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Alike und Fritz haben das Zimmer an eine Finnin vermietet, sie spricht Russisch. Emmert, der sanfte fliegende Schwabe, war bei ihnen, wollte mich zur Flucht überreden, die Russen stünden 100 Kilometer vor Berlin. Stiefvater sagt dasselbe. Er hat noch ein großes Stück Leder, er macht mir Stiefel, sagt: »Flieh in den Westen, nach Uelzen. In Berlin werden sie sich treffen, die Amerikaner, die Russen, aber geh trotzdem.«

»Ich hab keine Reisegenehmigung, werd auch keine bekommen.«

»Versuch’s mit dem Rad, nachts.«

»Vielleicht kommt Wenk, vielleicht kommt Wlassow.«

»Wenn es sie gäbe, wärn sie schon da«, sagt Stiefvater.

Im Februar meldet der Sonderbericht 300 Tote in Uelzen. Keine Post, kein Telefon, ich weiß nicht, ob Mutter unter den 300 ist. Die Tobis ist beim letzten Nachtangriff abgebrannt. Er ist zu Haus, hört Nachrichten, geht in den Keller, hört Nachrichten. Duwe wird eingezogen, zum Volkssturm. Ich will zur Bongers, komm nicht hin, nahtlos werden wir bombardiert, von den Amerikanern, den Engländern und manchmal von den Russen – mit alten hilflosen Krähen kommen sie, ratternde, fette Krähen, die keuchend über Baumspitzen hopsen. .

In Dahlem-Dorf soll’s Vierfruchtmarmelade geben. Ich stell mich an. Sie stehen in langer Reihe, flüchten in Hausflure, stellen sich wieder an, reihen sich ein. Lastwagen klappern vorbei, oben Frauen mit Kindern, Flüchtlinge aus Frankfurt an der Oder, aus Strausberg, aus Spindlersfeld. Sie rufen: »Haut ab, die Russen vergewaltigen euch, schlagen euch tot! Eine kreischt: »Meinen Mann haben sie gekreuzigt, an die Tür genagelt, meiner Schwester haben sie die Brust abgeschnitten, haut ab!« Ein russisches Flugzeug kommt, langsam, gelangweilt, wirft zwei Bomben, sie explodieren neben dem Laster, reißen ihn auseinander.

»Ist das wahr, was sie über die Russen sagen?«

»Ja, es ist wahr.« Auf dem Schreibtisch liegt ein Gewehr. »Ich bin eingezogen zum Volkssturm«, sagt er.

Im Radio röhrt Lisztsches Prélude, Goebbels spricht, schreit von Vorsehung, Gerechtigkeit, vom Endsieg, der Wende, der großen Wende, Roosevelt ist tot, die russischen Kannibalen, die bolschewistischen Untermenschen – jetzt werden wir sie besiegen, die amerikanischen Kriegshetzer aus dem Lande treiben.

»Ich kann’s nicht mehr hören, er soll die Schnauze halten«, sag ich, fang an zu weinen.

»Glaub mir doch, es wird alles gut.«

»Laß uns fliehen, vielleicht kommen wir bis Uelzen.«

»Sie würden mich erschießen, wegen Fahnenflucht.«

»So erschießen dich die Russen oder die Amerikaner oder was weiß ich.«

Ich weine, ich tobe, ich bin verzweifelt, hab’Angst, Panik, wie früher, ganz früher. Er muß zum Übungsschießen, sagt er, geht weg, seine Skistiefel kratzen im Kies, die Gartentür schlägt zu, ich bin allein, denke: wenn doch bloß eine Bombe auf dieses gottverdammte Haus fällt, ich geh nicht mehr in den Keller, ich will, daß sie mich trifft.

Es murmelt in der Ferne, ein fremdes, unbekanntes, nie gehörtes Murmeln, wie heiseres Hundegebell oder Gewitter oder Lastwagen oder Züge – ich weiß es nicht. Es klopft. Ein Uniformierter steht da, irgendeiner vom Volkssturm, sagt Frau von Demandowsky zu mir, sagt, ich soll mich ruhig verhalten, im Keller bleiben. Ich frage, was ist das Murmeln – die Artillerie, sagt er, russische Artillerie.

Am 18. April wird Uelzen von englischen Truppen besetzt, das Radio meldet: Nach heldenhaftem Kampf hat sich die Stadt ergeben.

»Morgen muß ich mich im Hauptquartier Schmargendorf melden.«

»Nimm mich mit«, sage ich.

»Das geht nicht.«

»Dann erschieß mich. Ich bleib nicht hier, ich warte nicht, bis sie kommen, mich vergewaltigen, mich erschlagen.«

»Das geht nicht«, sagt er.

Es muß, sag ich. Ich fülle Slibowitz in zwei Feldflaschen ab, grabe ein Loch neben dem Zaun, lege den umwickelten Mumiendeckel rein, setze Baskenmütze auf, Stahlhelm drüber, zieh seinen Rollkragenpullover, meine Luftschutzkellerhose, Stiefvaters neue Stiefel an. Wir nehmen die Räder, fahren nach Schmargendorf. Die Straßen sind still, sind leer, ausgestorben, vergessen, sie sitzen in Kellern, sie warten. Das Murmeln ist deutlicher, ist näher. Die Bomber sind weg, sie überlassen’s den Panzern, der Artillerie, der Infanterie. Es ist still, bis auf das Murmeln. Ich hab’ Magenschmerzen, Bauchschmerzen, das Rad stuckert und springt, verklemmt die Lenkstange, ist eselbockig, ich kann nichts denken, nichts fühlen – habe Magen-, habe Bauchschmerzen.

Wir fahren zum Stab, zum Hauptquartier. Sie geben mir eine Jacke, eine ausgebeulte italienische Mütze, Koppel, Maschinengewehr, Munition, Handgranaten, Pistole. Ein schwammiger Schwabbliger brüllt mich an: Name, Alter – bei 19 stockt er, guckt mich an aus zusammengekniffenen Augen, die sagen, was machst du hier, warum nicht draußen an der Front, du Schwein. Nimm das Ding ab, brüllt er. Ich nehm den Stahlhelm runter, Mütze, er grinst, sein Gesicht wird breit, zerläuft, er schlägt sich auf Schenkel, heult vor Lachen: Ein Meechen, brüllt er – willste mitmachen? Jawohl, melde ich. Tapfer, tapfer, die Kleene, wiehert er. Ein paar Leutnants stehn rum, dürr, müde, lächeln mir zu, wollen sagen, gehörst zu uns, könntest in meiner Klasse gewesen sein, laß den Dicken wiehern. E. v. D. steht straff stramm, sagt: Meine Braut. Blöde hört sich das an, meine Braut, mitten im Hauptquartier stellt er mich vor wie beim Verlobungsessen – seine Braut.

Sie schnallen mir die Munition um, zeigen mir, wie man Pistole sichert – entsichert, sagen: Schieß mal da raus auf die Kanne. Ich treff sie. Sie rufen Bravo, sind begeistert, glitzern mich an. Zwei Soldaten und zwei Volkssturm-Alte, er und ich werden eingewiesen, Parterrewohnung Schmargendorf, Fenster raus, Läden geschlossen, umgeworfner Kleiderschrank, Bett ohne Matratze. Sie lehnen die Karabiner an die Wand, legen sich auf den Boden, sagen: Wer schiebt Wache? Schlafen, schnarchen, stieren vor sich hin. Es poltert an der Tür, zwei kommen, schleppen Topf mit Pellkartoffeln, sagen: Der is euch zujeteilt. Hinter ihnen steht einer, klein, spillrig, picklig, nicht älter als fünfzehn, behangen mit Maschinengewehr, Handgranaten, Pistole. Der Schnarcher wird wach, glotzt verdöst, zieht hoch, rülpst, bellt: Dazu bin ick nu aus Stalinjrad raus, damit ick hier mit Säuchlingen und Weibern … den Rest schenkt er sich. Steht auf, geht pinkeln. Der Kleine guckt böse, rachsüchtig.

