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1. Zur Magie
ОглавлениеZwei Verschiebungen von Begrifflichkeiten sind im Rahmen der Industrialisierung erfolgt – die Verschiebung von weltlichen und die Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten. Hierbei verstehe ich die Industrialisierung als den Übergang von einer eher naturnahen Gesellschaft hin zu unserer Industriegesellschaft. Der zeitliche Rahmen dieser Veränderung ist die Zeit zwischen 1650 und 1950, der von mir besprochene räumliche Rahmen umfasst Westeuropa sowie Nordamerika.
Diese Verschiebung von Begrifflichkeiten erfolgte in der Weltsicht des Heiden bzw. magisch Tätigen. Und diese Verschiebungen haben Rückwirkungen auf die Arbeit bzw. den Glauben (wobei ich beide Begriffe von den Verflechtungen her für nicht trennbar halte). Daher will ich auf diese beiden Verschiebungen länger eingehen.
a. Verschiebung von weltlichen Begrifflichkeiten
Die Bedeutung von Schrift und Geschriebenem hat sich in den letzten 500 Jahren in unserer Kultur grundlegend verändert. Angefangen bei den für magische Handlungen benutzten Bildern und Piktogrammen über die Silbenschrift und die Runen bis hin zu unserer Schrift hat sich die gesamte damit verbundene Kultur gewandelt.
Früher waren es nur wenige, die in der Lage waren, die geschriebenen Zeichen zu entziffern. Ihnen war auch Macht gegeben, da sie als Geschichtenerzähler, Barden und Priester benötigt wurden. Im Mittelalter war es so, dass die Klöster die Horte der Schreibkultur waren; die wichtigsten (und schönsten) mittelalterlichen Texte sind religiöser Natur.
Auf einer anderen Ebene hat sich auch das Erzählte vom Inhalt her verändert. Statt Sagas und Gedichten, die mündlich überliefert wurden, gab es später die festgefügten Märchen, die in einer bestimmten, unveränderlichen Form in einem Buch festgeschrieben waren.79 Seit der Entwicklung des Fernsehens wird nicht nur die Sprache festgelegt, sondern auch die optische Information (die vorher von der Vorstellungskraft des Zuhörenden ergänzt worden ist) ist festgelegt und damit unveränderbar.
Wenn wir heute Geschichten aus einer Epoche betrachten, in der weite Teile der Bevölkerung Analphabeten waren, dann bedenken wir dieses nicht. In unseren Köpfen ist Analphabetismus die Ausnahme, die Mangelerscheinung. Wir können alle lesen; Bücher und Zeitschriften sind Allgemeingut geworden. Doch wir dürfen nicht den Fehler machen, ähnliche Bilder auf unsere Vorfahren/Vorgänger anzuwenden. Schrift hatte früher einen wesentlich höheren Stellenwert und magische Symbole (wie Siegel etc.) hatten eine wesentlich umfassendere Bedeutung – und sei es nur, weil sie von einer schreibunkundigen Bevölkerung nicht zu reproduzieren waren.
Ein anderer Begriff, der sich – wie der Begriff der Schrift – in den letzten Jahrhunderten in seiner Bedeutung stark verändert hat, ist der des Blutes. Während in mythischen Texten immer noch von Dingen wie Blutsverwandtschaft („Blut ist dicker als Wasser“), Blutschwur80 und Blutsbrüderschaft die Rede ist, so hat heute die Wahlverwandtschaft die Bedeutung der Blutlinie völlig verdrängt. Und statt der matrilinearen Vererbung (über die Mutter) wird heute der Name (und auch die Familie) patrilinear (über den Vater) vererbt.
Seit der Verbreitung von AIDS ist auch unsere Hemmschwelle gegen Blutschwüre höher geworden – es ist nicht nur der ungeschützte Geschlechtsverkehr, der einen infizieren könnte, sondern auch der Austausch von Blut im Rahmen von Ritualen.
