Читать книгу Tod im Maisfeld - Herbert Weyand - Страница 5
zwei
ОглавлениеBinnen Minuten raste ein Polizeifahrzeug heran und eine halbe Stunde später sah es auf dem Weg und im Feld, wie am Drehort eines Tatorts aus.
»Wo?«, rief der Polizist, während er die Autotür öffnete. Die Frauen zeigten in den Mais. Kalkweiß torkelte der Beamte Augenblicke später aus dem Feld. Er sprach würgend in das Funkgerät. Von einer Minute auf die andere wimmelte es von Polizei. Ohne viele Worte spannten sie rot-weißes Absperrband um das Maisfeld, damit der Fundort der Leiche gesichert wurde. Gleichzeitig lief eine unkoordinierte Aktion an. Wie Ameisen verschwanden Personen im Mais, um wieder herauszukommen, damit andere den Platz einnahmen. Die Prozession störte jemanden, der fluchend losbrüllte und die Polizisten vom Tatort scheuchte. In der Folge wurden zwei weitere Absperrbänder gezogen, die den zulässigen Weg zur Leiche vorgaben. Die Routine der polizeilichen Ermittlungen begann.
Großzügig wurde die Gegend um das Maisfeld herum abgesperrt. An den Zufahrten vom Bebauungsende am Küfenweg und Buschfeld wurden Polizeifahrzeuge postiert.
Zwei Beamtinnen nahmen die Personalien auf und sorgten für die Betreuung der beiden Jugendlichen, Ria und Dennis, die diesen Tag auf immer und ewig im Gedächtnis behalten würden.
Die Hundefrauen standen zusammen und spekulierten, was dort wohl geschehen sein mag. Nach Aufnahme ihrer Identitäten wurden sie mit dem Hinweis entlassen, unter Umständen von der Kripo befragt zu werden.
*
»Solche Sauerei liebe ich.« Heinz Bauer, Oberkommissar der Aachener Kripo schüttelte angewidert den Kopf. »Wie lange liegt die Leiche hier?«, fragte er den Gerichtsmediziner.
»Lange genug«, gab der kurz angebunden zurück.
»Na, wieder gute Laune«, bemerkte der Beamte schnippisch.
»Du hast gut reden. Guck dir die Schweinerei an. Meinst du es macht Spaß, Fleischfetzen zu untersuchen. Ich könnte kotzen«, er zeigt auf die Spuren der beiden Jugendlichen.
»Ist schon gut. Ich wollte dir nicht auf die Füße treten.«
»Da bist du ja«, Claudia Plum, seine Chefin trat zu ihm. Ungefähr ein Meter siebzig groß, mit halblangem brünetten Haar und ausdrucksstarken grauen Augen, die ihn jetzt musterten. »Du bist etwas blass um die Nase. Was ist los?«
»Die Leiche. Tu‹ es dir nicht an. Eine unendliche Sauerei.« Fürsorglich streckte er seine einsachtundsechzig. Das ansonsten exakt über die Halbglatze gekämmtes, schütteres Haar stand in alle Richtungen. Mit dreiundsechzig Jahren sehnte er die Pension herbei. Er wusste, die Arbeit würde ihm fehlen … doch mit den Enkelkindern war er lieber zusammen.
