dem verblieben Jus fügte er ein wenig Butter, Crème frâiche und einige Kräuter hinzu. Die Filets kamen auf den Tisch, die Sauce wurde teils darübergegossen, der Rest in eine kleine Sauciere gefüllt. Sie nahmen auch von dem Gratin und begannen zu essen.
„Das Fleisch ist exzellent, die Sauce grandios.“
„Ich habe meine Jugendjahre in Paris verbracht, und da mein Vater dauernd auf Reisen war, habe ich viel Zeit in der Küche bei unserer Haushälterin verbracht. Die ist eine gute Köchin und hat mir einiges beigebracht.“
Marie war Bretonin und als junge Frau von Quimper nach Paris gekommen. Sie hatte an der Sorbonne Sprachen studiert, und Lukas’ Vater hatte sie über Vermittlung von Bekannten in der großen Wohnung, die während seiner Abwesenheit immer leer stand, wohnen lassen. Sie arbeitete nach dem Studium eine Zeit lang für einen Verlag, und dann, als Lukas als Kind immer öfter bei seinem Vater war, machte er ihr den Vorschlag, für ihn zu sorgen. Darauf arbeitete sie nur mehr Teilzeit und wurde zu seiner Hausdame. Schließlich geschah, was geschehen musste. Sie wurde die Geliebte seines Vaters und nahm sich Lukas’ vollständig an, sie wurde zu seiner zweiten Mutter.
Marie hatte ihm nicht nur in der Küche etwas beigebracht. Schon mit sechs Jahren schlüpfte er, wenn er Angst hatte oder nicht einschlafen konnte, zu ihr ins Bett. Sie streichelte ihn und sang ihn in den Schlaf. Als er zehn war, hörte das auf. Aber an seinem fünfzehnten Geburtstag ließ sie ihn machen, was er wollte, und sagte ihm, er sei nun ein Mann. Sie brachte ihm viel über Frauen bei. Er wusste um ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit und über ihr instinktives Bedürfnis, sich manchmal der Gewalt und der körperlichen Stärke eines Mannes zu unterwerfen. Er verstand es, jene Punkte ihrer Körper zu finden, die sensibel waren, und wusste die Worte zu sagen, die sie hören wollten. Er lauschte aufmerksam ihren Atemzügen, die sich beschleunigten, wenn etwas sie erregte, und er hörte auf die zufriedenen Seufzer nach einem Akt.
Er wurde durch Marie zu einem zärtlichen und guten Liebhaber, und als seine Schulfreunde sich mit ihren ersten amourösen Abenteuern brüsteten, beteiligte er sich nicht daran, wurde deswegen sogar gehänselt. Als Marie ihn einmal von der Schule abholte und seine Schulkollegen sie sahen, blieben sie stumm und staunten über ihre Schönheit.
„Ist das deine Mutter?“
„Nein, unsere Hausdame“, sagte er stolz.
„Euer Dienstmädchen?“
„Nein, das ist sie nicht. Da meine Mutter in Wien lebt und weil mein Vater viel reist, braucht er jemanden, der auf mich aufpasst.“
Mehr erzählte er nicht über sie. So etwas kannten seine Freunde nicht, ihre Eltern hatten Dienstboten, die ständig wechselten und über die sie sich beklagten. Weil Lukas aber ein guter Sportler war, wurde er trotz der scheinbar fehlenden Amouren durchaus respektiert. Bei seinen Mitschülerinnen war er beliebt und wurde von ihnen dauernd eingeladen. Nicht nur, weil er ein hübscher Junge war, sondern auch weil sie das Bedürfnis fühlten, ihn zu berühren und zu streicheln. Von der Rüpelhaftigkeit und der Aggressivität junger Männer seines Alters war bei ihm nichts zu bemerken. Im Umgang mit Mädchen war er kameradschaftlich und höflich, und durch das Zusammensein mit Marie hatte er kein Bedürfnis, seine Chancen zu missbrauchen. Er empfand ihnen gegenüber eine Überlegenheit, die er nicht ausnutzen wollte. In seinem letzten Schuljahr hatte er Affären mit zwei Mädchen aus seiner Klasse, die sich seinetwegen miteinander stritten. Beide stammten aus reichen Elternhäusern und waren es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Er erzählte Marie von dieser Geschichte.
Sie sagt ihm nur: „Unterhalte dich doch mit Mädchen deines Alters. Pass aber auf, dass du dir nichts einfängst.“
So kam es, dass er einige Zeit lang seine Wochenenden in Pariser Großwohnungen oder in kleinen Schlössern auf dem Land verbrachte. Beide Mädchen waren sich selbst überlassen und konnten tun, was sie wollten. Er schlief mit ihnen in Wohnungen, in Pavillons, auf der Wiese und in Pferdeställen. In diesen Häusern begegnete er vielen Menschen, deren Namen und Fotos in Zeitungen und Magazinen abgebildet waren. Manchmal saß er mit ihnen sogar bei Tisch und hörte aufmerksam zu. Immer ging es dabei um Geld und um Firmenbeteiligungen.
