Читать книгу Tod im Maisfeld - Herbert Weyand - Страница 4
eins
Оглавление»Wetten, dass ich schneller laufen kann, als du.« Die Vierzehnjährige versuchte ihn, aus der Reserve zu locken.
»Das ist doch blöd. Ich schlage dich immer«, antwortete der fünfzehnjährige Junge. Was sie wohl von ihm wollte? Etwa Knutschen? Dann konnte sie es doch sagen. Er war nicht abgeneigt. Sie war nett und gefiel ihm. Lebte noch nicht lange im Dorf und ging den Jungen bisher aus dem Weg. Er kannte sie kaum. Einige wenige Begegnungen an der Bushaltestelle. Mehr war da nicht. Sie gingen in Geilenkirchen zur Gesamtschule und riskierten in der Pause schon einmal, den einen oder anderen Blick. Heute auf der Heimfahrt nahm er das Herz in beide Hände und setzte sich neben sie. Auf die Frage, ob sie Lust an einem Treffen habe, geschah das Wunder. Sie sagte ohne Zieren zu.
»Lass‹ uns ein wenig dahinten durch die Felder spazieren.«
»Gern«, sagte sie in einem Dialekt, den er nicht zuordnen konnte.
»Woher kommst du?«, fragte er.
»Vom Feldkreuz.«
»Nein. Aus welcher Gegend.«
»Aus Franken. Das liegt in Bayern. Mein Vater ist bei den AWACs.«
»Mein Vater arbeitet in Boscheln in einer Maschinenfabrik.«
»Wie heißt du?«
»Dennis. Und du?«
»Ria. Von Maria. Meine Eltern sind Katholiken aus Überzeugung.«
»Dann sind sie hier richtig«, er schmunzelte. Nach der Kinderkommunion war er gerade zweimal in der Kirche gewesen. Ein ständiger Streitpunkt mit seiner Mutter, die jeden Sonntag zur Kirche lief.
Sie schlenderten an dem Maisfeld vorbei, das wohl in den nächsten Tagen abgeerntet wurde. Die Blätter wurden schon braun, und der Mais fiel aus den Kolben zu Boden. Dann brummten die Häcksler und LKW einige Nächte auf den Feldern und im Dorf. Oktober. Möwen schwärmten von allen Seiten in das Feld und fraßen. Ihre Bäuche waren so voll, dass sie kaum vom Boden abheben konnten.
»Ist das Mais?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er erstaunt über ihre Unkenntnis.
»Ich komme aus einer Stadt. Bamberg«, erklärte sie. »Alles hier herum kenne ich nur aus Büchern. Bis vor Kurzem waren Kühe für mich lila.« Sie lachte und umschloss mit einer Handbewegung die Gegend. »Meine Eltern leben sehr zurückgezogen. Ich bin selten irgendwo hingekommen.«
»Ich bin hier aufgewachsen. Wenn du möchtest, zeige ich dir alles.«
»Ja gern.« Sie kam ihm unruhig vor und wollte scheinbar noch etwas sagen, hielt es jedoch zurück. Hoffentlich hatte sie keine Angst vor ihm. Sie lebten in einer blöden Zeit. Die Medien überschlugen sich mit Nachrichten von Entführungen und sexuellen Straftaten. In den letzten Wochen war in der Nähe ein Junge verschwunden und wurde noch nicht gefunden. Und das Mädchen und der Junge, die ermordet wurden ...
»Dort vorn liegt die Heide.« Der Junge zeigte den Weg entlang auf die grüne Linie, die fast schnurgerade am nahen Horizont lag. Der Himmel darüber strahlte hellblau mit milchigen Schlieren.
»Meine Eltern sagten, ich soll mich dort fernhalten.«
»Tust du immer, was deine Eltern sagen?«
»Meistens. Und du?«
»Gehst du ein Stück vor?«, fragte er ihre Frage übergehend. »Ich muss mal für Jungs.«
»Das ist gut«, sagte sie erleichtert. »ich muss auch, und zwar dringend. Du … an den Baum«, sie zeigte zur Ecke der Apfelwiese. Neben dem Baum stand so etwas wie ein Unterstand mit einer Bank darin. Eine Plakette in der kleinen, zum Weg hin offenen Hütte zeigte an, dass sie jemandem gewidmet war. Zwei Pferde grasten ruhig. Auf dem Boden lagen noch einige Äpfel. Die Tiere zeigten jedoch kein Interesse mehr daran. Kaum jemand erntete das Obst. Der Supermarkt war bequemer. »Ich geh‹ in das Maisfeld.« Schon huschte sie davon.
Er stellte sich am Baum zurecht und hatte den Reißverschluss noch nicht geöffnet, da ertönte der gellende Schrei.
*
Sie trafen sich jeden Tag. Vormittags und nachmittags. Drei, vier und manchmal auch fünf oder mehr Frauen mit ihren Hunden. Dackel, Terrier, Schäferhund und Rassen, die den meisten unbekannt waren. Die Hundefrauen … teils liebevoll, teils despektierlich so genannt. Ein großes Altersspektrum wurde durch die Tiere, zu einer Einheit verschweißt. Die junge Frau von dreißig und die Urgroßmutter mit fast achtzig Jahren. Seit der Flurbereinigung Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Wirtschaftswege asphaltiert. Die jungen Frauen kannten es nicht anders und die älteren schwärmten von der Zeit, als noch Gras auf den Wegen wuchs.
