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Liebeserklärung an einen Großvater

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Meiner hieß Karl, er war mittelgroß und genauso kräftig, wie er aussah. Er trug den Kopf sehr gerade, die Wirbelsäule auch, und er hatte einen großen Mund mit vielen Zähnen; er hatte sie noch alle 32, als er mit 81 Jahren Selbstmord machte. Sein Jähzorn war das Schönste an ihm, erstens weil er sich nie gegen mich richtete und weil er so wild und rasch kam, wie er verging, und wenn vergangen, wurde sein Gesicht warm wie ein Dorfteich in der Sommersonne und seine Bewegungen verlegen und einem fischenden Bären gleich.

Im Winter wohnten wir in der Sedanstraße in Schöneberg; die Sedanstraße war ein Berlin ohne Bäume, und er paßte gar nicht dorthin, er ging mit mir ununterbrochen spazieren und kaufte mir vor dem Mittagessen Anisbonbons, jedesmal gab es deshalb Krach, wenn wir zurückkamen.

Meine Großmutter war zart, zuckerkrank, und die Tragödie ihres Lebens war, daß sie Karl nicht liebte und daß er sie ängstigte. Er war polnisch-ostpreußischer Abstammung, er sprach selten über seine Familie, sehr mühsam fand ich heraus, daß sein Vater sämtliche Güter verspielt und versoffen hatte, daß seine Mutter während einer Schwangerschaft einen Nervenzusammenbruch hatte und die Tochter, die darauf zur Welt kam, sechzehn Jahre später verrückt wurde und regelmäßig jedes Jahr vier bis sechs Monate in einer Heilanstalt zubrachte, von der sie nach Entlassung sonnig die grauenhaftesten Geschichten zu erzählen hatte. Mein Großvater wurde ihr Vormund, und er litt, glaube ich, sehr darunter; sie zog sich manchmal auf einer Berliner Brücke (sie hatte einen starken Hang zu Brücken) splitternackt aus, und mein Großvater mußte dann zur Polizei, er versuchte das alles vor mir zu verbergen, aber ich bekam es natürlich doch heraus, sosehr sie auch alle flüsterten und immer wieder nachsahen, ob ich auch eingeschlafen war.

Im Sommer war alles anders, wir waren bei Zossen in seinem kleinen Haus – es war eigentlich eine glorifizierte Laube mit vier Räumen und einem gemütlichen Herd, auf dem die jungen Küken nachts warmgehalten wurden –, seinem großen Garten mit Obstbäumen und Kohl und Spargel und einem kleinen Teich, in den ich regelmäßig fiel und entweder von meinem Großvater oder unserem keiner auch nur entfernt bekannten Rasse angehörigen Riesenhund gerettet wurde. Was ich im Winter an Anisbonbons fraß, waren im Sommer, nur noch in weitaus größeren Mengen, Äpfel, mein Großvater vertrat den eigenwilligen Standpunkt, daß auch nach regelmäßigem Erbrechen noch genug Apfel im Körper zurückbleibt, um mich mit Kraft und ungestörtem Wachstum über den sedanstraßigen Winter zu bringen.

Schwierig wurde unser Leben, wenn Großmutter für jeweils zwei bis drei Tage in der Woche in unser Paradies kam. Ich durfte nicht mehr halbnackt herumrasen und wurde in Wolle gesteckt, Karl sollte sein Netzhemd nicht »öffentlich« tragen, Äpfel wurden als wurmfördernd verschrien, meine Ziege durfte ich nachts nicht mehr an mein Bett binden, und mein Lieblingskarnickel mußte in seinem Verschlag ein anständiges Karnickeldasein führen, das ganze sommerliche Leben wurde organisiert und weiblich ordentlich.

Der erste rasende Jähzornanfall meines Großvaters fand unfehlbar zehn bis fünfzehn Minuten nach der scheu-herzlichen Begrüßung statt, er zog sich anschließend brummend und vor sich hin redend auf seine hinteren Kohlbeete zurück, um wenig später braungebrannt und zufrieden auf dem Sofa zu sitzen, Omas Kaffee zu trinken und ihr von meinen unglaublich geniegleichen Äußerungen zu berichten – das war die schönste Stunde für mich, wir beteten uns gegenseitig an, über die uns trennenden sechzig Jahre hinweg. Ob ich nur ungeschickt oder bösartig war, wird keiner mehr ergründen, jedenfalls fiel immer etwas herunter, was zerbrechlich war, und damit war jedem aufkommenden Verständnis meiner Großeltern füreinander ein jähes Ende gesetzt.