Ich krieg ein Klappmesser, pelle an den Kartoffeln herum, sie glitschen aus der Hand, es knallt an die Fensterläden, der Junge zieht die Pistole, die Sicherung macht klick, der Stalingrader haut ihm auf die Pfote, brüllt: Det fehlt noch, daß de hier rumballerst, möchste wohl. Draußen blökt einer: Stellungswechsel, Bunker gegenüber. Der Junge sagt kleinlaut: Na, dis hätt ja auch der Feind sein könnt’ – Ach, halt’s Maul, sagt unser Frontkämpfer, polkt in Zähnen, guckt angewidert. Wir rennen über die Straße, die tote, stille, leere, machen Krach, scheppern wie fünfzig Gäule. Das Murmeln hat aufgehört. Wir stehen vorm Bunkereingang, horchen, ja, das Murmeln hat aufgehört. Wir sehn uns an: Vielleicht sind sie abgezogen, sind weg, sind zurück, zurück nach Moskau, haben sich’s überlegt, sind unergründlich. Der Stalingrader vernichtet heimliche, leise, warme Hoffnung: Det ham die so an sich, Funkstille, bevor’s richtig losjeht.

Im Keller wimmelt’s: Landser, alte, junge, ganz junge, Volkssturm, SS, Uniformen zusammengestückelt wie Faschingskostüme. Es riecht nach Schweiß, nach Kohl, nach Nichtgewaschen. Keiner spricht, sie deuten mit Daumen auf eine Bank, wir sitzen da, pellen Kartoffeln. Ich stoß ihn an, sein Messer fällt runter, er zischt: Paß doch auf. Ich beiß auf die Unterlippe, will nicht heulen, hier vor allen. Ich beiß, bis es vergeht, denke: das muß ich mir abgewöhnen, aber schnell, die Plärrerei. Ein Leutnant, ein junger, lümmelt an der Wand, besieht seine Hände, murmelt: Schnauze. E. v. D. sieht hoch, wird rot, wird schmallippig, wird weiß, ist es nicht gewöhnt, daß einer Schnauze sagt – vom Generaldirektor zum Schnauzehaltensoldaten – er schluckt, schnauft, pellt weiter.

Die Bunkertür dröhnt, ein SS-Offizier kommt rein, Stahlhelm, Schaftstiefel, blitzend blinkend, ruft: Wache einteilen! Der Leutnant sagt: He du da – winkt E. v. D. Er steht auf, geht mit drei andern raus. Ich sitz auf der Bank, horche, horche über das Atmen hinweg, über das leise Klirren der Munitionsgurte, der Stahlhelme, über das Schnarchen. Draußen bleibt’s still.

Nach zwei Stunden ist er wieder da. Er legt den Kopf auf den Tisch, schläft ein. Um vier Uhr wird die Tür aufgerissen: Alarm – Raus mit Waffen – Licht aus. Ich nehme die Handgranaten, das MG, lauf hinter ihm her. Fünfzig Meter weiter ist ein Ruinenkeller, zwei Ratten sitzen auf den Stufen, pfeifen, gucken rotäugig, scharren vorbei. Im Keller ist Wasser, wir hocken uns auf die Stufen, legen die MGs auf die Mauer, warten. Ich sortiere die Handgranaten säuberlich, vorsichtig – sie liegen wie Taubeneier. Er flüstert: Vergiß nicht – abziehn, zählen, weg. Stille. Nach zwei Stunden robbt einer ran, zischt: Kommt mit.

Wir kriechen ihm nach, zurück in den Bunker, sie stehen in den Gängen, in den Nischen, eine Lampe macht Rußringe, flackert, blakt, sie stehen hilflos ergeben verwundert verärgert verängstigt kühl müde tapfer gleichgültig, sehen auf die Tür, sehen auf uns, erwarten Erlösung aus der Stille. Um zehn wird die Wache eingeteilt, er muß raus, ich will mitgehen, der Leutnant sagt: Du bleibst hier. Mittags fängt’s an zu murmeln, gleichmäßiges Murmeln – plötzliches Ratatata eines Maschinengewehrs. Dann Stille – vier Stunden Stille. Um sechs renn ich raus, an dem Leutnant vorbei, renn raus, bevor er mich halten kann. Ich suche ihn in der Ruine, auf der Straße, höre ratatata, keuche zurück, lieg vorm Bunker. Bei den Füßen fängt es an, das Zittern, das Schütteln schleicht rauf, den Körper rauf, rüttelt, bis die Zähne klappern, bis mein Gesicht auf Grasbüschel auf Steine schlägt, ich weine ich schluchze weine hemmungslos will nicht mehr leben will nicht mehr warten auf ratatata auf ihn auf das was ich nicht kenne auf das Namenlose – sie zerren mich rein, setzen mich auf die Bank, sind sanft, verstehen, kennen das; ich spucke, weine, schüttle. Sie sagen, jaja is jut, so is det eben, ham wa alle hinter uns. Geben mir Taschentücher, schwarze, verklebte, Rotzlappen, gucken weg, warten, bis es aufhört. Ein Schluchzer, ein gewaltiger, kommt aus dem Bauch, reißt mir den Mund auseinander, echot durch den Keller. Er kommt wieder, keiner sagt’s ihm, er weiß es nicht, wird’s nie wissen.

Um fünf Uhr früh kommt das Trommelfeuer, sie rufen, sie schreien, Hälse dick, Adern auf Stirn, auf Schläfen, ungehört verschluckt verschlungen vom Ahh Summ Ahh Summ Ahh Summ. Schlimmer als Bomben, als Luftminen, als Phosphor, schlimmer als alles, das Ahh Summ Ahh Summ Ahh Summ, sie fliegen nicht weg, wenn die Bäuche leer, sie bleiben, kommen näher, sind körperlich nah, sie fassen dich an. Ich nehm das Klappmesser, steck’s in den Stiefel, werd ruhig, denk: wann’s passiert, bestimmst du, schneid längs, nicht quer, längs vom Gelenk rauf. Die Eisentür rast aus der Füllung, schlägt gegen die Wand, erschlägt zwei Alte, bricht Beine, nagelt Arme an die Mauer. Wir jagen raus, sausen in Löcher, dampfende Löcher, rasen zur Ruine, fallen über MGs über Erdklumpen – die Handgranaten, Mensch, die Handgranaten, wenn sie bloß nicht explodieren …! Sie hängen am Gürtel, ich fall drauf: wenn sie bloß nicht explodieren. Wir liegen im Wasser auf Steinboden, halten uns umklammert, können nicht atmen, Luftdruck macht Wellen im Kellerwasser, klatscht um uns rum. Nach zwei Stunden hört’s auf. Wir torkeln hoch, rutschen über glibbrige Stufen, sind oben, sind wieder unten, bleiben liegen, atmen keuchen zerren am Koppel reißen am Stahlhelm bleiben liegen. Der Bunker ist weg. Drei Tiefflieger kommen, mähen mühsam durch die Luft, schießen nicht, werfen nicht, scheppern über Kraterfeld; Geier, Friedhofsvögel, wollen sagen: so wird’s gemacht.

Oben klirrt’s. He du – ruft einer. Augen seh ich und Stahlhelm, Gesicht ist schwarz, verschmiert. Komm raus, ruft er. Einer von der SS.

Was ist mit den andern?