»Ich hab‹ über Funk mitgehört und im Auto Mentholsalbe an die Nase geschmiert. Ich möchte nicht dort hinein …, es hilft nichts, ich muss mir die Leiche ansehen. Das weißt du doch.« Sie hob in einer entwaffnenden Geste die Schultern. Er trat zur Seite und ließ die sportliche, zurzeit hagere, Gestalt seiner Chefin vorbei. Vor einigen Wochen wurde sie während der Ermittlungen zu einem Verbrechen entführt und trug die Strapazen und den Gewichtsverlust sichtbar, aber mit Gelassenheit. Die Kriminalhauptkommissarin sah zurzeit um einiges älter aus. Erst, wenn man in ihre Augen sah, bemerkte man, wie unglaublich jung sie für die Aufgaben war, die vor ihr lagen. Mit dreißig Jahren war sie die jüngste Leiterin einer Mordkommission. All das konnte den Reiz und die Ausstrahlung, die von dieser Frau ausgingen, nicht verbergen. Sie wirkte kraftvoll und war den Anforderungen ihres Berufes durchaus gewachsen. Wie immer trug sie elegante und konservative Kleidung. Das einzige Zugeständnis an die warme Witterung war, dass sie auf die Jacke ihres Kostüms verzichtete und ihre reizvollen Kurven, durch eine eng sitzende Bluse betonte. Sie wirkte eher wie die Managerin eines Unternehmens, denn einer Kriminalbeamtin. Mit einer Ausnahme. An den Füßen trug sie alte schmuddelige Sportschuhe.
»Was ist für ein Summen in der Luft. Hört sich gruselig an«, fragte sie Heinz.
»Ist auch gruselig.« Er zeigte zum Maisfeld in die Luft.
Tatsächlich. Millionen von Fliegen standen in einem dunklen Knubbel über der Fundstelle der Leiche. Mit der Bewegung der Maisstauden und den Flügelschlägen der Insekten entstand eine beklemmende Hintergrundmusik. Claudia fiel auf, wie sie die Luft anhielt, um keines dieser Krabbelviecher einzuatmen. Sie überwand den ersten Schock und richtete die Aufmerksamkeit auf die Arbeit.
Langsam, jedoch festen Schritts schritt sie zum Ort des Grauens und erspähte mit Entsetzen das Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war. Die Leiche, oder das, was davon übrig geblieben war, lag mit dem Gesicht nach unten, soweit sie das beurteilen konnte. Sie hielt inne und richtete den Blick auf die Überreste. Mit ihrem Erfahrungswissen sah sie, dass das Gewebe im normalen Verwesungsprozess zersetzt wurde, wobei Insekten das ihre taten. Der warme Sommer hatte die Fliegenpopulation gefördert. Die abgelegten Larven konnten zu einer Zeitbestimmung herangezogen werden.
Faules stinkendes Fleisch lag in einem Radius von etwa fünf Metern, zwischen den Maisstauden, um die Leiche verteilt. An einigen Stellen traten gelbliche Knochen hervor. Keine Kleidung. In diesem Augenblick schoss das Gedicht durch ihren Kopf.
»Es glänzt der Himmel über dem Dach
So blau, so stille.
Ein Baum wiegt draußen über dem Dach
Der Blätter Fülle.
Eine Glocke im Himmel, den du siehst,
Hörst sanft du klingen,
Einen Vogel auf dem Baum, den du siehst,
Seine Klage singen.«
Vor Jahren hatte sie es einmal gehört. Einfach lächerlich. Blöde Gedanken. Weshalb gerade jetzt? Verlaine oder so ähnlich hieß der Dichter. Da gab es noch eine oder zwei Strophen. Ach ja …
»Mein Gott! Mein Gott! Das Leben fließt dort
Ohne Leiden und Härmen,
Vom Städtchen kommt mir herüber dort
Ein friedliches Lärmen.
Und du dort, der weint bei Tag und Nacht
In schmerzlicher Klage,
O sage mir du dort, wie hast du verbracht
Deine jungen Tage?«
Gab ihr Unterbewusstsein einen Hinweis? Die Vögel zwitscherten aus Lebensfreude. Sie hörte keine Klage. Die Kirchenglocke schlug elfmal. Kein sanfter Klang, mehr eine Erinnerung daran, dass das Leben unbarmherzig voranschritt. Und nun dieser, unter Umständen abrupte Tod. Sie gewöhnte sich nie daran. Wer mochte die Person sein? Wie lebte sie? Dinge, die in den nächsten Tagen oder Wochen ihr Lebensinhalt bestimmten.