Sonntags kam meine Mutter. Sie mußte arbeiten, sie war damals Sekretärin bei Siemens – mein Vater war sechs Monate nach meiner Geburt gestorben, und ich fand es bedeutend, eine Halbwaise genannt zu werden –, sie kam, und ich tat jedesmal so, als ob ich sie nicht erkannte, machte einen höflichen Knicks und sagte: »Guten Tag, Tante.« Meine Großmutter fing sofort an zu weinen und schnüffelte etwas von unnatürlichem Leben für ein Kind in dem Alter, meine Mutter hatte Tränen in den Augen, nahm mich auf den Arm und rügte meine Großmutter wegen der wollenen Kleidung, die ich bei der glühenden Hitze trug, zwischen der nunmehr beginnenden Auseinandersetzung bekam ich mein Sonntagsgeschenk von meiner Mutter und hörte meinen Großvater etwas von blöder Gefühlsduselei sagen. Montags fuhren Mutter und Großmutter nach Berlin zurück, und nach herzzerreißendem Abschied und langem Winken blinzelten Großvater und ich uns zu wie zwei Verschwörer, die ihrer illegalen Arbeit nun wieder ungestört nachgehen dürfen. Montags durfte ich ganz nackt im Garten laufen, bekam die Äpfel nachgeliefert, die ich während der Besuchszeit verpaßt hatte, und mußte mich meist bereits vor dem Mittagessen übergeben.

Meine Großmutter wurde dünner und nervöser, und ihre schönen sehr großen hellgrauen Augen wurden unruhig und ganz farblos. Manchmal wurde sie ohnmächtig, das machte Großvater hilflos und wütend. Sie wollte auf gar keinen Fall in ein Krankenhaus, als Begründung sagte sie: »In einem Krankenhaus werde ich sterben, das fühle ich.« Sie wollte auch keine Spritzen, sie taten in ihrem fleischlos gewordenen Körper weh. Als sie zu matt wurde, um sich wehren zu können, brachte meine Mutter sie dann doch in ein Krankenhaus, und wenig darauf starb sie. Ich wurde während dieser Zeit täglich in einen Kindergarten in der Sedanstraße gebracht, den ich zutiefst haßte, die immer freundlichen Schwestern, die ihre Freundlichkeit an alle regelmäßig verteilten, machten mich unglücklich; mir wäre es dann schon lieber gewesen, wenn sie mich angebrüllt hätten. Ich beteiligte mich nie an den Spielen, weinte zu meiner und der Schwestern Verzweiflung endlose Stunden hindurch und sehnte mich nach meinem Großvater und Zossen und Sonne. Eines Morgens sagte meine Mutter zu mir, daß die Oma nun im Himmel sei, und weinte dabei … der einzige, der bei der Trauerfeier nicht weinte, war mein Großvater, und das fand ich auch ganz richtig, denn die Kombination Himmel und Tränen war mir zu verwirrend. Er lachte auf der Fahrt zum Friedhof sogar einmal, und meine Mutter sagte später, er wäre schon immer so »roh« gewesen.

Meine Mutter kündigte bei Siemens, um sich mehr um mich kümmern zu können, denn »man kann das Kind nicht mit einem alten Mann aufwachsen lassen …«, und kaufte sich ein Zigarrengeschäft in der Nähe der Friedrichstraße. Sie war damals sehr schön, und viele Männer kamen, kauften Zigarren, um sie einige Meter vom Laden entfernt in einen Gully zu schmeißen – eines Tages beobachtete Mutter einen ihrer Stammkunden bei dieser Beschäftigung und sagte sich wohl, daß die Tabakbranche nicht das richtige für sie sei, daraufhin wurde mit vielen Schwierigkeiten ein Schokoladenladen gekauft, in dem sie und ich die Hälfte unserer Ware allein aßen, in dieser Zeit lernte sie Herrn Wulfestieg kennen und heiratete ihn – er hatte Asthma, und ich äffte seinen Husten immer nach, weil ich ihn nicht leiden konnte, und dadurch wäre schon beinahe die Verlobung geplatzt …