Die Trüppchen, die je nach Tageszeit und Wochentag unterschiedliche Besetzung besaßen, waren die, am besten informierten Personen des Dorfes. Täglich wurde der Wissensschatz vergrößert. Wer mit wem und wann; an wessen Fenster hatte das Käuzchen gerufen oder welcher Hund gerade, unter welcher Krankheit litt. Der Unterhaltungswert der Gruppe war immens.
»Gestern hat doch die Totenglocke geläutet«, stellte eine kleine Rothaarige fest.
»Ja. Wegen der Anne aus der Waldstraße, die war schon lange krank«, antwortete die große Brünette.
»Ich finde das blöd. Früher wusste man, ob es die Totenglocke war oder nicht. Heute bimmeln die Glocken den ganzen Tag. Du weißt nicht mehr, woran du bist«, beschwerte sich die grau werdende Brillenträgerin.
»Wie lange warst du eigentlich nicht mehr in der Kirche?«, fragte die Große. »Ich habe dich ewig nicht mehr gesehen.«
»Besser überhaupt nicht, als meinen großen Auftritt zu spät haben. Oder kommt die Reni auch nicht mehr.«
»Ja. Wo du das jetzt sagst. Die hat tatsächlich immer ihren Auftritt ein paar Minuten zu spät.« Die Große blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Dass mir das erst jetzt auffallen muss. Die Reni war schon immer etwas anders.«
»Kenne ich die«, fragte die kleine Rothaarige.
»Die hatten früher einen Pudel. Unten in der Corneliusstraße, nahe dem Ulweg.«
»Ach die. Ja, bei der kann ich mir das vorstellen. Wie ist das eigentlich mit den beiden, die die große Dogge haben? Sie soll abgehauen sein.« Jetzt standen alle vier zu einem Grüppchen zusammen. Links von ihnen reckte der Mais die Stauden in die Höhe. Die Knollen auf der rechten Seite waren seit einigen Tagen geerntet. Die langen Kolonnen der Traktoren auf dem Weg zur Zuckerfabrik behinderten jedes Jahr bis in den Februar hinein den Verkehr.
»Die ist doch schon lange weg. Mit irgendeinem Heini von der Base. »Sie steckten tuschelnd ihre Köpfe zusammen.
»Manchmal hätte ich auch Lust einfach abzuhauen …«, die Brillenträgerin stockte. Ein verzweifelter hoher Schrei ertönte aus dem Mais. »Habt ihr das gehört? Mein Gott … wer ist das?«
*
»Ria. Ist etwas passiert?« Dennis stand unschlüssig am Feldrand.
Der erneute Schrei des Mädchens wurde zu einem Wimmern. Todesmutig spurtete der Junge in die Richtung des winselnden Mädchens. Für Etikette war jetzt nicht der Zeitpunkt. Die Maisstauden brachen und fügten ihm Schnitte an den Händen und im Gesicht zu. Da hockte Ria und erbrach.
»Was ist geschehen?«
»Da.« Sie deutete nach links, wobei wieder ein Schwall Mageninhalt aus dem Mund schoss.
Jetzt fiel ihm der bestialische Gestank auf. Süßlich, abscheulich und instinktiv vertraut: Aasgeruch!
Dennis nahm Ria am Arm und führte sie auf den Weg.
Die Hundefrauen kamen näher.
»Was ist los mit euch«, fragte die Große besorgt.
Würgend zeigte der Junge in das Maisfeld.
»Da hat wohl wieder ein Schwein seine Kühltruhe entsorgt.« Die kleine Rote meckerte und befestigte Beagle und Schäferhund an einem Weidezaunpfosten. Sie ging festen Schrittes auf das Feld zu.
»Halt«, die Grauhaarige hielt sie auf. »Du weißt nicht, was dort drin ist.«
»Wie ich sagte, der Inhalt einer Kühltruhe oder ein totes Tier. Riecht ihr das nicht. Seit Tagen liegt der süßliche Geruch in der Luft. Ich bekomme die Hunde kaum vorbei. Sie wollen immer wieder in den Mais. Das fehlt mir, dass sich einer in Aas wälzt. Den Geruch kriegst du mit nichts weg. Noch nicht einmal mit Baden. Tage stinkt die Sauerei noch.« Sie ließ sich nicht aufhalten und verschwand resolut. Ihr Blick fiel auf eine gequollene Hand, auf der, Fliegen, Maden, Käfer und was sonst noch, krabbelte. Voller Angst wanderte ihr Blick weiter. Ein Mensch. Sie sah aufgesprungene Haut und angenagtes Fleisch. Nackt. Überall sabberte Flüssigkeit heraus, die bestialisch stank. Würgend stand sie wenige Augenblicke später leichenblass auf dem Weg. »Ruft die Polizei«, schwer und tief atmend, um den Brechreiz zu unterdrücken, kamen die Worte über die Lippen. »Dort liegt ein Mensch. Die armen Kinder. Kümmert euch um die beiden.«
Natürlich hatte niemand ein Handy oder Smartphone dabei.
Mutig stellte sich die Rothaarige einem Auto in den Weg, das an ihnen vorbei fahren wollte.
»Ich möchte jemanden dort hinten besuchen.« Der Fahrer zeigte in Richtung Waldstraße. Ihm war wahrscheinlich zu Ohren gekommen, dass die Hundefrauen jeden, der mit dem Auto einen Feldweg entlang fuhr, platt machten und beschimpften.
»Ja, ja … egal«, sagte die Rothaarige mit einem strafenden Blick. »Rufen Sie die Polizei. Dort im Feld liegt ein toter Mensch.«
*