Nachdenklich knipste Claudia einige Fotos mit dem Smartphone. Der erste Eindruck erschien ihr wichtig. Die Positionsmarken der Technik waren bedeutend, weil sie Aufschluss darüber gaben, was letztendlich geschehen war. Mit der praktischen Zusatzfunktion des Smartphones bannte sie die ersten Gedanken in den Speicher und konnte sie jederzeit abrufen. Eine Leiche an sich war meistens schon kein angenehmer Anblick. Doch hier, ging es an die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen konnte. Es sei denn, er hatte Wasser anstatt Blut in den Adern.
»Kann mir schon jemand etwas sagen?«, fragte sie mit rauer Stimme bei den Gerichtsmedizinern, die diktierten und filmten.
»Weiblich.« Knut Svensen, der Mediziner sah aus der hockenden Haltung hoch. »Mehr kann ich bei bestem Willen nicht sagen. Normal müsste sie ausgetrocknet sein, bei dem Wetter der letzten Wochen. Oder ... noch mehr, als jetzt, von den Tieren zernagt. An dieses verfaulte Fleisch geht jedoch kein Lebewesen mehr. Irgendetwas hat die Leiche feucht gehalten, sodass sie faktisch faulte. Du kannst nichts anfassen, es zerfällt sofort. Wie bei einem Stück Fleisch, das zu lange kocht. Ich habe noch einige Stunden zu tun. Pass auf, damit mir hier niemand herumtrampelt.« Er zeigte auf die unkenntliche Leiche. Die Haut hing in unappetitlichen Lappen herunter. Dabei entstand das Gefühl, als ob die stinkende Masse sich bewegte. »Wir müssen anhand der Muskelproteine, der Aminosäuren und ungesättigten Fettsäuren das Ausmaß der Verwesung ermitteln.« Knut führte etwas weiter aus. »Aufgrund des abnormen Zustandes der Leiche muss ich warten, bis ich im Labor auf meine Einrichtung zurückgreifen kann. Letztendlich wird die Rechtsmedizin in Köln das abschließende Gutachten geben. Aber das weißt du auch alles. Im Moment kann ich bestenfalls eine Schätzung vornehmen. Das Wetter, die ungewöhnliche Zersetzung des Gewebes«, er kniff seine Nase, »ungefähr zwei Monate … plus, minus. Mehr geht im Moment nicht.«
»Danke.« Claudia verließ schaudernd das Maisfeld auf dem Weg, den die Kollegen als Zugang markiert hatten. Auf dem Wirtschaftsweg traf sie wieder auf Heinz.
»Mich wundert, dass dein Grabräuber noch nicht hier nicht.« Er konnte die Anspielung auf Claudias Lebensgefährten nicht lassen.
Vor einigen Monaten ermittelte die Aachener Kripo in der Gegend wegen einiger Leichenfunde im Heidegebiet. Während des Falles lernte Claudia Kurt Hüffner kennen, der damals ein Indiz von den Leichen hatte mitgehen lassen. An diesem Mann blieb sie tatsächlich kleben. Er besaß einige Macken, die deutlich anders waren, als die, die sie bei ihren bisherigen Bekanntschaften feststellte. Sein Leben bestimmte, neben dem Beruf, der Rhythmus des Dorfes. Das karge Leben der Vergangenheit prägte die Bewohner immer noch. Sie lebten mit einem leichten Hang zum Mystischen, der sich umso ausgeprägter, je älter die Einwohner wurden. Sie lebte nun seit einigen Wochen mit Kurt zusammen.