Am Hochzeitsmorgen freute ich mich vor allem auf Großvater – ich raste ihm entgegen und brüllte aus Leibeskräften: »Meine Mutter heiratet heute!« In der Aufregung übersah ich eine rundliche kleine Frau mit kleinem Kopf und kleinen braunen Augen, die er dann als Tante Emma vorstellte, der Hochzeitstag war für mich geschmissen, meine Mutter einen fremden Herrn, mein Großvater eine fremde Dame. Mutter schien auch nicht beglückt und sagte etwas wie: »Eine Schande, so kurz nach dem Tod von Mutter!« Er kam ganz traurig unter den Tisch gekrochen, unter dem ich maulte, und erklärte mir, daß ein erwachsener Mann eine Frau braucht, und das leuchtete mir ein.

Tante Emma war Köchin in Frankreich gewesen, die Verwandten sprachen möglichst nur im Flüsterton darüber, Frankreich war Bordell und Unzucht, und etwas Anständiges lernt ein deutscher Mensch dort eben nicht … Emma hatte es schwer mit allen, außer mit Großvater, der blühte auf, und ihre Betulichkeit tat ihm wohl, sie sprach sogar über seine etwas entstellte Nase – sie hatte während eines ostpreußischen Winters Frost gekriegt und lief bei Kälte lila an und platzte manchmal auf –, ein Tabu vorher und jetzt ein bemitleidenswerter, sehr zu pflegender und mit Nasenschützern zu versehender Körperteil. Sie wohnten, nachdem sie nach langem Hin und Her geheiratet hatten, in Zossen, und ich sah Großvater nur noch sehr selten, der Sommer wurde nun wie der Winter, und ich war dauernd krank, einmal so sehr, daß ich für ein paar Wochen zu Großvater und Tante Emma gebracht werden mußte, Großvater bestand darauf, denn frische Luft würde aus mir wieder einen kräftigen Menschen machen, die Äpfel erwähnte er vorsichtshalber gar nicht. Emma kochte Tauben für mich und küßte mich jedesmal vor und nach dem Essen, was mir ziemlich widerlich war, denn in unserer Familie wurde sonst nicht viel geküßt, nur zu Weihnachten und zum Geburtstag und zu Neujahr, da das alles bei mir innerhalb einer Woche stattfindet, hatte ich es verhältnismäßig schnell und etwas gedrängt hinter mir. Aber bis auf die Küsserei hatte ich Emma ganz gern und war traurig, als sie plötzlich auch in das städtische Krankenhaus kam und starb. Mein Stiefvater, den ich nun Papa nannte, sagte, es käme vom heißen Abschmecken, denn sie hatte Magenkrebs, und Kochen erschien mir für viele Jahre lebensgefährliche Beschäftigung.

Nun war Großvater wieder allein, und ich hoffte auf unser altes Sommerleben – umsonst, Großvater hatte Krach mit meinem »Papa«, und der »Umgang«, wie er es nannte, wurde mir verboten. Einmal, es war im ersten Schuljahr, zog mich jemand vor der Schule an meiner Mappe, und als ich mich erschrocken umdrehte, stand er da, dünn und alt geworden, mit sehr weißem Haar, und hatte zum erstenmal Tränen in den Augen; wir blieben den ganzen Nachmittag zusammen, und er kaufte mir ein Fahrrad. Als ich nach Hause kam, gab es Krach, meine Mutter sprach für Großvater, mein Stiefvater gegen ihn, und ich überlegte mir, wie lange ich radfahren müßte, um nach Zossen zu kommen.

Eines Tages hatte Großvater das einsame Landleben satt und zog mit Großtante Hulda – sie war eine der vielen Schwestern meiner Großmutter – in eine Wohnung in der Frobenstraße Nr. 13. Die Frobenstraße war ganz in der Nähe vom Nollendorfplatz, kein Baum, kein Park, nur Hochbahngetöse, Omnibuslärm und düstere Zimmer. Warum er gerade auf diese Wohnung verfiel, weiß ich bis heute nicht – vielleicht wollte er einen besonders dicken Strich unter sein früheres Netzhemddasein ziehen.