Die hat’s erwischt, sagt er. Wir troddeln ihm nach, kommen an ein Haustor, der Stalingrader ist da, liegt in der Ecke und pennt. Ich hak die Feldflasche vom Gurt, der Slibowitz läuft übers Kinn in die Jacke, trink wie ein Huhn, krieg’s in die Nase, spucke, trink die halbe Flasche aus. Schlaf ein. Ich werd wach, schrei, werd wach vom Schrei. Er liegt neben mir, hält mein Gesicht, sagt: Ist doch gut, ist schon gut. Es ist dunkel, es ist kalt, die Kälte sitzt in den Knochen, in den Beinen, im Kopf. Ein Streichholz beleuchtet einen Arm, eine Uhr, Knobelbecher, Hosen, Stahlhelme. Geht aus.

Jesunden Schlaf hat se – hör ich – verschläft ne Stalinorjel.

Auf meinen Beinen liegt was plattes Helles: Was ist das?

Der Stalingrader hat ihn organisiert, ist ein Trenchcoat hier aus einer Wohnung.

Wie spät ist es?

Elf rum.

Um fünf geht’s wieder los. Pünktlich wie die Maurer – brüllt einer, dann liegen wir flach, bleiben flach zwei bis drei Stunden lang, rennen an Hauswänden entlang, springen in Nischen, Tore, Bombenlöcher, ratatata macht’s. – Sind das unsre? frag ich. – Nee. Ich will raus aus dem Loch, einer brüllt: Zieh den Mantel aus, biste verrückt? mit dem Mantel! Regt sich auf, läßt Luft ab, schnappt über: Mensch, mit dem Mantel latscht die los, mit nem hellen Mantel, läßt sich abknalln wie’n … er sucht Vergleich, findet nicht. Er hält ein Nasenloch zu, rotzt auf den Boden, nimmt den Stahlhelm ab, hängt ihn aufs Gewehr, schiebt es nach oben, wartet, bssss macht es. Er zieht das Gewehr runter, sagt Scheiße. Wir liegen zu viert in dem Loch, gucken uns an. Schießen jut, die Russen, sagt er anerkennend, wie beim Schützenfest. Er versucht’s noch zweimal. Bssss macht’s. Aus den Schrebergärten kommt’s. Wir schieben die MGs nach oben, legen sie auf den Rand, nehmen die Munitionsgurte von der Schulter, stecken Pistolen in Jackentaschen, ich mach klick klick mit der Sicherung, merk’s nicht, sie gucken mich an, sind wütend. Kettengerassel, Dröhnen, Quietschen: Panzer. Ich halt’s nicht aus, spring hoch, über mir macht’s bssss, an der Ecke stehn sie. Wie sehn se’n aus? fragt der mit dem Gewehr.

Einer hat’n Holzkocher, und Kreuze haben sie drauf.

Mensch, das sind unsre! Er brüllt, lacht, ist glücklich.

Wir warten, bis es dunkel wird. Springen in Abständen raus aus dem Loch. Die Panzer sind noch da, Rohre auf die Gärten gerichtet.

Im Hauptquartier steht ein Kommandeur, ein neuer, schnauzt rum, läßt strammstehen, ich zieh den Stahlhelm tief ins Gesicht, will nicht, daß er was merkt, will nicht, daß er sagt, Weiber ham hier nischt zu suchen, will nicht im Keller sitzen, ohne ihn, will nicht ohne Pistole, ohne Handgranaten sitzen und warten, bis sie kommen. Sie stehen da zusammengedrängt, sind zwischen 14 und 70, machen Riesenschatten im Funzellicht. Zwei Leutnants schieben sich durch, sehen uns an, prüfen Waffen, prüfen Munition, teilen ein: Bahnstellung Schmargendorf – 10 Mann, wir gehörn dazu. Sie beschreiben den Weg, wir stehn stramm, machen Kehrtmarsch, haun ab. Da sind zwei, die schon in Rußland waren, zwei Pimpfe in Hitlerjungenuniform, der Rest Volkssturm und SS. Wir halten Abstand, zehn bis zwanzig Meter, rennen, springen, robben, kommen an den Bahndamm, auf den Güterplatz, Schienen, freies Gelände, vergessene Güterzüge – sie haben uns entdeckt, die Scharfschützen. Wir springen wie Känguruhs, springen über Gleise, schmeißen uns unter Waggons, warten, bis der nächste drüben ist. Bssss macht’s, bssss, bssss. Ein Junge stolpert über den Schotter, die Bohlen, springt auf, schreit, brüllt, ruft: Mutter – verdreht die Beine, zuckt, starrt in den Himmel, starrt endlos. Unter einem Waggon sitzen drei Landser, sitzen da, rauchen, gucken, begutachten. Ich sause auf einen drauf, hau mir den Stahlhelm runter, der glotzt mich an, offener Mund, Zigarettenstummel klebt an der Unterlippe, glotzt mich an, sagt: Mensch … wat suchsten du hier? Die sitzen da wie beim Sonntagskaffee in der Laubenkolonie, fragen wat suchsten du hier. Ich schieb den Stahlhelm rauf, Haare drunter, sag: Ostereier. Sie grinsen, geben mir ne Zigarette, sehen rüber aufs nächste Gleis. Da stehen Tanker, Öltanker. Kacke, sagt einer. Noch 200 Meter bis zur Stellung, dazwischen die Öltanker. E. v. D. liegt drunter, versucht wegzukommen. Ich geb die Kippe zurück, duck mich, zieh mich zusammen, mach einen Satz, bin an der Böschung; hinter der Böschung – zwischen Tennisplatz und Bahngleisen – liegt die Stellung: zwanzig Erdlöcher, links eine Laube, rechts ein Schuppen mit Harken, Spaten, Gießkanne. Vor der Tür sitzt ein Leutnant, ein junger, mit Tarnzweigen um Helm, um Schultern, sitzt auf umgedrehtem Wassereimer, sieht aus wie was aus Sommernachtstraum; er hält ein Fernglas, stiert Richtung Tennisplatz. E. v. D. winkt, ich soll in die Laube. Es ist kalt, es regnet, es pladdert, der Boden ist aufgeweicht, die Löcher voll Wasser, ich kriech rüber, vorbei an den Löchern, an dem üblichen Mischmasch: Volkssturm HJ SS Militär. In der Laube hockt ein Oberleutnant, hat ein Karnickel zwischen den Knien, sticht ihm ein Messer hinters Ohr. Ich steh stramm. Blick geradeaus auf Regal, auf Handtuch, rotbesticktes: Eigener Herd ist Goldes wert. Der Oberleutnant guckt aus Hellen, Grellen, Farblosen, guckt und lächelt. Etwas Spitzes schlägt an meinen Hals, klirrt gegen den Helm, ich rutsch zusammen, will nicht Angst zeigen, versuch ein Grinsen. Feuertaufe, sagt er, schmeißt das Karnickel in die Ecke, geht raus.

Der Regen hämmert aufs Dach, kleckert durch, macht Pfützen. E. v. D. sieht Zigaretten, sie liegen auf dem Tisch, haben braune Flecken, werden feucht, werden naß, lösen sich auf, ich murmle: Nimm doch, eine merkt der nicht. Er schüttelt den Kopf, sieht weg. Es bumst an die Wand, der Oberleutnant ruft: Mitkommen. Draußen liegt einer von der SS, hat schwarzroten Punkt an der Stirn, hat Augen auf. Der Oberleutnant drückt die Lider, winkt dem Leutnant, der robbt ran mit Spaten. Wir bücken uns, zerren an Beinen, an Armen. Zu dritt buddeln wir legen ihn rein, in den Modder, in den Regen, schippen zu, rutschen ins Loch, ins leergewordene. Orrräää brüllt’s drüben, weit hinten, hinter den Tennisplätzen. Die brüllen wie die Affen, sagt der Leutnant: Wenn sie angreifen, brüllen sie wie die Affen. Er hebt die Faust, schlägt sie runter, der Matsch spritzt hoch, dann faucht’s und rattert’s und wütet’s aus zwanzig MGs, wir reißen unsers hoch, stecken den Munitionsgurt rein – es rast, macht sich selbständig, schlägt um sich, ist heiß, wird stumm, blockiert. E. v. D. nimmt es, kriecht raus, rennt zur Laube. Hinten brennen Häuser und zwei Holzbaracken. Das Wasser gluckert um mich rum, es reicht bis zu den Knien, der Leutnant springt rein, duckt sich, zündet eine Zigarette an, hält die Hand über die Glut, läßt mich ziehen. Wir stehen dicht zusammen wie in der Tanzstunde beim langsamen Walzer, er zuckt mit dem Kopf, deutet auf Tanker, sagt: Wenn da Öl drin ist, sind wir geliefert.