Und letztendlich ist es auch die Kommerzialisierung des Blutes und der Blutspende durch die Vermarktung von Blutplasma, das diesen Begriff seiner mythologischen Bedeutung fast entbunden hat. Wer heute ein klassisches Ritual mit Blut oder Blutsbanden liest, wird es sicherlich völlig anders verstehen, als ein Heide/Magier aus dem 13. oder 16. Jahrhundert. Und unsere Hemmschwelle gegen den Einsatz von Blut, immerhin dem Saft des Lebens, in Ritualen ist deutlich angestiegen.
Ein paar andere Begriffe möchte ich nur kurz anreißen. Die Bedeutung des Windes für unsere Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten verändert. Es werden keine Häuser mehr vom Sturm abgedeckt, die wilde Jagd zwischen den Jahren ist nicht mehr zu hören, der Fischfang samt Küstenschifffahrt ist unbedeutend geworden (und damit sinkt auch die Gefahr von im Meer ertrinkenden Familienmitgliedern), wir haben sogar den Wind für die Erzeugung von Strom gezähmt und können Stürme mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen. Schon deutsche Gedichte der Romantik, die von den Naturgewalten sprechen, sind für uns heute in ihrer beschworenen Bedrohlichkeit kaum verständlich oder nachvollziehbar.
Auch unser Verhältnis zu Wasserstraßen und Straßen allgemein hat sich völlig verändert. Wir sind es gewöhnt, beim Reisen auch an den Luftverkehr und die Eisenbahn zu denken; die Autobahn stellt eine völlig andere Art der Vorstellung von Transportwegen dar als die Straßen des Mittelalters. Die heutige Streckenplanung kann sich auf stabile Brücken, Fähren und regelmäßige Ozeanüberquerungen verlassen – alles Dinge, die noch vor 100 Jahren eine Ausnahme waren.
Auch unsere räumliche Vorstellung von der Welt (die Landkarte, die wir in unserem Kopf mit uns herumtragen) hat sich deutlich verändert. Orte entlang ausgebauter Verkehrswege sind wesentlich leichter zu erreichen als Orte in entlegenen Gebieten. Der Mensch im Mittelalter dachte eher in konzentrischen Kreisen um seinen Wohnort herum, da seine Fortbewegungsgeschwindigkeit kaum zu steigern war, wenn er bestimmte Routen anderen vorgezogen hätte.
Deutlich wird diese Verschiebung auch an der Veränderung der mythologischen Bedeutung von Straßen. So ist der Wandel von Wegen wie den mittelalterlichen Pilgerwegen oder der Seidenstraße hin zu Strecken wie der Route 66 oder dem Orient Express neben der Veränderung in der Geschwindigkeit auch ein Wandel im gewählten Verkehrsmittel.
Der Schatz als ökonomische Herausforderung hat in den letzten Jahrhunderten seinen mythischen Charakter verloren (man denke nur an den Kessel voller Gold am Ende des Regenbogens). Die wenigen noch mythischen Schätze (Bernsteinzimmer etc.) sind mit eher negativen Erfahrungen verknüpft.
b. Verschiebung von magischen Begrifflichkeiten
Auch bei den magischen Begrifflichkeiten hat sich in den letzten Jahrhunderten einiges am Bedeutungsinhalt verschoben. So hat sich z.B. das Königsheil von Königen/Priestern weg zu öffentlichen Personen (Elvis etc.) hin verschoben. Wo früher noch der König für das Land stand (wie bei den Artus-Sagen), so ist es heute höchstens ein Präsident, der sein Leben für die Unschuld des Landes lassen muss (ich denke hier an Präsident Kennedy, dessen Regierungszentrale nicht umsonst Camelot genannt wurde!).
Auch der Ort der Seele ist im Lauf der Jahrhunderte immer wieder im Körper verlegt worden, ohne dass die Seele irgendwo im Körper wirklich hätte festgelegt werden können. Scheinbar wandert der Ort der Seele – wie der Ort der Utopie – immer hinter den Horizont des gerade Erkennbaren und verbleibt immer genau hinter unserem Horizont.81 Und heute hat sich die Suche nach der Seele hinter den Nahtoderfahrungen etc. versteckt. Die wissenschaftliche Grenze hat sich verschoben, für das Organ Seele bleibt im Körper kein Platz mehr. Aber die Sinnsuche, die sich hinter der Suche nach der Seele verbirgt, braucht weiterhin Raum in unserem Leben.