Tante Hulda sah aus, als wäre sie nie in ihrem Leben jung gewesen; sie war ganz klein und vertrocknet und unendlich geduldig, keiner konnte so zuhören wie Tante Hulda, und keiner hatte eine so sanfte Stimme – sie zwang einen mit dieser kaum hörbaren Stimme zur Ruhe und Duldsamkeit, selbst wenn man sich das halbe Knie abgerissen hatte und brüllend um Mitleid rang. Das war Tante Hulda, und Karl konnte sie eigentlich nie leiden, aber er konnte nun einmal nicht ohne ein weibliches Wesen in seiner Umgebung auskommen.

Das angenehme an der Wohnung war, daß ich sie mit dem Achter-Omnibus sehr schnell erreichen konnte, und nachdem endlich unterm Weihnachtsbaum eine knorrig-männliche Versöhnung zwischen Stiefvater und Großvater stattgefunden hatte, durfte ich einmal in der Woche bei ihm schlafen. Tante Hulda hatte Angst vor Menschen und hatte auf zwei Sicherheitsketten, Guckloch und kompliziertes Schlüsselverfahren bestanden. Nachdem ich freudvoll die immer finstere Treppe hinaufgefallen war und mir an der altmodischen Klingel die Finger beinah abgedreht hatte, wurde zwei Minuten lang gefragt, geguckt und geschlossen, und endlich konnte ich mich mit meinem Übernachtungsgepäck in die Wohnung stürzen.

Großvater sah nicht mehr so braungebrannt aus wie früher, aber gesund und gerade, und er schien die schwierigen Monate vergessen zu haben, sein Jähzorn tobte sich in gemilderter Form an Tante Hulda aus, die sich zwar darüber beklagte und mit einem leisen und langgezogenen »Kaaaaarl« die Dramen beendete, die aber bestimmt nach der langweiligen Ehe, die sie vor Jahren einmal geführt hatte, nicht gern auf Großvaters Raserei verzichtet hätte.

Ich schlief auf einem breiten, ausgelegenen Sofa unter einem »Regulator«. Er holte jede Viertelstunde schmerzlich ratternd Luft, um dann bei der ersten Viertelstunde einen, bei der halben zwei und der Dreiviertelstunde drei donnernde Schläge von sich zu geben – die volle Stunde wurde mit mehreren, nur der koreanischen Oper vergleichbaren wütenden Gongexplosionen in verschiedenen Tonarten bekanntgegeben. Ich flog fast jedesmal von meinem Sofa, Großvater hingegen schlief seelenruhig in seinem halbbesetzten Doppelbett weiter. Er klopfte jeden Abend mit der rechten großen Zehe gegen die untere Bettwand – sechsmal – und schwor darauf, daß er nur dadurch Punkt sechs erwachen könne. Tante Hulda stand erst um sieben auf, was Großvater für ungesund hielt. Er hatte dann bereits kalte Waschungen und Freiübungen gemacht, den Herd rauchlos zum Brennen gebracht, Brötchen geholt und Kaffee gekocht – Frühstück war lang, gemütlich, und meist las Großvater zum Abschluß die Fortsetzung des »Morgenpost«-Romans vor. Da ich die vorherigen nicht kannte, döste ich friedlich vor mich hin und fraß ungeniert die restlichen Brötchen mit Gänseschmalz. Dann brachte er mich zur Bushaltestelle, brachte den Berliner Verkehr durcheinander, indem er darauf bestand, dem seiner Meinung nach schwachsinnigen Schaffner die Wichtigkeit meiner Person zu erklären und ihn mit Nachhilfe eines kleineren Geldbetrages zu verpflichten, seine Enkelin am richtigen Platz, nämlich der Schule, abzuliefern. Alle Leute glotzten mich dann im Bus unverhohlen neugierig und morgenblöde an, und ich war froh, wenn ich ihnen und dem aufgeregten Schaffner entfliehen konnte.