Es wird dunkel, es regnet, regnet ohne Pause, regnet Strippen regnet Schnüre. Weit hinten, hinter den brennenden Häusern, bullert’s – das Bssss Bssss hat aufgehört. Unsere MGs sind Mist, sagt er. Wenn wir bloß eins vom Iwan hätten, dem macht der Matsch nichts aus. Ich zeig ihm die Handgranaten, er sagt: Bloß nich, die haun womöglich gegen den Zaun und kommen zurück.

Ich muß pinkeln, dringend, fürchterlich, es ist wie die Magenschmerzen, die Bauchschmerzen, ich kann nichts andres denken, nur: ich muß, muß pinkeln. Der Leutnant raucht, murmelt, bleibt. Ich hock mich tiefer, tiefer ins Wasser, nehm die Pistole, halt sie hoch, hock mich – lehn mich an, als sei ich müde, könnt nicht mehr stehen. Es läuft die Beine entlang, läuft ins Wasser, vielleicht merkt er’s, vielleicht nicht, ist egal. In der Kälte wird’s warm, wohlig warm, dankbar bin ich, zufrieden, hab Hunger, bin müde. E. v. D. kommt, hat das MG, hat eine Büchse mit Käse. Der Leutnant kriecht raus, verschwindet im Regen, in der Finsternis. Letzte Zuteilung, sagt E. v. D. – Der Oberleutnant ist weg, Lebensmittel organisieren, kommt morgen wieder. Wir essen den Käse. Ich bin müde, sagt er, mein Gott, bin ich müde. Ich sage: Ich schieb Wache, geh zurück in die Laube. Er sagt: Ja gut, ich lös dich ab, später. Er gibt mir ein Fernglas, eins vom Oberleutnant. Ich steh in dem Loch, in dem Wasser, halt das MG, die Pistole, seh auf den Platz, seh Schatten, kau restlichen Käse, hör Knacken, hör Knistern, hör plötzlich Schreie, grauenvolle, fürchterliche, spitze-hoheschrille. Ich ruf rüber, ruf leise, ruf zum nächsten Schützenloch: Seid ihr da?

Ja.

Was is das?

Russen – sind in dem Haus da – nehmen sich die Frauen vor – Scheißegottverdammte.

Was läßt er mich hier in dem Loch, denk ich – denk: laß das, er ist müde, ist fertig, laß das, denk nicht so – hast es ja angeboten.

Um fünf geht’s los. Morgensegen, blökt einer. Es haut in den Güterzug, auf den Tennisplatz, das Erdloch reißt, wackelt, tanzt, klatscht zusammen, hält meine Füße, meine Beine. Es regnet, es gießt, es hagelt, hagelt Splitter, große kleine, bohren sich rein in den Matsch, zerteilen Regenwürmer, Erdklumpen, leere Käsedose. Nach zwei Stunden hört’s auf. Ich faß vom Kopf runter, übers Gesicht, über Hals, Brust, Bauch, zieh an den Beinen, naßtauben Beinen, fühle, taste: noch alles da. Ich krieche hoch, bssss macht’s. Der nebenan pöbelt: Die haun ihre eijen Iwans in die Pfanne mit ihrer Orjel – is den scheißejal. Vom Bahndamm brüllt’s: Hilfe Hilfe, ein Soldat liegt da, Bauch auf, Darm raus, quillt weg über Uniform, übers Gleis, brüllt Hilfe, wird leiser heiser atemlos. Ich sitz, ich starr, vergeß Scharfschützen. – Helft dem doch, brüll ich. Zwei sind drüben, versuchen ranzukommen. Am Ohr wird’s heiß, zischt’s, klack macht es, laß mich fallen ins Wasser, ins aufgewühlte, Kopf runter, nehm den Helm, schieb ihn aufs MG, halt’s hoch – klack. Der hat sich eingeschossen, denk ich, ist ganz nah, wo ist der bloß, das Aas – bssss, klack. Der Leutnant ist tot, schreit einer. Wieder geht’s los, Trommelfeuer Stalinorgel, hört nicht mehr auf, hört nie mehr auf.

Gesicht im Matsch, hab den Matsch im Mund, spucke, werd wach: Was is? Lebst du, bist du in Ordnung – lebst du? Er liegt neben mir, weint, schluchzt, hält meine Schultern, wischt mein Gesicht. Es ist dunkel, es regnet, muß Stunden gedauert haben das letzte Mal, muß eingeschlafen, muß ohnmächtig geworden sein. Er ist still. Wir krabbeln, rollen auf die Laube zu, er sagt: Zwölf sind tot. Ich lieg in der Laube auf dem Boden, Pistole in der Hand, Koppel drückt, Stahlhelm drückt. Haut brennt vor Müdigkeit, Lippen dick vom Matsch, vom Durst. Einer schlingert rein, hat eine Feldflasche mit Wasser, E. v. D. findet Kaffeebohnen, sagt: Laß uns warten, bis es hell wird, dann machen wir Feuer. Ich nehm die Kanne, eine vom Regal mit dickem Bauch und abgeschlagener Tülle, Deckel hat sie auch nicht mehr, richtige alte Schrebergartenkanne, robbe raus, will was abgeben an die, die in den Löchern liegen, halt sie hoch, bin vorsichtig, will’s nicht verschwappen, klack macht’s. Henkel in der Hand, Kanne weg, den Henkel hab ich noch, ich knall zurück, rein in die Laube, der mit der Wasserflasche hockt da, sagt: Allmächtjer, sagt: Den Oberleutnant sehn wa nich mehr wieda, den kenn ick, der hat n Klaps, den hat’s erwischt in Frankreich am Kopp, seitdem hat er n Ding weg. Er steht auf, stöhnt, reibt den Rücken, ist Schrebergartenbesitzer, gehört dahin, sonntags mit offnem Hemd, Unkraut jäten, Stachelbeeren pflücken, grüne saure, dunkelrote, die platzen, wenn man reinbeißt, Stangenbohnen binden, Zeitung lesen im Klappstuhl, um sieben nach Hause, krempelt Ärmel runter, schließt Vorhängeschloß, geht weg, Bohnen unterm Arm, in Fortsetzungsroman gewickelt.

Laß uns heiraten, sagt E. v. D. Sieht auf mich runter, sagt Laß uns heiraten. Bist du verrückt, sag ich, du bist doch verheiratet.

Das weiß doch keiner, ich will heiraten will daß du meine Frau bist, bevor.

Bevor was.

Bevor wir vielleicht draufgehen.

Die Laube wackelt, schaukelt, das Regal kippt um, vom Tennisplatz kommt Quietschen, Klirren, gleichmäßiges hohes Klirren. Ein Panzer wälzt sich durch Krater, frißt Zäune, Büsche, Lauben, bleibt stehen, dreht das Rohr rechts, dreht es links, steht, denkt nach. Aus dem Loch hinten neben dem Schuppen springt ein Kleiner, einer in HJ-Uniform, springt, hüpft, hinkt, schleppt ein Rohr, springt auf den Platz auf den Panzer zu, verschwindet.

Das sind sie – schreit E. v. D. – Die Entsatzarmee, ich hab’s doch gewußt, hab’s immer gewußt, die lassen uns nicht im Stich.