Auch die Zwerge und Elfen sind nur auf den ersten Blick aus unserer Mythologie verschwunden. Früher stahlen die Hügelvölker oder die Feen Kinder und entführten sie, in ihren Heimen lief die Zeit anders ab als in der realen Welt, und wer für sie arbeitete und ihre Geheimnisse wahrte, der wurde reich belohnt (diese Motive tauchen interessanterweise auch in den Märchen auf, in denen sich jemand für den Teufel verdingt – hier gibt es offensichtlich eine Gleichschaltung Feen/Hügelvolk – Teufel in der christlichen Mythologie). Heute sind es Außerirdische mit schmalen Händen und großen Augen, die unsere Kinder entführen, unsere Frauen schwängern, deren Zeit anders verläuft als unsere und die jene reich belohnen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Die Parallelen sind unübersehbar. Aber da wir alle Hügel aufgegraben, alle Wälder abgeholzt haben, musste sich der Mythos halt in kleine Flugscheiben82 zurückziehen, die entweder aus dem Inneren der Erde, von der Rückseite des Mondes oder aus anderen Dimensionen kommen. Eine ähnliche Entwicklung hat nebenbei auch der Hausgeist hinter sich, wobei es einen eigenen Vortrag wert wäre, die Analogien zwischen Schüsseln Milch und Blumen für Hausgeister und Zuwendungen und Eigennamen für Computer herauszuarbeiten …
Eine offensichtliche Veränderung verursachte auch die Entmythologisierung der Drachen nach der Entdeckung der Dinosaurier-Skelette im letzten Jahrhundert. Unsere Drachenmärchen wurden auf einmal als Erinnerungen an eine gemeinsame Koexistenz von Drachen und Menschen gedeutet, viele Darstellungen von Dinosauriern wurden verdrachtusw. Ein schönes Beispiel für diese Entwicklung sind Märchenbucher a la Dinotopia oder Die vergessene Welt von Arthur Conan Doyle – beides Bücher, in denen die genannte Koexistenz beschrieben wird.
Die Veränderungen im Weltbild der Astrologie folgen auch wissenschaftlichen Entdeckungen.
Die letzten drei Planeten [des Sonnensystems, HR] wurden erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt, lange nach der Entwicklung der traditionellen Analogien der ersten sieben Planeten: Uranus 1781, Neptun 1846 und Pluto 1930. Jedes Mal erfanden die Astrologen empirische ‚Deutungen‘, die schließlich als verbindlich akzeptiert wurden.83
Die Festlegung einer Definition für den Einfluss der Planeten bzw. für ihre Rolle in der Astrologie dauerte unterschiedlich lange. Beim Uranus waren es noch 33 Jahre, beim Neptun sogar 44 Jahre und beim Pluto nur noch 2 (!) Jahre.84
Auch das Bild von Äther und Sphären/Sphärenklängen sowie unser Verständnis der Sternbilder hat sich deutlich gewandelt. Wo früher die Sternbilder noch exakt standen und wir in den richtigen Häusern geboren wurden, so hat die Verschiebung der Sternbilder inzwischen dafür gesorgt, dass niemand mehr in seinem Haus geboren wird. Und der – vorher mehrmals physikalisch bewiesene Äther – musste genauso (wie die Sphären der Planeten) Federn lassen und darf jetzt nur noch als esoterische Analogie sein Leben fristen.
c. Verschiebung von weltlich/magischen Begrifflichkeiten
Mythos und Wissenschaft befruchten sich gegenseitig. Eine Weiterentwicklung des einen ist ohne eine Weiterentwicklung des anderen nicht möglich. Unser Suchen nach Erkenntnis wird von unseren Träumen gespeist, und unsere Träume beziehen ihre realistischen Grundlagen aus unseren Erkenntnissen.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass mythologische Begriffe, welche die Jahrhunderte überstanden haben, immer wieder von Mythos und (!) Wissenschaft weiterentwickelt werden. Das klassische Beispiel hierfür ist der Atlantis-Mythos mit seinen starken Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte. Man betrachte nur, welche geographischen Veränderungen Atlantis durchgemacht hat. Vom Mittelmeer über den Atlantik hin zu Grönland und England im Norden, Südamerika im Westen und Westafrika im Süden. Und der Kreis schließt sich, wenn die moderne Forschung Atlantis nach Troja oder Santorin und damit zurück ins Mittelmeer verlegen will.