»Ehrlich gesagt, mich auch. Sonst ist er meist vor uns am Fundort der Leichen.« Die wenigen Wochen, die Claudia jetzt hier wohnte, fühlten sich wider Erwarten gut an. Die Ruhe, die Gegend und die Menschen gefielen ihr. Es war nicht weit nach Aachen zum Leben einer Großstadt und die wenigen Kilometer zu den holländischen Metropolen Maastricht und Heerlen versprachen Abwechslung. »Komm‹ wir setzen uns einen Moment dort auf die Bank. Das Häuschen haben Nachbarn für ein Original im Dorf gebastelt.« Claudia zeigte auf den kleinen Unterstand, der in die Hecke gebaut war. »Wie ich hörte, war er ein liebenswerter Mensch, der jedoch schon einige Jahre tot ist. Er verteilte Bonbons an die Vorbeikommenden. Hier habe ich mich einige Male von meiner Erschöpfung nach der Entführung erholt. Der beste Platz, um Gott und Pott kennenzulernen.« Ihre Gedanken tauchten kurz in die jüngere Vergangenheit und die Depressionen, die nach dem Kidnapping kamen. Einige Wochen erkundete sie in langen Spaziergängen die Umgebung des Dorfes und im Weiteren das Heidegebiet. Das blies den Kopf frei und die unliebsamen Erlebnisse rückten in den Hintergrund. Mittlerweile schlief sie die Nächte durch.
»Was mag dort geschehen sein?« Heinz zeigte fahrig zum Maisfeld hinüber.
»Keine Ahnung. Wir müssen abwarten, was uns die Kollegen liefern. Das dauert einige Zeit.« Sie schüttelte sich. Der fürchterliche Anblick stand vor ihren Augen.
»Theoretisch könnte es ein natürlicher Tod sein.« Heinz überlegte laut.
»Das glaubst du selbst nicht. Eine Frau zieht sich nackt aus und geht ins Feld zum Sterben. Was ist los mit dir?«
»Ich habe keine Lust mehr«, sagte er müde. »In diesem Jahr hatten wir so viele Leichen, wie seit Jahrzehnten nicht. Ich muss das nicht mehr haben.«
»Du willst mich doch nicht allein lassen«, sie stieß ihn freundschaftlich in die Seite.
»Hör‹ auf. Meine Nerven sind nicht mehr so stark. Scheinbar wird das Nervenkostüm dünner, je älter man wird.« Heinz spielte seit einiger Zeit mit dem Gedanken an die Pension. Es fiel schwerer, morgens aufzustehen und die Knochen in Gang zu bekommen.
»Bei dir nicht. Du bist unverwüstlich.« Claudia dachte mit Schrecken daran, dass Heinz eines nahen Tages nicht mehr zum Team gehörte. Er war zwar ein alter Motzkopf, aber seine Ideen und Erfahrungen waren Gold wert. Und außerdem ... gehörte er zu ihnen. Das Team wäre kein Team mehr.
*
»Also. Hier ist das gerichtsmedizinische Gutachten zu der Leiche. Die Kollegen haben die Nacht über gearbeitet.« Maria hielt Claudia einen dünnen Ordner hin. »Ich habe alles ausgedruckt, weil unser Alterchen sich partout nicht mit dem PC anfreunden will.« Sie knipste mit dem Auge zu Heinz hinüber, der schon hochfahren wollte.
Maria ergänzte die Truppe um Claudia. Anfang fünfzig und mit einer, was man landläufig als frauliche Figur bezeichnete, ausgestattet, was besagte, dass die Pölsterchen an den richtigen Stellen saßen. Durch ihre humorvolle Art wirkte sie wesentlich jünger. Die rehbraunen Augen täuschten so manchen. Sie konnte knochenhart werden. Im Moment durchlebte sie eine blonde Phase. Der modische Kurzhaarschnitt modellierte das ovale Gesicht mit den ausdrucksstarken geschminkten Lippen. Ein knalliges dunkles Rot. Maria trug enge Jeans, die ihre weiblichen Proportionen betonte. Dazu eine dreiviertellange helle Bluse, die über dem Bauchnabel geknotet war.
»Dann bin ich aber gespannt. Ich habe schon viel gesehen, doch der gestrige Anblick geht mir nicht aus dem Kopf.« Claudia schlug die Kladde auf.