Die Bretterwand klappt auseinander, Laubendach fliegt weg, heiß wird’s hellgelb, dann rot, dann weiß. Neben uns liegt einer, es ist der Oberleutnant, ist blutverschmiert, zischt: Das Arschloch, das gottverdammte Arschloch, hat doch den Panzer hochgehn lassen, hat ne Panzerfaust, läßt den eignen Panzer hochgehn. Er steht auf, zieht die Jacke runter, steht gerade, brüllt: Absetzen. E. v. D. dreht sich um, setzt sich auf, bssss macht’s, wirft sich hin, sagt: Ich möchte, daß Sie uns trauen.

Der Oberleutnant guckt aus Blutverschmiertem: Was wolln Sie?

Ich möchte, daß Sie uns trauen – wir wollen heiraten.

Der steht, hört kein Bssss, steht im Licht vom brennenden Tank, sagt knapp: Ich hab keine Befugnisse, sagt Absetzen, sagt Aahhh, dreht sich, dreht sich, rollt, bleibt liegen, hat kein Gesicht, hat nur Helm über rotem Brei.

Dreißig waren wir vor drei Tagen, vor drei Nächten, fünf sind wir jetzt.

Über die Bahngleise zurück – ducken zusammenziehen springen, ducken zusammenziehen springen. Der Regen hat aufgehört. Hinter den Gleisen: Ruinen. Aus den Fensterlöchern, den abgenagten: Gewehrläufe. Gehn mit uns, warten. Ein Stahlhelm kommt hoch, ist wieder weg.

Kamerad, brüllt der neben mir, Kamerad.

Die ham Schiß – denken, wir sind der Iwan.

Mensch, die sehn doch die Uniform.

Spielt kein Leierkastn, die ziehn ooch mal ne deutsche an, liejen ja jenuch rum.

Eine Hand kommt aus dem Fensterloch, winkt: wir sollen warten. Die jeben uns Deckung, sagt der.

Sie knallen an uns vorbei, über die Köpfe weg, wir rasen los, Hände greifen, zerren uns hoch. Habt ihr noch mal Schwein jehabt, sagen sie. Es sind so 15 bis 20 Mann, Soldaten, kein Volkssturm, keine SS oder HJ – Alte, Junge, die Bescheid wissen, Eingeweihte, nicht erst seit Berlin. Wir liegen in der Ecke, E. v. D. sagt: Bloß nicht einschlafen, wir dürfen nicht einschlafen.

Wer hatn den Panzer abgeknallt? fragt einer – HJ – An das Jemüse verteiln die Panzerfäuste, sind doch plemplem. E. v. D. fragt: War das einer von Wenk oder von Wlassow? Sie gucken ihn an, mitleidig, mit dem Wer-hat-denn-dich-eingeladen-Blick, sagen: Schön wär’s.

Einer sieht durchs Fernglas, die andern liegen hinter MGs. Die Tanker stehn noch, vielleicht war doch kein Öl drin, denk ich. Zwei Güterwagen sind umgekippt, Bauch nach oben, einer durchsiebt, Ulm/Donau steht rechts unten. Das ist ein Omen, ein gutes Omen, denk ich, stoß ihn an, zeig hin, flüstre – Ruhe, bellt einer.

Mensch das sind se – prustet der mit dem Fernglas – Orrräää heult’s hinten bei den Lauben, an den Gleisen, orrräää, heiser langgezogen. Ich halt den Munitionsgurt, er das MG.

Rankommen lassen, murmelt’s, rankommen lassen, nich schießen – Jetzt! brüllt er. Mää-aää-äää macht’s aus den Läufen, mää-ääää. Einer holt aus, wartet, schmeißt Handgranaten. Mää-äää. Dann ist es still – Tak-tak, entferntes Tak-tak … dann still. Sie nehmen Feldflaschen, halten sie hoch, halten sie in Bartstoppeln, halten sie geschickt mit klobigen, aufgesprungenen Händen, schneiden Kommißbrot mit Klappmesser, verteilen Ecken, Kanten, Stücke, sagen: Wir müssen hier raus – wenn’s dunkel is, haun wa ab. Die Stalinorgel donnert los, bläst Mauersteine, Mauern, Türen, Decken, Stuck, tobt stundenlang.

Nachts kommen wir in einen Keller, da sitzen sie aufgereiht, starr, stumm, sitzen um Kerzenstummel zwischen Bündeln, Eimern, Kisten, sitzen auf Gartenstühlen, Küchenstühlen, sitzen andächtig. Haut ab, kreischen sie – Wir wolln kein Militär, die schlagen uns dot, wenn sie euch hier finden, haut ab.

Wir wolln Wasser, sagt einer.

Versteht doch, sagt eine Dicke – Versteht doch, wir haben hier Kinder. Eine Zahnlose kriecht aus der Ecke, gibt uns eine Flasche, mummelt: Der Herr sei uns gnädig. Ich denke: die sind irre, sitzen hier rum, warten aufs Ende wie Hammel im Schlachthof, irre sind die.

Draußen brennt’s, im nächsten Haustor steht ein Trupp Soldaten, ein Leutnant: Wo kommt ihr her?

Schmargendorf – Bahndamm.

Offiziere?

Sind tot.

Kommt mit. Wir rennen ihnen nach bis zum Hohenzollerndamm, bis zum Friedhof. Es wird hell, glasig, wie beim Tauchen, wie im Stadtbad, wenn man vom Dreimeterbrett springt, langsam hochkommt. Wir buddeln, kratzen, hacken im harten, unnachgiebigen Boden. Zwei Hitlerjungen kommen angerannt, weinen, bibbern: Dürfn wa hierbleibn, wir ham Pistoln.

Geht zu Muttern, ruft einer.

Wir sind aus Johannistal, da sind die Russen, kräht der Kleinere.

Buddelt euch ein, geschossen wird nich – Befehl. Sie stehen stramm. Der Große sagt Aua – Aua, als hätte er sich das Knie aufgeschlagen oder in den Finger geschnitten, fällt auf die Seite, liegt, sieht aus überraschten, aus glücklichen, neugierig-glücklichen Kinderaugen. Der andere heult: Helmut, Mensch, Helmut!

Schmeiß dich hin, brülln sie: Schmeiß dich hin, halt die Schnauze. Bssss klack bssss klack. E. V. D. wühlt gräbt stößt den Boden, wir quetschen uns rein, stehen aneinandergepreßt, haben das MG, haben die Pistole, die Handgranaten.

Vielleicht ist es drüben schöner, sagt er, sieht auf die offenen Augen.

Hast du Angst? frag ich.

Ein Huhn gackert vorbei, flattert, tuckert, rennt hin, rennt her, Kopf vor, Kopf zurück, plustert sich, stolziert zum toten Jungen – Mensch die Augen, wenn das Aas an die Augen – ich nehm einen Stein, treff ’s am Hintern, es kreischt, läßt Federn, gackert weg. Hier gibt’s Eier, sag ich, bin schon draußen. Bleib hier, brüllt er. Ich robbe an Grabsteinen vorbei, an Hecken, Bänken, dahinter eine Laube, neben der Laube drei Hühner, neben den Hühnern zwei Eier. Bssss klack bssss klack, ein Ast fliegt runter, mir auf die Hand, auf die linke, rechts sind die Eier. Ich robbe zurück, auf Ellenbogen, Eier hoch, rutsch neben ihn, bin stolz. Wir pieken sie auf, trinken sie aus. Aus dem Nebenloch rufen sie: Jibts noch mehr, wo bleibtn der Morjensejen? Wir hacken an unserm Erdloch rum, hacken, schaufeln wie Maulwürfe.