Er war abwechselnd mit der einen und der anderen zusammen. Als er an einem Wochenende mit einer der beiden allein im Landhaus ihrer Eltern war, kam die Freundin mit ihrem Auto angebraust und es kam zu einem schrecklichen Eklat zwischen den zwei Mädchen. Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, ging er dazwischen und machte den Vorschlag, es doch zu dritt zu versuchen. Nach kurzem Zögern waren sie mit dieser Lösung einverstanden, und so ging ihr letztes Schuljahr zur Zufriedenheit aller zu Ende. Die Situation machte ihnen Spaß, und sie dachten, wie alle jungen Menschen, sie würden die Sexualität neu erfinden. Nach der Schule trennten sich ihre Wege, er hatte keine Ahnung, was aus ihnen geworden war.
Marie hatte er alles erzählt, und sie hatte gelacht: „Das hast du gut gemacht, du gerätst nach deinem Vater.“
Er dachte an Marie und sehnte sich nach ihr. Er nahm sich vor, sie morgen anzurufen.
„Woran denkst du gerade?“, fragte ihn Lara Bauer, seine Vorgesetzte.
„An unsere Pariser Haushälterin, Marie, meine zweite Mutter, und ans Kochen.“
Als sie mit dem Essen fertig waren, stand er auf und räumte die Teller in den Geschirrspüler.
„Wenn Sie noch Zeit haben, setzen wir uns ins Wohnzimmer.“
Sie blickte auf ihre Uhr und nickte. Ihr Glas nahm sie mit. Er kam mit der noch halb vollen Flasche nach. Sie saß zurückgelehnt auf dem ausladenden Sofa.
„Komm her, setz dich neben mich.“
Schweigend tranken sie einen Schluck des schweren aromatischen Weins. Er nahm ihre Hand und küsste deren Innenfläche. Sie nahm die Hand und legte sie auf ihren Busen. Langsam näherte er sich ihrem Gesicht und berührte vorsichtig ihre vollen Lippen. Er kostete ihren Geschmack, als ob er von einer reifen Frucht essen würde. Nur langsam drang seine Zunge in den sich öffnenden Mund vor, um ihrer Zunge zu begegnen und ihren geschmeidigen Widerstand zu spüren. Alles geschah langsam und rücksichtsvoll erkundend. Er verspürte, wie sein Blut in die unteren Regionen seines Körpers strömte. Sie ließ ihn mit geschlossenen Augen gewähren, als er ihr die Bluse aufknöpfte und an ihren Nippeln saugte. Bewegungslos und mit einem verträumten Gesichtsausdruck ließ sie sich entkleiden und half ihm gelegentlich durch entgegenkommende Bewegungen. Endlich lag sie, mit einem Lächeln auf den Lippen, nackt vor ihm. Sie hatte einen kräftigen, aber vollkommenen Körper, muskulöse Schultern, nicht zu große Brüste, eine schmale Taille und ein gerade richtig proportioniertes Becken, an dessen Basis das geheimnisvolle dunkle Dreieck lag, das Männer so anzieht.
„Gefalle ich dir?“, fragte sie schelmisch. „Dann komm.“
Sie beobachtete ihn aus halb geöffneten Augen. Er streifte sich sein Hemd über den Kopf und mühte sich mit den Knöpfen seiner Jeans, es konnte ihm nicht rasch genug gehen.
„Komm zu mir, mein junger Freund.“
Er legt sich auf sie, sie öffnete sich und ließ ihn zu ihr. Sie begannen, sich langsam zu bewegen, und erkundeten dabei behutsam die Reaktionen des anderen. Schon bald fanden sie einen gemeinsamen Rhythmus, verloren die Kontrolle, und ihre Bewegungen wurden heftiger, um dem ersten Höhepunkt entgegenzueilen, dem noch weitere folgen sollten. Jedes Mal pressten ihn dabei ihre Schenkel und ihr Becken so fest zusammen, wie er es zuvor kaum erlebt hatte. Endlich hörten sie mit einem Seufzer auf.
„Ich habe es geahnt, dass es mit dir gut gehen würde“, sagte sie genussvoll. Ihm war es, als ob eine Katze schnurren würde. Sie schob ihn von sich, griff zum Tisch, nahm das Glas und trank einen Schluck Wein, kuschelte sich in seine Achselhöhle, streichelte seine Brust und liebkoste seinen Körper bis hinunter, wo der wichtige Teil noch immer nicht ganz seinen Normalzustand erreicht hatte. Auch er fühlte für sie eine Zärtlichkeit, die er bei seinen letzten amourösen Begegnungen nie gehabt hatte. Es war fast so wie bei Marie gewesen. Beide schliefen sie ein. Plötzlich erwachte sie mit einem Zucken der Beine, sah auf die Uhr.
„Leider muss ich dich verlassen, Lukas. Meine häuslichen Pflichten rufen.“
Sie zogen sich an, und er fuhr sie nach Hause. Sie wohnte in einem alten Haus aus der Gründerzeit, dass vor Kurzem restauriert worden war.