Die letzte Nacht war ein Albtraum. Diesmal verfolgte sie nicht die Dunkelheit, sondern der eklige Anblick der Leiche. Sie schauderte, wenn sie sich vorstellte, was nach ihrem Tod für Viehzeugs an ihr herumknabberte. Für sie kam nur Kremieren infrage, das stand fest. Aber … hier in diesem Dorf, nagte hinten in ihren Gedanken ein Zweifel, ob es nicht doch ein Leben nach dem Tod gab. Die Einheimischen waren, bei allem Aberglauben, dem sie unterlagen, so überzeugt davon, nach ihrem Ableben, in irgendeiner Art und Weise, entweder wieder aufzuerstehen oder im Jenseits weiterzuleben. Claudia schüttelte die Gedanken ab und lenkte die Konzentration auf die Kladde.
»Weiblich … das wussten wir schon. Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig; dunkelbraunes Haar; eins fünfundsechzig groß. Keine Identifizierungsmerkmale, wenn wir vom Gebiss absehen. Dazu sind Zahnärzte angemailt. Die Leiche lag mindesten acht Wochen in dem Feld, wenn nicht länger. Der ungewöhnliche Verwesungsprozess entstand durch eine defekte Wasserleitung. Der Bauer gegenüber hat eine Leitung vergraben, die zur Kuhtränke führt. Die Tote lag genau in einer Mulde, in der das Wasser austrat. In der warmen Luft des diesjährigen Sommers zog der Körper ständig Feuchtigkeit und verfaulte faktisch, anstatt auszutrocknen. Unzählige Tiere haben die Leiche mehrere Wochen zerfleddert und in der gesamten Gegend verstreut. Einen annähernd genauen Todeszeitpunkt werden die Gerichtsmediziner kaum ermitteln können.« Claudia sah von der Mappe hoch in die bedrückten Gesichter ihrer Kollegen. Aus dem schmucklosen Büroraum des Polizeipräsidiums ging der Blick genau auf die Justizvollzugsanstalt. Drei Schreibtische und ebenso viele verschließbare Aktencontainer boten die einzige Möblierung. Nicht ganz. Einige technische Einrichtungen, die das Berufsleben erleichtern sollten, komplettierten das Ganze: Monitore auf den Schreibtischen, die mit einem großen Server irgendwo in NRW verbunden waren. Drei schmucklose Tastaturen. An den Wänden, Tafeln und eine große Leinwand. Drehstühle, die schon einige Jahre auf dem Buckel hatten. Nirgendwo sparte die Politik so viel, wie im öffentlichen Dienst. Sie sollten hier nicht wohnen, sondern arbeiten. Von der gegenüberliegenden JVA sahen sie nicht mehr, als die schmucklose, einige Meter hohe Mauer. Der Anblick drückte die Stimmung. Vor allem, weil die Kiste nicht sicher war. Gerade mal zwei Jahre war die Posse Heckhoff und Michalski her. Beide, schon mehr als dreißig Jahre in Haft, beschließen, aus der JVA auszuchecken, wie Heckhoff es nannte. Zwar wurden sie einige Tage später festgenommen, doch so lange hielten sie das Rheinland in Atem.
»Stört es dich, wenn ich mit Heinz nach Grotenrath fahre, um mit den Zeugen zu sprechen?«, fragte Claudia Maria.
»Überhaupt nicht. Ihr wisst doch, die Knollensavanne lockt mich überhaupt nicht.« Nichts hasste Maria mehr, als im nördlichen Bereich ihrer Zuständigkeiten zu arbeiten. Das platte Land und der eigenwillige Menschenschlag zerrten an ihrem Gemüt. Außerdem verstand sie den Dialekt dort nicht. Kein Holländisch, kein Deutsch … irgend so ein Kauderwelsch. Sie war froh, dass sie nicht mit dorthin musste. Die Menschen in dieser Gegend, vor allem die Alten, mit ihren mehrdeutigen abergläubischen Redensarten, nervten. Das konnte sie absolut nicht ab.