Hilfe, ruft’s hinter uns: Hilllfe – da torkelt ein Alter, ein Dürrer in Uniform, ist gelb, torkelt wie besoffen, läßt sich fallen, kriecht ran, krabbelt: Hilfe. Aus seinem Rücken läuft Blut, wir ziehn ihn ran, ich schneid die Jacke auf, bin ruhig, werd ruhig mit ruhigen Händen. Es strömt, es pulst aus dem Rücken, ich reiß das Hemd auf, reiß es in Fetzen, steck’s in die Wunde, bind’s um den mageren Rücken. Er stöhnt, schreit, sackt zusammen, kann nicht fallen, wird gehalten vom Erdloch, von uns. Orrräää macht’s. Da sind sie, da seh ich sie, seh sie zum erstenmal, MG in der Hüfte; rennen auf uns zu, Bajonett blitzt, blitzt auf in der Sonne – MG, Bajonett kommt auf mich zu, kommt näher, ist nah – Armlänge –, die Erde spritzt auf, verklebt die Augen, määä-äää macht’s, kommt von nebenan, neben mir – Die Handgranate: ich zieh, duck mich – ahhhwumm, Splitter klingeln auf Stahlhelm, ich fall auf den Dürren – wo ist das Bajonett – ich wart drauf – gleich kommt’s – muß doch – von oben – das Bajonett.

Es ist still. Wir sehn uns an über den Dürren, über den blutenden Rücken hinweg, sehn uns an, warten. Seine Augen sind hell, verzweifelt. Schweiß läuft über Augenbrauen, über Lider, über Backenknochen. Er schlägt mit der Faust aufs MG – haut es weg, sagt: O Gott, mein Gott. Drüben wimmert’s, dann Bellen, trocknes Bellen aus Panzerkanonen. Ein Arm fliegt durch die Luft, Knochenarm, handloser, Friedhofsarm, wir sehen ihm nach, der Alte zwischen uns stöhnt, bäumt sich auf, röchelt gurgelt, ist tot. Steht zwischen uns, kann nicht fallen, wird gehalten, Kopf schräg auf der Schulter. Absetzen, ruft einer. Auf der Straße liegen die Russen, übereinander, nebeneinander mit verdrehten Beinen, verdrehten Köpfen. Sie rennen rüber, nehmen die MGs, reißen die Munitionsgurte ab, der Hitlerjunge krallt sich in unsre Jacken, jammert: Nehmt mich mit, nehmt mich doch mit.

Wir waren 40 oder so, als wir kamen, sechs Stunden später sind wir 17. Wir kriechen über den Friedhof, sehen ein Haus, eine Villa, kriechen drauf zu. E. v. D. stottert: Das ist ja Bobbys Haus, Bobby Lüdtkes Haus – stottert, ist sprachlos, hat vergessen, daß es seine Stadt, daß es Berlin, Stadt der Freunde, der Bekannten, nicht nur Schlachtfeld, anonymes. Der ist doch mein Freund, sagt er vorwurfsvoll, als sei der schuld am Dröhnen, am Sterben, am Einstürzenden.

Löcher, wo mal Türen, wo mal Fenster. Bobby, ruft er, Bobby. Die Decke hängt schräg, Kronleuchter schaukelt, Kalk rieselt leise regelmäßig, wie Sanduhr, macht Hügel auf Bücherregal, auf große kleine schwarze geschnitzte Elefanten mit Hängerüssel. E. v. D. nimmt den kleinsten, gibt ihn mir, sagt: Steck’s ein, als Maskottchen.

Der Panzer bellt, die Decke knirscht, reißt Wand, reißt Regal, reißt Elefanten. Schwarz wird’s, will schreien, hol Luft, hol Kalk, hol Schwarzes in Hals, in Lunge, hör Knirschen, hör meinen Namen, hör seine Stimme, er zerrt an Armen, an Schultern, schlägt ins Gesicht, brüllt: Lebst du? Sag daß du lebst – will sagen will atmen, muß husten muß spucken muß Zunge beißen, Kalkzunge, muß wieder atmen muß wieder leben.

Draußen liegt ein Pferd, aufgerissenes Maul, aufgerissenen Bauch, Riesenpferd mit Riesenbauch, Balken brennen, stürzen auf Köpfe auf Körper, auf Schreiende, Flüsternde, Verstummende. Der Panzer bellt, steht an der Ecke, bellt durch die gestorbene Straße. Die andern haben wir verloren, die vom Friedhof.

Laß mich nie liegen, sag ich, wenn ich verwundet bin, laß mich nicht liegen – schwör’s –

Wenn einer von uns verwundet wird, muß der andre ihn erschießen – laß uns schwören.

Wie macht man das? frag ich – wenn man’s an die Schläfe hält, kann man sich blind schießen.

Er zeigt mir die Stelle im Nacken, kleine Vertiefung unter Schädelknochen. Er nimmt die Pistole, sichert sie. Ich halt sie an sein Genick, er sagt: Ja, da mußt du schießen. Wir warten auf Dunkelheit, auf Nacht, haben Durst, quälenden klebrigen. Vielleicht kommen wir durch bis zum Kurfürstendamm, da wohnt eine Bekannte, oben in Halensee, vielleicht kriegen wir da Wasser, sagt er.

Am Fehrbelliner Platz Ecke Hohenzollerndamm bleib ich hängen, bin angehakt, verhakt in Stacheldraht, er dreht sich, windet sich um Beine um Knöchel, nagelt mich an, steh mitten auf dem brennenden Platz, komm nicht vor, komm nicht zurück, aus Fensterhöhlen macht’s bssss klack bssss klack, es sticht in Hände, in Beine, durch Hosen, ich zieh ihn mit, falle laufe falle, bin drüben. Zwei rennen uns entgegen, haben Maschinenpistolen, russische mit Munitionstrommeln, halten sie in der Hüfte, rennen auf uns zu – Russen, brüll ich: Das sind Russen – ich fummle an Pistolentasche, die schrein: Kamerad – rennen vorbei. Schweiß macht Bäche auf Nacken auf Rücken.

Im Morgengrauen sind wir da, sitzen im Haustor. Bleib da, sagt er – sie wird im Keller sein. Drei Panzer kriechen vorbei, rumpeln, stocken, Holzkocherpanzer. Die Klappe hebt sich zaghaft, abwartend, Gesicht unter Helm, junges verschmiertes, fällt zurück, Oberkörper Hals Gesicht fällt nach hinten, liegt über Panzer, bleibt liegen, rumpelt weiter, ist weg. Eine Frau sagt: Kommen Sie. Sie ist weißhaarig, trägt Kleid, trägt Jacke, Rüschkragen, Handschuhe, Stock mit Silbergriff – kommt nicht aus Keller, kommt aus Stallungen, hat Pferde, hat Felder besichtigt, Verwalter gesprochen, wird Kaffee trinken, Mokka aus kleinen schmalen Tassen. Sie stößt die Wohnungstür auf, steht im Korridor, dem langen mit vielen Türen, lächelt, sagt: Ewald, mein Junge, wie siehst du nur aus. Fragt: Was braucht ihr, kann ich euch helfen?

Wir brauchen Wasser, sagt er, und Schlaf, nur ein paar Stunden Schlaf. Das Haus schaukelt wie ein Schiff, wie ein Fischkutter auf der Ostsee. Ich riech den Schweiß, den Dreck, seh getrocknetes Blut, aufgerissene Hände, seh einen Spiegel, seh ein Gesicht, ein unbekanntes.

Wir sitzen auf Biedermeierstühlen, da ist die Straße, die Ecke, der Kurfürstendamm, gegenüber ein Schild »Krankenbedarf«, es hängt schief. In einer Vitrine liegen zerschlagene Gläser. Meine Mutter hat sie ihr geschenkt, zum Geburtstag, sagt er betrübt, schläft ein. Die Panzer rollen zur Halensee-Brücke, gelb-grauer Qualm kriecht hoch, kriecht durch Fenster, durch Mauerlöcher.

