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2. Zur Religion

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a. Das Christentum

Es ist auch unter Heiden inzwischen unkritisch: Das Christentum ist die prägende Religion des Abendlandes, ist der Kulturträger der letzten zweitausend Jahre für Mitteleuropa. Was man auch immer über die Untaten des Christentums oder die eigenen theologischen Probleme mit dem Gotte-hochgenagelt92 haben mag, ohne das Christentum gäbe es unsere abendländische Musik nicht, unsere lateinische Schrift nicht, keine Kathedralen und keine Territorialstaaten.93 Das Christentum erklärt unsere Erziehung, färbt viele der Bilder vor, die wir für Magie und Religion benutzen und wieder für uns mit Beschlag belegen wollen. Schon allein aus diesem Grunde ist die Auseinandersetzung mit dem Christentum für unseren Glauben von Bedeutung. Viele unserer Bilder sind zwar heidnischen Ursprungs, doch christlich verbrämt. Wenn wir nicht in der Lage sind, den christlichen Anteil zu definieren, dann können wir ihn auch nicht aus den Bildern subtrahieren. Und unsere Bilder behalten dadurch einen christlichen Anteil, weil wir es eigentlich ablehnen, uns mit dem Christentum zu beschäftigen.

Das unsere Auseinandersetzung beim Gottbild (und nicht beim Kultus!) anfangen muss, dürfte klar sein. Der Kultus ist nur umgebendes Werk, ist nur Verzierung. Mit unserem Versuch, Bilder zu transzendieren sollte nachvollziehbar sein, dass wir das hinter dem Kultus liegende Bild zu erfassen trachten. Und da landen wir beim Christentum schnell beim Gottesbild.

Die christliche Religion ist – obwohl monotheistisch – nicht monolithisch angelegt. Es gibt nicht das einzige Gottesbild, sondern verschiedene, sich oft widersprechende Gottbilder. Ein Beispiel möchte ich kurz ausführen:

Dass Gott nur der All-Liebende sein kann, folgt einfach aus der Tatsache seines Schöpfertums. Wer schafft, will Leben und wer Leben will, liebt, und wenn sich das Geschöpf die Liebe des Schöpfers bewahrt, indem es sie erwidert, bleibt ihm auch der Wille und die Macht, neues Leben hervorzubringen. Die schöpferische Kausalität ist somit die Kausalität des Lebens und der Liebe.94

Wäre dieses Bild eines entrückten Schöpfergottes für Heiden akzeptabel? Wahrscheinlich schon. Da es jedoch ein christliches Bild ist, lehnen wir es instinktiv ab.

Wir verbinden viel zu oft Religion und Religionsausübung, Idee und Ausführung miteinander. Da wir als Heiden aber selten bis nie über eigene funktionierende Religionsgemeinschaften verfügen, sind wir auch schlecht auf Grund der allzu verständlichen Fehler der Gläubigen zu kritisieren (und wehe man erinnert einen Asatru ob der christlichen Zerstörungen in Südamerika an die Beutezüge der Wikinger!). Unsere diesbezügliche Kritik am Christentum greift also nicht, weil wir als Heiden selbst keine vergleichbaren Angriffsflächen aufzuweisen haben (obwohl wir sie dringend nötig hätten).

Das zweite Thema für die Auseinandersetzung mit dem Christentum ist die Magiekritik des Christentums. Das Christentum setzt die vom Christentum propagierte Menschwerdung Gottes gegen die von der Magie gelehrte Gottwerdung des Menschen.

Die Grundhaltung des magischen Denkens ist: Mein Wille geschehe, die Grundhaltung des religiösen Menschen aber ist: Dein Wille, Herr, geschehe! Es ist, als werde das Crowleysche Tu, was du willst, das ja letztlich nur das Eritis sicut Deus (Ihr werdet sein wie Gott) der Schlange im Paradies rekapituliert, immer mehr zum eigentlichen Losungswort der sich vom Christentum lösenden Zeitströmungen.95

Leider ist dies für viele (neu-)heidnische Gruppierungen wahr. Begriffe wie Demut und Glaube werden – wenn überhaupt – nur pervertiert wahrgenommen und benutzt. Dass es eine dienende Demut geben kann, heißt nicht, dass sie zur einzigen Möglichkeit der Demut werden muss. Wer demütig ist, der ist nicht immer unterwürfig. Und wer demütig ist, der ist nicht auch automatisch schwach. Unsere Magie macht sich oft einmal an der Stärke fest, die wir zu erlangen trachten, und nicht an den Gaben, die wir als Geschenk erhalten haben oder erhalten können. Magie ist ein Geschenk, genauso wie unser Leben, die Natur, der Kosmos überhaupt. Wir müssen uns dies ab und an ins Gedächtnis zurückrufen, wenn wir leichtfertig mit dem umgehen, was uns eigentlich nur geschenkt oder geliehen worden ist!