»Dann sehen wir uns vielleicht heute Nachmittag.« Claudia und Heinz verschwanden.
*
Sie hielten vor dem imposanten Backsteingebäude Hinter den Höfen. Seitlich des Hauses führte ein Zugang zum hinteren Teil des Grundstücks, das sich bestimmt zweihundert Meter in die Länge zog. Ein großer Hund verbellte sie hinter einem alten schmiedeeisernen Tor, das auf einen Hof führte. Im Hintergrund grasten zwei Pferde. Eine kleine rothaarige, nicht mehr ganz junge Frau kam aus dem Stall.
»Hier hinten«, rief sie und winkte. »Ach Sie sind es«, sagte sie erstaunt, als sie Claudias ansichtig wurde. »Polizei, wegen der Leiche?«
»Genau«, sagte Claudia. »Wir kennen uns. Sie laufen jeden Tag mit ihren Hunden durch das Feld.«
»Und Sie leben mit Kurt zusammen. Es wurde Zeit, dass der endlich die Naserei in puncto Frauen aufgibt. Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen. Sind Sie wieder genesen?«
»Claudia Plum und mein Kollege Heinz Bauer.« Claudia überging die Bemerkungen und die Frage. Sie reichte ihr die Hand.
»Hereinspaziert. Ich habe gerade eine Tasse Kaffee fertig.«
Kurze Zeit später saßen sie in einem gemütlichen Wintergarten und tranken Kaffee. Claudia sah sich erstaunt um. Gediegene alte Möbel, die zweifellos mehrere Generationen haben, kommen und gehen sehen, bestimmten den Gesamteindruck. Eine breite Holztür führte ins Haus. Von ihrem Platz konnte sie direkt in den Pferdestall sehen, der nicht mehr als drei Meter entfernt lag. Ein großer Brauner streckte den Kopf über die halbe Türe und beäugte sie. Die beiden Kriminalbeamten hatten noch nicht viel gesagt. Die Frau sprach ohne Punkt und Komma. Als sie einmal Luft holen musste, kam Claudia dazwischen.
»Wir wollten sie zu der Leiche befragen, die im Maisfeld lag.«
»Das dachte ich mir schon. Aber hören Sie auf. Das Bild geht mir nicht aus dem Kopf«, angewidert verzog sie das Gesicht. »Seit einigen Wochen stank es in diesem Gebiet nach Aas. Sie haben den Geruch doch sicherlich bemerkt, wenn sie auf der Bank saßen.«
Claudia schüttelte den Kopf. »Mir war nichts aufgefallen. Vielleicht stand der Wind ungünstig.«
»Möglich«, die Rothaarige überlegte. »Jetzt wollen Sie von mir wissen, ob ich etwas bemerkt habe. Darüber habe ich mir den Kopf zerbrochen. Wissen Sie … hier ist immer etwas los. Nachts fahren Fahrzeuge mit Scheinwerfern auf dem Dach durch die Felder und ballern auf die Hasen und Füchse. Erst vor einigen Tagen hat so ein Idiot mit einer Ladung Schrot in einen Schwarm Wildgänse geschossen. Das war dort hinten am Feldkreuz. Da war auch eine weiße Gans dabei. Ich musste sofort an Nils Holgersson denken. Können Sie sich so etwas vorstellen. Jetzt die Leiche direkt vor der Haustür. Aber gut, dass die Kinder sie gefunden haben, obwohl die mir leidtun. In dem Alter solch ein Anblick, das muss nicht sein. Stellen Sie sich vor, ein paar Tage später, wäre der Mais geerntet worden, dann hätte niemand etwas erfahren. Die Maschine zermalmt alles. Die meisten Katzen kommen während der Ernte weg. Wussten Sie das? Sie sind wie gelähmt, wenn die Maschine auf sie zu fährt. Dann die vielen Idioten, die unbefugt die Feldwege befahren. Da weiß niemand mehr, ob der von hier ist oder anderswo. Hier wohnen ja auch die Beschäftigten der AWACs. Der Tod kann jeden Tag zu jeder Tageszeit eingetreten sein, ohne, dass es jemand bemerkte. Oder war es ein Verbrechen?« Sie unterbrach einen Moment, um einen Schluck Kaffee zu nehmen.