Ähnliches gilt für Mythen, die – im Gegensatz zum Atlantis-Mythos – in den letzten Jahrzehnten untergegangen sind bzw. massiv an Bedeutung verloren haben, aber vorher einen wilden Wechsel von Bedeutung und Inhalt hinter sich gebracht haben. Das Einhorn wäre ein Beispiel85, ebenso der Vampir86. Faszinierend ist auch die Geschichte des roten Planeten Mars und seiner angeblichen Bewohner. Von Kanälen könnte man da sprechen, und von dreibeinigen Todesmaschinen, von Pyramiden und Marsgesichtern …87
d. Probleme, die daraus entstehen
Wir kämpfen mit dem Phänomen, dass ältere Texte und Rituale für uns unverständlich werden, weil uns der kulturelle Hintergrund/ Gefühlszusammenhang zu ihrem Verständnis fehlt. Das Weltbild ändert sich, ohne dass der an ein Weltbild gebundene Kult die Änderungen nachvollzieht.
Oftmals haben wir zwar das Gefühl, den Text eines klassischen Rituals begriffen zu haben, aber das Verstehen geschieht auf einer sprachlichen und nicht auf einer inhaltlichen Ebene (wir verstehen die Worte, nicht den Sinn). Die oben genannten Erklärungen sollten ausreichen, um diese Behauptung zu untermauern.
Ich will jetzt kurz ein paar Beispiele weltlicher und magischer Natur für die Bindung von einzelnen Begriffen an Religionen/Kulte oder magische Handlungen anführen. Und ich will zeigen, dass wir diese Begriffe zwar weiterhin verwenden (können), aber ohne die ursprüngliche Bindung zwischen Begriff und Bedeutung rekonstruieren zu können.
Weltliche Beispiele
Hierzu gehören die Bedeutung des Feuers bei den Parsen (Feuer spielt für uns schon lange nicht mehr die Rolle als Wärmespender und Waffe, die es früher gespielt hat), die magische Rolle von einzelnen Schriftzeichen (man denke nur an die Runen; durch die faktische Beseitigung des Analphabetismus in der Bevölkerung hat die Schrift überhaupt ihren magischen Charakter verloren) und Piktogrammen (ich meine nicht die Notausgang-Zeichen in öffentlichen Gebäuden, sondern steinzeitliche Jagdzauber an Höhlenwänden), der Verlust des faszinierenden Gefühls für fremde Sprachen in Ritualen (die lateinische Messe hat ihre Ausstrahlung verloren, ebenso aber auch Texte in unverständlichen Sprachen oder der Effekt des Zungenredens), die Naturgewalten verlieren an Bedrohlichkeit (die Wind- und Sturmgötter wie die Wilde Jagd verschwinden aus unserem Bewusstsein, weil die Naturgewalten für unsere Häuser nicht mehr bedrohlich sind und daher nicht mehr beschworen und besänftigt werden müssen), bestimmte Arbeiten verschwinden aus unserem Lebenszusammenhang (der Meergott der Fischer verschwindet aus unserem Kulturzusammenhang, da der Nährstand – und damit auch Fischer und Bauern – in unserem Leben nicht mehr direkt vorkommt; Pferdesegen und Schmiedezauber bleiben unverständlich, weil die entsprechenden Berufe aus unserem kulturellen Umfeld verschwunden sind), halbmenschliche/ tierische Götter verlieren an Bedeutung, weil das sie inspirierende Wesen aus unserem Leben verschwunden ist (so der gehörnte Gott/Hirsch, die Katze88, Wolf/ Hund etc.) und die Priester/Magier sind nicht länger Wächter des Kalenders (daher verschwinden auch die Großkalender wie die Megalithbauten aus den Erfordernissen unserer Kultur – niemand baut mehr selbst Zeitmessgeräte und niemand wird mit religiöser Verehrung bedacht, weil er Jahreszeiten oder Mondfinsternisse vorhersagen kann!).