Auch das Menschenbild des Heiden ist kritikwürdig. Unsere Götter tragen menschliche, oftmals gar allzu menschliche Züge. Sie trinken, sie lieben, sie kämpfen, sie sterben. Natürlich ist es gerade diese Menschlichkeit im Vergleich mit dem entrückten Gottessohn des Christentums, welche die heidnischen Götter interessant macht. Aber es ist nicht so, dass die Götter zu uns herunterzogen werden. Oftmals erscheint es mir, dass durch diesen Kunstgriff eher die Menschen vergöttert werden sollen. Menschen, Göttern gleich! könnte das Schlagwort dieser Bewegung innerhalb des Heidentums sein. Wenn die Göttlichkeit so einfach zu erreichen ist – warum soll man sich dann noch nach ihr strecken? Oder – als Gegenbewegung zur eben angedeuteten Lethargie – man versucht, selbst zum Gott zu werden und die eigene Menschlichkeit zu überwinden. Und wenn wir wirklich so sein können wie Gott, nehmen wir dann nicht Gott oder den Göttern seinen/ihren Raum in der Schöpfung und ersetzen ihn/ sie durch einen Über-Menschen, der quasi halbgöttliche Rechte erhält? Nehmen wir nicht Gott oder den Göttern sein/ihre Sonderrolle, wenn wir sie nur zu Menschen mit besonderen Gaben machen?

Der christliche Gott ist zu entrückt, doch sind uns die heidnischen Götter nicht vielleicht manchmal zu nahe?

Uns Heiden treibt manchmal eine schon als manisch zu bezeichnende ablehnende Haltung gegenüber dem Christentum. Meinem Argument von vorher folgend ist es wichtig, die Grundstrukturen des Christentums (oder besser und richtiger: der vom Christentum geprägten Kultur des Abendlandes) zu verstehen. Und sei es nur, um mit Hilfe der Erfassung der Grundstruktur konsequent die christlichen Anteile aus dem heidnischen Glauben zu entfernen. Ob dies möglich ist, ohne dass wir damit auch grundsätzliche Aspekte unseres Glaubens verlieren, sei dahingestellt.

Es muss doch möglich sein, viele der Dinge, die wir als ursächlich christlich betrachten, als angenehm und/oder schön zu akzeptieren, ohne damit gleich die Hexenverfolgung, den Papst in Rom und die Eroberung Südamerikas samt gewaltsamer Missionierung der Indios zu akzeptieren. Positive Elemente des Christentums wären (ohne dass diese Auflistung irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt oder mehr sein kann als eine Liste meiner persönlichen Vorlieben) die Kathedralen, die christlichen (Blei-)Glasbilder, Choräle, Kerzen im Gottesdienst, Weihnachtskekse, der Einsatz von Weihrauch zur Reinigung/ Weihung von Gebäuden und die Verwendung von Glocken zur Vertreibung der bösen Geister bzw. zur Einladung zum Gottesdienst.

Ein ganz wichtiges Element des Christentums, das wir unreflektiert übernommen haben, ist die Priestersukzession. Ausgehend von der Idee, dass sich alle Priesterweihen auf die Weihe der Apostel durch Jesus zurückverfolgen lassen, hält das Christentum die Illusion aufrecht, dass alle Priesterweihen in einer ungebrochenen Reihe bis auf den Sohn Gottes selbst zurückgehen. Bei der Weihe eines neuen Priesters wird diese Original-Salbung also direkt von Gott und seinem Sohn an einen neuen Priester weitergegeben.96