Wir wohnten jetzt in Friedenau und hatten einen Schuhmacherladen in der Nähe der Wohnung, direkt am Bahnhof Wilmersdorf. Die Besuche in der Frobenstraße waren nicht mehr so regelmäßig – ich mußte im Geschäft mithelfen, und es machte mir Spaß, nur das Austragen der reparierten Schuhe hatte ich nicht gern, ich fürchtete mich in den kalten dunklen Hausfluren, auf den unübersichtlichen Hinterhöfen und vor den Menschen, die manchmal gleichgültig, manchmal barsch und gestört und manchmal freundlich und mit Trinkgeld die Türen öffneten.

Mein Bruder – oder, wie man so befremdend sagte, »Halbbruder« – wurde geboren. Der Tag war ausgefüllt. Ich lernte eine Welt ohne Großvater kennen. Ich vergaß ihn wochenlang, ich fing an, erwachsen zu werden, ich wurde treulos. Er veränderte sich nicht, hatte meine Veränderung erwartet und warf sie mir nicht vor. Eine weihnachtliche Geschenkkrise wurde überwunden, und wir fanden für Stunden zueinander und verließen uns wieder. Ich hatte mir ein Akkordeon gewünscht und bekam Skier – »Akkordeon macht eine schlechte Brust«, sagte er. Der Krieg kam und die Marken und Güterzüge mit Soldaten, die Söhne der Nachbarn wurden eingezogen, und mein Großvater sagte: »Wir werden den Tod der Juden büßen müssen.« Er wurde stiller. Dann kamen die Luftangriffe und das Suchen und das Hoffen … er wurde nicht ausgebombt, aber wir verloren dreimal hintereinander die Wohnung – am Anfang die Möbel, dann nur noch Koffer. Er kam nach den Angriffen zerzaust, versengt, mit einer Tüte voller Brötchen und etwas Kaffee und beklagte sich über Tante Hulda, die wieder im Keller leise gebetet und geweint hatte. Er hatte nie über seinen Sohn Kurt gesprochen. Er war schon Mitte der zwanziger Jahre nach Amerika ausgewandert, aber die Entfernung war durch den Krieg größer geworden, er wollte ihn gern noch einmal sehen, und eines Tages ging er mit mir in eine Kirche. Er saß ganz still da und schien genau zuzuhören, aber als wir weggingen, war er wütend – auf sich und »auf die Idioten, die dreiunddreißig etwas hätten tun sollen« – was, hat er mir nicht gesagt, und ich hätte es auch nicht genau verstanden. Ich hatte einmal mit dem Zeigefinger »Hitler ist doof« in den Sand geschrieben, um ihm eine Freude zu machen, aber er hatte mir weitere Zeichnungen dieser Art verboten, und so sprachen wir nicht mehr davon, und mit »davon« meine ich Hitler und Krieg und SS und Magermilch. Nur als ich in den BDM eintreten sollte, wehrte er sich mit Händen und Füßen, und meine sämtlichen Krankheiten wurden hervorgezerrt.

Ich habe meinen Großvater nie mit Männern in »männlichen Gesprächen« gesehen; er mochte Männer nicht, spielte nicht Karten und haßte alle Verbrüderungen – er war jetzt allein. Tante Hulda zog nach den verbeteten angstvollen Nächten in der Stadt zu ihrer verhärmten Tochter in Zehlendorf, meine Mutter wurde mit meinem Bruder auf ärztlichen Befehl evakuiert, und ich hatte einen Beruf oder eine Lehrstelle, die einmal ein Beruf werden sollte, und wohnte in Untermiete.