Ich hatte noch etwas Kaffee, sagt sie, stellt ein Tablett auf den Boden. Ihr solltet in den Keller kommen. Sie geht, lächelnd, kopfnickend.

Weiß sie nicht, was los ist?

Sie ist 82.

Ich möchte meiner Mutter schreiben, vielleicht kann ich den Brief hierlassen, vielleicht erreicht er sie eines Tages, vielleicht lebt sie noch. Ich schreibe, daß es vorbei ist, daß wir nicht mehr rauskommen, daß sie nicht traurig sein soll, daß ich dankbar bin für alles. Ich weine, verschmier die Tinte, schreib noch mal, schlaf ein, wach auf. Die Russen sind da – sie steht, ist atemlos, schwankt ein wenig – die Russen sind im Keller nebenan. Wir bleiben sitzen, sehn uns an, glauben’s nicht, sehen uns an, glauben es nicht. Ihr müßt weg, die Hausbewohner sagen, ihr müßt weg, die Russen schießen das Haus zusammen, wenn sie Soldaten finden, es tut mir so leid, sagt sie, zittert ein bißchen, kniet vor einer Truhe, findet ein Couvert, gibt es E. v. D.: Das sind noch Zigaretten.

Wir stehen auf der Treppe, stehen da mit Pistole in der Hand wissen nicht wohin. Jemand ruft von unten: Haut ab, wir wollen keine Soldaten hier, die Russen sind nebenan.

An der Ecke quietschen die Panzer, kommen zurück, rollen Richtung Gedächtniskirche. Das sind unsre, die kommen zurück, das sind doch unsre, schrei ich. Wir rennen rüber, an den Panzern vorbei, rennen entgegengesetzt, sind dankbar, sind glücklich, glauben an Rettung.

Vor mir baumeln Beine, schwingen hin und her, Junge in Uniform, Zunge raus, blau, pendelt, Pappschild mit Kinderschrift: Ich war zu feige für das Vaterland … den Rest seh ich nicht. Wir drängen uns durch, vorbei an Panzern, an Soldaten. Einer hält uns an, einer mit Runen, fragt: Wo kommt ihr her?

Schmargendorf, haben die andern verloren.

Wann?

Gestern, gestern früh.

Kommt mit. In der Albrecht-Achilles-Straße ist das Hauptquartier, sie stehen in der großen Halle, auf Parkettboden, stehen in Reihen mit aufgeklappten Mäulern, glotzen einen Hauptmann an, einer schubst uns in die Ecke vor einen Schreibtisch, Offizier sieht hoch, sagt: Ihr habt euch von eurem Truppenteil entfernt, zeigt auf die Reihe, sagt: Einreihen.

Ein Gefreiter, ein Alter, steht neben mir, flüstert: Die hängen uns auf.

Schnauze halten! brüllt einer mit Gewehr, geht an uns entlang, brüllt: Schnauze. Das Tor knackt, springt auf, Holzsplitter, Granatsplitter preschen in Boden, in Decke, in Wände – die an der Tür wälzen sich, schreien, ich schmeiß mich hin, neben den Schnauze-Brüller, sag: Ich bin ne Frau. E. v. D. liegt hinter mir, ich zieh ihm das Kuvert mit den Zigaretten aus der Tasche, sag: Hier nimm sie, laß uns abhaun, der da ist mein Mann. Der Schnauze-Brüller stiert, sagt nichts, ich rüttle – Mensch, laß uns hier raus – der stiert, hört nicht, ist tot. Die Wand krächzt, neigt sich, ich seh sie kommen, auf uns zu, rolle, springe, trete auf Hände auf Beine, seh sie stürzen auf Liegende, Stehende, Brüllende. Ein Volkssturm-Alter hockt, Kopf zwischen Knien, spuckt Zähne, weint: Meine Frau, mein Gott, meine Frau, die is in dem Haus da, da in dem Keller da – zeigt auf die Wand, die eingestürzte, auf den Hof, auf brennendes Haus, rutschendes, polterndes, auseinanderbrechendes Hinterhaus. E. v. D. zerrt mich hoch: Raus hier.

Halt – ruft’s – Stehenbleiben. Ein Leutnant steht zwischen Mauerbrocken, hält Pistole, ruft: Wo wollt ihr hin?

Ich reiß am Stahlhelm, zieh verklebte Haare, sag: Laß mich raus.

Er grinst, greift in die Tasche, schmeißt einen Riegel Schokolade, winkt mit der Pistole, guckt weg. Draußen liegen drei Soldaten, sehn hoch. Setz det Ding auf, schrein sie. Ich hab den Stahlhelm in der Hand, halt ihn am Riemen, merk erst jetzt wie leicht Kopf, Nacken, Rücken ohne Druck, ohne Pressen vom Helm, von verschwitztem Leder. Setz det Ding auf, brülln sie. Bssss klack. Da drübn sind se, da in dem Haus da, sagt einer. E. v. D. verteilt die Zigaretten – Wollten die euch aufbaumeln? fragen sie. Ja, sag ich.

Mensch, Mensch – Sorjen ham die.

Es wird dunkel, sie holen Strippen aus Brotbeuteln, binden Strippenenden an Koppel, seilen sich an wie Bergsteiger. An der Ecke: Verkeilte Panzer; Soldaten sitzen drauf, stehen drumrum, rufen: Hitler ist tot. Sie rufen es weiter, nach hinten, nach vorn: Hitler ist tot, der Krieg ist aus. Es röhrt durch die Straße, über die Brücke, durch die Ruinen, sie kommen aus Erdlöchern, aus Haustoren, werden zu trampelnder, stampfender, auf laufender Herde. Die Strippe zwischen uns reißt, wir schreien Namen, finden uns, werden weitergeschoben, weitergetrieben vom grauen, nicht enden wollenden Strom. Morgens sind wir in Spandau, in einem Mietshaus, sitzen dichtgedrängt auf den Stufen, sehen durch einsames übriggebliebenes Treppenhausfenster mit lilagrünen Jugendstilschnörkeln. Sie rauchen ihre Kippen, kauen letzte Rationen, sind ratlos. Gerüchte scheppern treppauf-treppab: Ein Panzergeneral wird die Armee den Amerikanern übergeben, aber wo sind sie die Amerikaner, keiner weiß es, hätten doch längst da sein sollen, werden doch den Russen nicht einfach Berlin überlassen. Sie sind verärgert, beleidigt, fühlen sich im Stich gelassen: Ja, aus der Luft, das können sie … und der Hitler, der hat sich das Leben genommen, feiner Weg raus aus dem Schlamassel … vielleicht können wir endlich nach Hause. Sie kommen aus Pommern, aus Schlesien, aus Berlin, aus dem Rheinland, aus Mecklenburg, aus Hannover, sie hoffen, sie murmeln, sie schlafen. E. v. D. sieht durch das Fenster auf die Panzer, auf die Brücke, sieht das brennende, stumme Spandau, sagt: Wir müssen uns zu den Amerikanern durchschlagen, wenn wir über die Brücke kommen und durch Spandau, haben wir es geschafft.

Es geht los – rufen sie von unten; sie stehen auf, glotzen die Treppe runter auf die Straße. Wir werden eingeteilt, 50 Mann pro Panzer, wir stehen neben ihnen, hinter ihnen, warten, bis sie losrollen. Es ist still, bis auf das Quietschen der Ketten, das Knarzen der Stiefel. Der erste Panzer ist drüben, der zweite setzt an, ist in der Mitte, wir laufen mit, halten Abstand. Da rast es los aus den Dächern, aus den Fensterhöhlen: Granatwerfer, Maschinengewehre, Flammenwerfer, der Panzer brennt, springt auseinander, es hebt mich hoch, trägt mich weg, läßt mich fliegen, schlägt mich gegen Eisenhartes, läßt mich liegen. Ich spür Blut, faß ins Gesicht, hab blutige Hand, denke: jetzt bin ich tot – bleib liegen, denke: so ist das also.