Dieser Ansatz ist aber nur in Religionen interessant, in der es einen Religionsstifter gibt, der die Religion geoffenbart hat – daher der Begriff Offenbarungsreligionen für Christentum und Islam. Wir sind dieses Element der Legitimation von Priesteramt in unserer Kultur so sehr gewohnt, dass wir es (bewusst oder unbewusst) in viele heidnische Strömungen integriert haben – und das, obwohl wir uns von den Offenbarungsreligionen zu distanzieren suchen. Es scheint manchmal wichtiger zu sein, belegen zu können, welcher obskure irische Druide, welcher legendäre isländische Gode, welcher friesische Schamane oder von Gardners Stiefcousin initiierter Wicca-Priester achten Grades (mit Schulterpolstern und bunten Sternen am dreifach geflochtenen Band) einen selbst initiiert und legitimiert hat, als durch Handlungen und Taten zu beweisen, dass man die Befähigung zu Priestertum, Ausbildung und/oder Heilung besitzt.

b. Heidnische Adaptionen

Es ist bekannt, dass sich das Christentum u.a. heidnische, germanische Elemente zu Nutze gemacht hat, um seine Verankerung in der Bevölkerung Deutschlands möglich zu machen. Natürlich sind weder unser Osterfest noch Weihnachten (samt Nikolaus) von der Ausgestaltung her christliche Feste. Es sind heidnische Feste, die mit christlichen Themen verknüpft worden sind.

Jedoch ist dieser Prozess keine Entwicklung, die nur für das Christentum typisch wäre. Auch im Heidentum wurden (und werden) Götter auf die Bedürfnisse der Kultur adaptiert:

Der Kampf zwischen Wanen und Asen ist die Erinnerung an einen uralten, besonders in Schweden ausgefochtenen Kulturkrieg zwischen dem älteren Freysdienste und dem jüngeren, von Deutschland über Dänemark eindringenden Odinskult. Der Wanenkult ist überwiegend eine Naturreligion; die erzeugenden und dem Menschen wohltätigen Kräfte der Natur werden personifiziert und verehrt. Der Odinsdienst und Asenkult ist dagegen eine mehr anthromorphische Religion; die menschlichen Kräfte, die als die höchsten galten, d.h. die imstande waren, Macht zu erwerben, Weltherrschaft, werden hypostatisiert und verehrt.97

Ebenso adaptieren wir Heiden Naturreligionen wie z.B. den Glauben der Indianer oder das Weltbild (und die Musikinstrumente …) der Aboriginees auf unsere Bedürfnisse. Um diese Religionen und ihr Weltbild für unsere Kultur anwenden zu können, müssen wir sie adaptieren, obwohl diese Religionen von ihrem Selbstverständnis lokal und völkisch98 für einen begrenzten Rahmen – eben den Lebensraum der entsprechenden Kultur – gedacht sind. Meiner Ansicht nach würden wir es als zumindest befremdlich empfinden, wenn Indianer oder australische Ureinwohner Asatru oder Keltoi werden wollten, isländische und irische Lieder singen, Met herstellen und nach einem mythischen Land im westlichen Meer suchen. Doch wenn diese Adaption in die Gegenrichtung stattfindet, und wir uns fremde Kulturen einverleiben, dann ist das alles schon in Ordnung. Mir scheint es so, als wollten wir Europäer uns für Jahrhunderte politischer Hegemonie dafür entschuldigen, dass wir die einst unterdrückten Kulturen importieren und damit psychologische sowie religiöse Wiedergutmachung leisten.

Neben der Adaption von irdischen Mythen fremder Kulturen gibt es noch eine andere Möglichkeit, um zu versuchen, die verlorenen heidnischen Mythen zu ersetzen. Diese Möglichkeit ist die Neuschaffung von Mythen. Neben Einzel-Phänomen wie Star Wars oder Star Trek dürfte hier der Boom der Fantasy-Literatur99 in den letzten zwanzig Jahren gelten (immerhin ist die Zahl von Fantasy-Welten, die durch Romane erschaffen und beschrieben worden sind, inzwischen Legion), aber auch der Siegeszug der Brett- und Live-Rollenspiele.

