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6. Zur sinnlichen Lust in protestantischer Sicht
ОглавлениеNicht nur in der römisch-katholischen Kirche und nicht nur in der ostkirchlichen Orthodoxie, auch in den reformatorischen Kirchen können wir noch heute auf sehr negative Einstellungen zur Sexualität treffen. Dies hat natürlich geschichtliche Hintergründe, die weit zurückreichen.
Nicht grundsätzlich anders als im traditionellen Katholizismus sah auch Martin Luther im Ehestand einen doppelten Sinn: Kinder zu zeugen und in Keuschheit, d. h. frei von Unzucht, zu leben. Diese Auffassung der Ehe ist nun zwar – so der dänische Lutheraner Knud Løgstrup – »nicht so zu verstehen«, dass nicht »auch herzliche Hingabe und gegenseitige Rücksichtnahme« für Luther bedeutsam waren.22 Aber die einseitig funktionale, an der Zeugung von Nachkommenschaft und an der Zähmung des Geschlechtstriebs orientierte Deutung von Ehe und Partnerliebe bleibt bei Martin Luther doch unverkennbar.
Mit den asketischen Vorstellungen der frühchristlichen und mittelalterlichen Mönche hat der Wittenberger Reformator nie vollständig gebrochen. Luther, der öffentlich zugab, dass er »weder Holz noch Stein« sei,23 baute zur Sexualität eine ambivalente Beziehung auf. Einerseits sah er im Sexualtrieb eine in der Schöpfungsordnung begründete, also gottgewollte Energie. Andererseits aber erklärte er die sinnliche Lust als solche für sündhaft! Diesen Widerspruch glaubte er dadurch zu lösen, dass er zwischen Fortpflanzungstrieb (instinctus procreandi) und sexueller Lust (libido) unterschied. Aber diese theoretisch zwar richtige Unterscheidung bringt wenig. Sie führt eher zu kuriosen Konstrukten, aber wohl kaum zu einer positiven Wertung der sinnlich-erotischen Liebe und der spielerischen, zweckfreien Zärtlichkeit.
Fatalerweise bezeichnete Luther die Ehe als »Spital der Siechen«!24 Womit er wohl sagen wollte, dass Gott mit der Sündhaftigkeit des Geschlechtstriebes insofern Erbarmen und Nachsicht übe, als ja die Ehe vor der noch größeren Sünde der Unzucht und der Hurerei bewahren werde – sofern nur die Geschlechtslust gemäßigt und einigermaßen beherrscht wird.
Die Abwertung von Sexualität und erotischer Leidenschaft wurde in der evangelischen Christenheit nur partiell überwunden Gewiss nicht im gesamten Protestantismus, aber in sehr konservativen und evangelikalen Zirkeln, zum Teil auch in pietistischen Kreisen, ganz besonders auch in manchen evangelischen Freikirchen wird die gelebte Sexualität – in domestizierter und lustloser Form – allein in der Ehe zugelassen. Jeder »Sex vor der Ehe« und jede Intimbeziehung nicht verheirateter Paare werden verteufelt.