Der Begriff ist weiterhin da, und er steht auch weiterhin in unseren Ritualen und Texten. Aber wir verwenden ihn in anderer Bedeutung als der, in der er ursprünglich verwendet worden ist. Und daher sind wir nicht in der Lage, das ursprüngliche Ritual mit denselben Worten zu wiederholen, weil die Worte sich in ihrem Inhalt verändert haben.
Magische Beispiele
Mit magisch meine ich in diesem Zusammenhang Begriffe, die eher nicht der physischen Welt unterworfen sind. Ein typischer Begriff wäre der Begriff der Seele. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat die Seele ihren Platz im Körper verloren. Unsere wissenschaftliche Sichtweise des Körpers lässt keinen Platz mehr für ein unerklärtes Organ, die Seele kann also nicht im Körper materiell existieren. Da wir Menschen aber weiterhin wissen wollen, was hinter der letzten Grenze kommt, verlagern wir unsere Suche nach dem Jenseits in den Bereich der Nahtoderfahrung und verwandeln dadurch die Seele in ein immaterielles Organ89.
Das kleine Volk wird von uns entrückt und unserem Lebenszusammenhang entrissen. Wir glauben nicht mehr daran, dass Kobolde in unserem Haus wohnen, Feen in den Büschen nisten oder Zwerge in unseren Hügeln hausen. Die nichtmenschlichen Völker, seit Jahrhunderten mythologische Partner und Freunde der Menschen, werden uns fremd.
Ebenso verschwinden die Halbmenschen (Werwolf, Vampir, Satyr, Kentaur usw.) – entweder werden sie wissenschaftlich gedeutet und damit entmystifiziert90, entlarvt91 oder aber lächerlich gemacht.
Und letztendlich bleibt die Frage, was mit jenen magischen Wesen geschah, die wir fast komplett aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Es sind überraschenderweise die alchemistischen Figuren, die unser wissenschaftliches 20. Jahrhundert ausgemerzt hat. Wo verbergen sich Phönix, Basilisk, Greif, Einhorn und Salamander vor unseren Blicken?
e. Alternativen für die Zukunft
Wenn wir einen Verlust der Bindung von alten Bildern an magische Energie postulieren oder einfach behaupten, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Umstände auch in einer Veränderung der für Religion und Kult benutzten Bilder resultieren muss, so ist es unumgänglich, dass wir uns überlegen, welche Alternativen sich im Umgang mit dieser Situation bieten. Es gibt drei unterschiedliche Alternativen, die ich kurz vorstellen will.
1. Wir bleiben stur bei den alten Bildern, obwohl sie an Macht verlieren werden. Ich würde dies die Vogel-Strauß-Politik nennen, weil sie die Veränderung der Umstände einfach ignoriert und die Rückkehr in ein goldenes, mythisches Zeitalter zu postulieren scheint, in dem alles gut war und Magie immer funktioniert hat.
Leider ist es so, dass die hier verwendeten Bilder weiterhin an Macht verlieren werden. Die Bindung zwischen Bild und Bedeutung wird schwächer, das Band zwischen mentaler, magischer Assoziation und weltlicher Bedeutung wird immer dünner werden, bis es eines Tages zerreißt. Und umso mehr Bänder zerreißen, umso dünner und schwächer wird der Strang, der Mythos und Kult, der Glauben und Religionsausübung, Theorie und Praxis miteinander verbindet.
Die Ausbildung von neuen Funktionsträgern ist in dieser Alternative sehr schwierig, da die verwendeten Bilder schwächer sind als auf der Hand liegende Alternativen aus der Gegenwart. Potentielle Schüler werden sich – außer sie sind unheilbar romantisch … – eher für eine der anderen Alternativen entscheiden.
Die Zukunft für diese Alternative ist sehr fraglich, da sie immer in der Gefahr leben wird, konservativ statt konservierend zu arbeiten und in die volkstümelnde (faschistische?) Ecke abzurutschen.