Ein Teil der literarischen Kunstmythen samt der Erschaffung neuer Welten ist als religiöser Ansatz gedacht. So findet man z.B. bei den Inklings, besonders bei Tolkien und Lewis, immer wieder starke christliche Motive. Lewis schrieb seine Narnia-Serie unter der klaren Prämisse, christliche Ideale in Fantasy-Motive zu verpacken. Cleverer – im Bezug auf die Verkäuflichkeit – sind da die Religions- und Kultgründungen, wie der Shaver-Mythos und Scientology/Dianetics.100

Gerade in der Heidenszene spielen moderne Kunstmythen eine große Rolle. Genannt werden könnten Highlander, Star Wars, der Herr der Ringe und Star Trek. Die Verkaufszahlen von Fantasy und Science Fiction dürften belegen, dass ein großes Interesse an Mythen in der Bevölkerung vorhanden ist. Und auch in unserer Gesellschaft, die so viele ihrer eigenen Mythen verloren hat, ist es augenfällig, dass der Wunsch der Menschen nach eben diesen durch erfundene Mythen substituiert wird.

c. Folgerungen

Im Rahmen der Aufklärung, der Entzauberung der Welt, ist die Verbindung zwischen Mensch und Gott zerrissen bzw. zerschnitten worden. Umso mehr Lebensumstände wir uns mit wissenschaftlichen Regeln erklären konnten, desto weniger brauchten wir Gott als erklärenden Umstand. Und das Verständnis der Regeln der Schöpfung dämpfte unser Interesse an dem Sinn der Schöpfung. Zu spät haben wir erkannt, dass wir zwar die Grundlagen der menschlichen Entwicklung wissenschaftlich erklären können, doch nicht den Sinn der Erschaffung von intelligenten Wesen in unserem Sonnensystem. Es ist eben doch noch Raum für den Schöpfer in der wissenschaftlichen Gleichung.

Die Menschheit hat in den letzten Jahrhunderten viel gelernt. Aber jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, wo das Lernen alleine uns nicht mehr glücklich macht und das Fühlen seinen Platz zurückerhalten muss. Stirn und Hand, das ist das Motto unserer Zeit. Doch das Herz, das ach so schmerzhaft nach Antworten auf uralte Fragen stöhnt, muss auch befriedet werden.

Die Bedeutung von Kult, Gebet, Gottesdienst und Opfer ist verloren. Diese Begriffe sind aus unserem täglichen Leben verschwunden. Aber der Bedarf danach ist noch vorhanden. Wir brauchen Mythen, weil wir zusätzlich zur rationalen Erklärung der Welt einer irrationalen Erklärung bedürfen! Die Magie erfüllt diesen Wunsch nach Irrationalität.

Ich habe aufzuzeigen versucht, dass es die Transzendenz ist, welche uns die Magie ermöglicht, die uns auch wieder an die Religion bindet. Doch das Erkennen dieser Transzendenz ist eine reine Geistesleistung, kein Ergebnis eines religiösen Fühlens und Sehnens, das uns nach Gott verlangen lässt. Doch nicht nur unser Geist bindet uns an Gott – ebenso sind wir mit Gott über Herz und Seele verbunden. Die Wissenschaft beantwortet die Fragen unseres Verstandes, doch bei der Beantwortung der Fragen unserer Seele hat sie kläglich versagt. Wir Heiden sind auch alle Kinder der wissenschaftlichen Aufklärung, doch wir haben uns jenen Zauber erhalten, der uns immer wieder fragen lässt, warum die Sterne am Himmel leuchten und warum uns Gott mit Gefühlen versehen hat. Wir sind Kinder der Wissenschaft, aber Enkel der Magie. Und alles stammt von Gott.

Beenden will ich diesen Text mit den Aussagen über Religion von jemanden, der dies wesentlich schöner formuliert hat, als ich es werde je formulieren können; Thomas Morus.

Von den religiösen Anschauungen der Utopier. Die religiösen Anschauungen sind nicht nur über die ganze Insel hin, sondern auch in den einzelnen Städten verschieden, indem die einen die Sonne, andere den Mond, die einen diesen, die anderen jenen Planeten als Gottheit verehren. Es gibt Gläubige, denen irgendein Mensch, der in der Vorzeit durch Tugend oder Ruhm geglänzt hat, nicht nur als ein Gott, sondern sogar als die höchste Gottheit gilt. Aber der größte und weitaus vernünftigste Teil des Volkes glaubt an nichts von alledem, sondern nur an einziges, unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die Fassungskraft des menschlichen Geistes übersteigt und durch dieses gesamte Weltall ergossen ist, als wirkende Kraft, nicht als materielle Masse; ihn nennen sie Vater. Ihm allein, sagen sie, dient Ursprung, Wachstum, Fortschritt, Wandel und Ausgang aller Dinge zum Wohlgefallen, und keinem anderen außer ihm erwiesen sie göttliche Ehren.101

Drei Dekaden

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