Claudia und Heinz sahen sie mit erstaunten Augen an. Selten mussten sie einen solchen Wortschwall über sich ergehen lassen. Bevor die Frau wieder loslegen konnte, ergriff Heinz die Initiative.
»Die Leiche ist eine Frau.«
»Eine Frau?« Im Gesicht der Rothaarigen arbeitete es. Sie überlegte.
Claudia betrachtete sie interessiert. Sie wurde Doro genannt, das wusste sie. Die Abkürzung von Dorothee, wie in den Unterlagen stand. Sie redeten sich im Feld, wenn sie sich trafen, mit Vornamen an. Die Frau sah aus, wie Ende vierzig, Anfang fünfzig und Claudia war erstaunt, als sie im Protokoll der Kollegen, das Alter mit Mitte sechzig angegeben sah. Doro besaß ein markantes ausdrucksstarkes Gesicht, aus dem zu ersehen war, dass sie das, was sie wollte, auch bekam. Mit den Stallklamotten, die sie trug, konnte sie jedes Lokal besuchen. Die langen roten Haare hingen lockig und sorgfältig frisiert bis auf die Schultern. Irgendwann muss sie mir ihren Jungbrunnen verraten, dachte Claudia.
»Warten Sie … da war vor einem viertel Jahr etwas. Eine junge Frau lief häufiger durch das Feld. Sie fiel mir auf, weil sie keinen Hund dabei hatte. Wissen Sie, das ist absolut suspekt, einfach so durch die Felder zu laufen. Normalerweise erkenne ich die Leute an den Hunden. Namen kann ich mir nicht merken, die Tiere jedoch genau. Sagen Sie … hatte sie vielleicht dunkelbraunes Haar und meine Größe?«
Elektrisiert beugten sich die beiden Kriminalbeamten nach vorne.
»Ja«, forderte Claudia sie spannungsgeladen auf, weiterzusprechen.
»Ungefähr dreißig Jahre alt und immer die gleiche Art von Sonnentop mit Spaghettiträgern. Dreiviertellange Shorts … so bis in die Mitte der Oberschenkel. Die Nägel an den Händen und Füßen auffallend dunkel lackiert. Sie war ganz schön zurechtgemacht. Wir, meine Bekannten und ich, sind schon mal stehen geblieben, um zu sehen, was die so treibt. Von wegen Techtelmechtel und so. Doch wir haben nie etwas in dieser Richtung bemerkt. Sie lief immer alleine. Woher sie kam, konnten wir nie feststellen. Sie ging uns aus dem Weg. Vielleicht von der Fliegerhorst-Siedlung. Keine Ahnung.«
»Einen Moment bitte«, unterbrach Claudia und drückte die Kurzwahl für das Präsidium ins Smartphone. Sie ging zum anderen Ende des Wintergartens und murmelte ins Telefon.