Ich seh sein Gesicht, es kommt näher, es blutet – sagt: Jetzt ist es soweit, gib mir die Pistole. Neben mir türmen sie sich, Körperberge, fallen übereinander, türmen sich höher und höher. Ich halt die Pistole, brülle: Nein – zieh ihn hinter mir her an dem brennenden Panzer vorbei, über die Körper hinweg.

Der Laden riecht wie Stiefvaters, nach Leder und Leim und Farbe. Die große Fräsmaschine ist umgeworfen, die Ledernähmaschine mit der Dreikantnadel steht noch in der Ecke, die Regale sind aus der Wand gerissen, die Schuhe sind weg, ein paar gelbe Nummernzettel fliegen von Wand zu Wand. Wir sitzen zwischen den Glassplittern und Mauersteinen, wissen, daß die Russen im ersten, zweiten, dritten Stock, daß sie im Dachboden, sehen ihre Flammenwerfer, ihre Handgranaten, hören ihre Maschinengewehre, ihre Stimmen, ihr Poltern. Unsere Pistolen sind wie ein Versprechen, ein Geschenk, eine Gnade. Das Blut läuft aus dem Haaransatz, läuft gleichmäßig über das Gesicht, über die Jacke, der linke Ärmel ist aufgerissen, ist kratzig von getrocknetem Blut. Sein Kinn ist zerschnitten, klaffende Streifen zwischen Bartstoppeln. Ich seh seinen Mund, seh das Gesicht meines Vaters, trauriges Gesicht auf vergilbtem Papier mit Eselsohren. Nein, sage ich, nein, ein Versuch, ein einziger.

Bis zu den Parterrefenstern liegen sie, die Toten; ich laufe dem Gesicht nach, höre nichts, sehe nichts, nur das Gesicht, lauf ihm nach. Stürze nicht, stolpere nicht, laufe laufe, liege auf weicher Erde, auf Ackerboden, rote Flecken kommen heran, gehen weg, kommen heran, werden schwarz, schließen mich ein, fressen mich auf. Die Erde ist kalt, ist naß, ist dunkel, er hält meinen Kopf, sagt: Wir hatten einen Schutzengel. Wir liegen zwischen Baumwurzeln, es ist Nacht, es raschelt, ich spring auf, will weg, er hält mich, flüstert: Wir sind noch mehr, fünfzig oder sechzig, bleib liegen. Der Marsch beginnt, Marsch der Versprengten. Wir laufen nachts, angeseilt zusammengehalten, laufen leise, gleichmäßig, sprechen nicht – sprechen nie zwei Wochen lang, teilen Brotreste, kauen sie langsam, bedächtig, essen Gras und Baumrinde. Laufen durch Wälder, sehen Burgen Schlösser Lichter Lüster, sehen Nichtvorhandenes, haben Halluzinationen vom Hunger, von Müdigkeit, haben Angst vor knackendem Ast, vor fallendem Zweig. Am Tag schnallen wir uns mit den Riemen an die Stämme, schlafen stehend, von Baumkronen geschützt. Die Tiefflieger suchen geduldig, schnattern wie Nähmaschinen, suchen Versprengte, suchen solche, wie wir es sind. Ein Vierzehnjähriger dreht durch, reißt sich vom Baum, rennt auf das Feld, hat Schulterschuß, hat Fieber. Sie fliegen weg, haben es eilig. Zwei Nächte später sehen wir sie, die Panzer, Geschütze, Kolonnen. Sie rufen sich zu, singen, grölen, fühlen sich sicher. Wir liegen hinter den Bäumen, sehen ihre Beine, ihre Stiefel, sie sind nah, zum Greifen nah, sie ziehen vorbei, machen halt auf freiem Feld, bleiben. Am Morgen schießen sie in den Wald, schießen ihn zusammen, die Bäume stürzen knarren fallen übereinander ineinander, senken sich, klammern sich fest. Dem vor mir reißt es das Bein ab, es fliegt hoch, fliegt weit. Er merkt es nicht, läuft weiter, macht zwei Sprünge, stürzt, fällt mit den Bäumen. Sie zerren an Jacken an Hemden, nehmen die Hemdlappen in erhobene Hände, laufen zum Waldrand, schwenken die Lappen über den Köpfen, fallen nach vorn, fallen nach hinten, werden zusammengeschossen. Wir kriechen, bleiben unter Bäumen unter Moos unter Zweigen, atmen nicht atmen kaum, Ameisen krabbeln über die Hände übers Gesicht, Beine rauf und runter, wir liegen, warten. Links neben mir liegt ein Gefreiter, ein Alter, ein »Frontschwein«, er zischelt: Die ziehn ab. Das Mahlen der Ketten wird leiser, die Rufe verscheppern über den Feldern, ein Bajonett stochert im Boden, im Moos. Sie springen hoch – der vor mir, der neben mir, schlagen Gewehre aus Händen, schlagen Kolben in Bäuche, halten Bajonette an die Kehlen, Fäuste in Münder, fragen: Wie viele, wie viele seid ihr, wo sind die andern, wo sind noch Panzer.

Sie haben semmelblondes Haar, helle Augen, sind Bauernjungen, ukrainische Bauernjungen. – Zehn.

Wo sind sie?

Sie zeigen: Da drüben rechts hinter dem Weg.

Wir rennen in den Wald, tiefer und tiefer – Nicht schießen, flüstern sie – Weitersagen, nicht schießen. In der Nacht verlaufen wir uns, kommen zum drittenmal an dieselbe Lichtung, an den gleichen Weg. Sie sehen nach oben in den schwarzen Himmel, suchen ihn ab nach Sternen, finden sie nicht, teilen Wachen ein, rutschen in eine Mulde, schlafen eingerollt in Moos Blätter Zweige, schlafen tief ausgestreckt, schlafen Totenschlaf. Werd wach im Morgengrauen, werd wach von Schüssen, kriech über Baumstamm, lieg mit dem Magen auf dem Stamm, seh hoch seh den Russen. Er steht vor mir sieht mich an hebt Pistole, seh den Lauf seh ihn klar seh ihn nicht, Hand Arm beschreiben Bogen, ziehen Körper nach, machen Drehung, brechen ab, rutschen zusammen, Hand Arm Körper Knie. Meine Hose ist naß, vom Waldboden von Blättern, vom Urin, lieg klamm, starr, Wasser läuft Schenkel lang läuft durch Hosenbeine in Stiefel, Stiefvaters Stiefel. Einer zieht meinen Arm, sagt: Komm schon.

Sind noch mehr da?

Glaub nich, warn so zehn.

Weißer Bart, Ziegenbart sprießt aus Backe, aus Kinn, aus Hals, Tannennadeln hängen dran und Moosstücke, er steckt die Zunge neben einsamen Vorderzahn, schnalzt, klopft sein Gewehr. Ich will danke sagen, kann es nicht, will sagen: Danke, daß du schneller warst. Geh neben ihm her, will immerzu danke sagen. E. v. D. liegt hinter der Mulde, sieht vor sich hin, hat versagt, durchgedreht, versteht es nicht.

Wir haben Hunger, Hunger, der uns verrückt macht, wir reden, sind unvorsichtig, werden verrückt vom Hunger, sehen Bauernhäuser, traun uns nicht ran, laufen weiter an Nauen vorbei, nach Friesack. Sehen Kühe, brüllende mit dicken Eutern, liegen im Wald, sehen sie tanzen auf den Feldern, traun uns nicht, irgendwo müssen sie sein, die Amerikaner, vielleicht an der Elbe, ist nicht mehr weit, noch ein paar Nächte vielleicht. Wir sind noch zwanzig, zwanzig Brabbelnde, Stolpernde, vom Hunger verrückt Gewordene.

Der geschenkte Gaul

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