2. Wir suchen uns völlig neue Bilder. Ich nenne dies die coole Lösung, weil sie immer versucht, einem magischen Zeitgeist hinterherzuhecheln, der genau einen Schritt vor uns herläuft.
Doch die hier benutzten Bilder haben eventuell nur kurzzeitig Macht; sie gelten zwar für unsere Zeit, aber nicht für die vorgehergehende Epoche und wahrscheinlich auch nicht für die folgende Epoche.
Die Ausbildung von Nachwuchs ist schwierig, da nicht garantiert werden kann, dass die Bilder noch in 50 oder gar 100 Jahren Macht besitzen. Und sicherlich kommt irgendwann im Laufe einer Ausbildung auch die Frage, wie man die Sicherheit solcher Bilder überhaupt garantieren will. Da es neue Bilder sind, deren Bedeutung erst in dieser Generation so signifikant geworden ist, dass sie für Magie eingesetzt werden können, kann man nicht aus ihrer Herkunft auf eine glorreiche Zukunft schließen. Die vom Schüler erwünschte magische Sicherheit ist nicht herzustellen. Überhaupt ist hier die Mystifizierung schwierig. Man vergleiche nur den Mythos hinter klassischen/modernen Alternativen wie Strom und Stecker mit Licht und Fackel, oder Pistole und Macht mit Messer und Macht.
Natürlich ist diese Richtung sehr hip, aber es erinnert mich immer ein wenig an moderne Freizeit-Rollenspieler a la Shadowrun oder Film-Freaks, die auch brav Matrix und Highlander sehen, bis sie die Dialoge mitsprechen können.
Die Zukunft dieser Alternative ist nicht vorhanden, da sie keine Vergangenheit hat und haben will. Doch der, der außerhalb der Zeit rein im Moment leben will, wird die Vergangenheit verlieren und die Zukunft nie kennenlernen.
3. Wir entschlacken die alten Bilder und versuchen herauszubekommen, was wirklich hinter den Bildern steht. Dieses gefundene wahre Ding transferieren wir dann in die Gegenwart und suchen uns ein zeitgerechtes Bild. Passend zu Platons Höhlengleichnis und seiner wahren Welt könnte man dies Platons Lösung nennen.
Ich halte dies von den drei vorgeschlagenen Lösungen für die sinnvollste Lösung. Sie verlangt Interesse an Vergangenheit und (!) Zukunft, eine Einbindung in Traditionen und einen Ausblick in die Zukunft.
Diese Lösung macht Ausbildung möglich, obwohl hier gefundene Bilder im Einzelfall schwächer sein können als neue Bilder (siehe Alternative #2) oder alte Bilder (siehe Alternative #1). Aber im gesamten Überblick wiegen die Vorteile dieser Lösung die Nachteile gegenüber den beiden anderen Alternativen bei weitem wieder auf.
Ich habe eben bei der Beschreibung der dafür nötigen Technik den Begriff transferieren gebraucht. Ich halte diesen Transfer für einen der wichtigsten Begriffe bei der Diskussion des Zusammenhangs zwischen Magie und Religion. Wir brauchen den Transfer von Bedeutungen und Begrifflichkeiten in die Gegenwart. Aber dieser Transfer wird bei magischen Gegenständen/Gebräuchen schwierig. Er kann eigentlich nur bei Religionen funktionieren, weil hier die Überlieferungslage besser ist und der Glauben einfacher zu erlangen ist als magische Ergebnisse (hier geht es um den Widerspruch zwischen subjektiver und objektiver Erkenntnis). Mit anderen Worten: Ich brauche einen Transfer von Bedeutungen in reale Gegenstände, um für ein Ritual – nein: für Magie allgemein – eine der Gegenwart entsprechende Darstellungsform zu finden. Dieser Transfer fällt mir einfacher, wenn ich einer religiösen Umgebung entstammte, weil Religion und Glauben sowieso den Transfer von Inhalten beinhalten. Wir müssen jetzt nur noch diese Transferleistung auf die Magie übertragen.