»Volltreffer«, sagte sie zu Heinz. »Dunkelroter fast schwarzer Nagellack. Das hatte ich vorhin überlesen.«
»Doro … ich darf Sie doch beim Vornamen nennen?«
»Klar. Ich war mir auch unsicher. Ich wusste nicht, wie ich Sie ansprechen sollte. Claudia … nicht? Bei einem solch hochoffiziellen Besuch ist es anders, als im Feld.«
»Können Sie aufs Polizeipräsidium kommen und mit einem Kollegen ein Phantombild erstellen?«
»Sicher. Dann nehme ich mir aber ein oder zwei von den anderen mit, die haben sie schließlich auch gesehen. Ach … noch etwas … sie war keine Deutsche. Irgendwas aus dem englischsprachigen Raum … kann aber auch Holländerin gewesen sein, auch wenn sie nicht so klang. Sie stand einmal im Supermarkt zwei Einkaufswagen vor mir. Sie schaute jedoch nicht hoch, um zu grüßen.«
*
»Die Frau habe ich auch gesehen«, stellte Kurt fest, als ihm Claudia abends von ihrem neuen Fall berichtete. Sie lümmelten auf dem Sofa. Jeder in einer Ecke und spielten mit den Zehen aneinander herum. Im Fernseher lief eine Serie, auf die sie sich nicht konzentrierten.
»Wann willst du die gesehen haben? Du stolperst doch sonst nur über Leichen.« Claudia spielte auf ihre beiden letzten Fälle an, bei denen sie Kurt begegnete, bis sie hängen blieb. Ehrlich gesagt suchte sie die Nähe auch.
»Ich habe sogar mit ihr gesprochen. Sie kam aus der Fliegerhorst-Siedlung. Hatte was mit einem AWACs Menschen, wenn ich richtig verstanden habe. Wir haben uns in englischer Sprache unterhalten. Sie ist – oder heißt es jetzt ›war‹ - keine Deutsche. Engländerin, Amerikanerin ... kann ich nicht sagen. Sie sah exotisch aus.«
»Zufälle gibt es, die gibt es nicht.« Kurt überraschte sie immer wieder. Seit einigen Wochen lebte Claudia nun in Grotenrath. Der große Mann mit den breiten Schultern und schmalen Hüften hatte es ihr angetan. Das halblange mittelblonde Haar stand wie immer wirr vom Kopf und die grünen Augen musterten ständig und interessiert die Umgebung. »Und?«, fragte sie.
»Was und? Ich bin ihr zwei Mal begegnet. Die ungewöhnliche Lackierung der Finger- und Fußnägel fiel mir auf. Ja … sie war eine ausgesprochen hübsche Frau.«
»Dich kann man nicht alleine lassen. Kennst du diese Doro?«
»Meinst du die Wellmann. Klar. Die läuft, solange ich hier lebe, jeden Tag zweimal mit ihren Hunden um das Dorf. Eine sympathische Frau.«
»Weißt du, dass die Wellmann schon Mitte sechzig ist?«
»Nein. Dann hat sie sich gut gehalten. Was hast du mit der zu tun?«
»Die Frau fand unsere neue Leiche. Neben der Wellmann habe ich zwei weitere Frauen vernommen. Vernommen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich habe mit ihnen gesprochen. Die wissen scheinbar alles, was in eurem Dorf vor sich geht.«
»Ich hoffe jetzt auch dein Dorf. Ja, die Truppe mit den Hunden ist immer unterwegs. Im Grunde sind es mehrere Grüppchen, die sich treffen.«
»Ich habe es festgestellt, als ich diesen Sommer herumspazierte. Gegen sieben, halb acht jeden Morgen geht das los. Fast immer die gleiche Zusammensetzung. Die Gruppen überschneiden sich, treffen sich, bleiben kurz stehen, tauschen Informationen aus bis gegen Mittag. Danach, ca. zwei Stunden später, wiederholt sich der Prozess bis gegen Abend. Ja … und dann kommen die, die nach ihrem Job mit den Tieren laufen.«
»Da bleibt im Grunde nichts verborgen … bist du verrückt«, Kurt sprang kreischend vom Sofa.
»Du bist kitzelig, das wusste ich noch nicht.« Claudia lachte vor Begeisterung. Sie geriet kurz mit den Zehen unter seine Fußsohle. Sie sprang auf und schlich katzenhaft auf ihn zu. Protestierend lief er davon.
*