Ich besuchte ihn abends oder an Sonntagen, aber es war ein wenig Pflicht dabei und eine Sehnsucht nach der weichen Wärme vergessener Sommer, die ich nicht mehr wahrhaben wollte – Miete, Stipendium, Ehrgeiz, den Krieg vergessen, arbeiten, lernen; herauskommen aus Schuhmacherläden, Ledergeruch und Eintopf ohne Fett konnte ich nicht mit der Sehnsucht nach unseren Sommern, das wußte ich. Ich stürmte nicht mehr die vor Jahren schon düstere und jetzt vollkommen verdunkelte Treppe hinauf, die Klingel ging seit langem nicht mehr, und nach kurzem Klopfen öffnete er mir die Tür – froh und vorbereitet, Kaffee auf dem Tisch und selbstausgelassenes Schmalz im Glas und sogar Brötchen, etwas wäßrige, dunkle Kriegsbrötchen. Wir saßen an dem großen Tisch, ich auf dem alten Sofa unter der krächzenden Uhr, die Hängelampe war mit Tüchern verbunden wie ein verletztes Kuheuter. Erst mußte ich essen, und während ich kaute, fing er an zu erzählen … Ganz früher, als ich seine Worte noch nicht verstand, hatte er mir viel erzählt, und jetzt wieder: von seiner Jugend und den Masurischen Seen, über die man im Winter mit von Pferden gezogenen Schlitten rasen konnte, von dem Gymnasium, das er nach dem Zusammenbruch des Vaters in Holzpantinen besuchen mußte, und von den anderen, noch reichen Verwandten, die die plötzlich verarmten Kinder auf ihre Güter holten, um sie dort auf den Feldern schuften zu lassen und in die Dorfschule zu stecken … er hatte nichts vergessen, und sein Haß und seine Trauer waren so frisch wie damals, als er vor diesen Verwandten nach Berlin flüchtete. Dann sang er leise ein polnisches Lied, das ich oft von ihm gehört hatte und das er mir nie übersetzt hatte. Er trank nicht gern Alkohol, aber nach dem polnischen Lied gab es immer Rotwein, das war schon früher so gewesen, dann kam Fliegeralarm, und wir gingen in den Keller – er räumte erst auf, öffnete die Fenster, damit sie durch den Luftdruck nicht gleich zerplatzen sollten, und packte ein paar Brote und eine Thermosflasche ein, der Luftschutzwart tobte vor der Korridortür, die Flak raste, und manchmal fielen auch schon die ersten Bomben, er ließ sich nicht hetzen, weder von den zeternden Deutschen vor der Tür noch von den brummenden Amerikanern am Himmel.

Und als die Russen nach Berlin kamen und die Stadt schon besetzt war, warfen zwei fünfzehnjährige Hitlerjungen ihre restlichen Handgranaten aus dem Fenster, und das Haus Frobenstraße 13 wurde mit Panzerkanonen zusammengeschossen. Mein Großvater überlebte und rettete sich aus dem brennenden, einstürzenden Haus. Mit einer zerrissenen Hose und angesengten Hausschuhen an den Füßen lief er nach Zehlendorf, viele Stunden lang, und suchte die Wohnung, in der ich zuletzt in Untermiete gewohnt hatte. Die Leute im Haus sagten ihm, sie hätten mich seit den Kämpfen nicht mehr gesehen, dann lief er nach Wilmersdorf und fand meinen Stiefvater; Stiefvater war lungenkrank geworden und von den russischen Besetzern, die er sosehr herbeigesehnt hatte, angeekelt.

Mein Großvater blieb bei ihm, sie lebten in einer halb ausgebombten Wohnung in einem Zimmer und haßten sich und warteten wochenlang auf eine Nachricht von meiner Mutter, von meinem Bruder, von meinem Onkel, von mir … Meine Mutter schien tot zu sein, das Dorf, in dem sie gelebt hatte, war von Engländern besetzt, und vorher hatte es tagelang Kämpfe gegeben.

Mein Großvater saß auf einem wackeligen Sessel an einem Fenster, das keine Scheiben mehr hatte, er trug eine zerrissene Hose und ein Jackett, das ihm zu weit war, er hatte angesengte Hausschuhe an den Füßen – so sah ich ihn wieder, als ich drei Monate später aus der russischen Gefangenschaft zurückkam; er hob ganz ruhig den Kopf und sagte: »Da bist du ja, mein Kind«, nahm meine Hand und schlief ein. Eine halbe Stunde später wachte er auf und sagte, daß er jetzt noch auf Mutter warten möchte. Zwei Wochen später hatte ich Premiere in der »Tribüne« – es war das erste Theater, das in Berlin spielte –, und vor der Vorstellung kam eine Frau auf einem verrosteten Fahrrad und brachte mir einen Brief; er war sehr dick und hatte keinen Absender und keine Anschrift. Er fing an: »Mein geliebtes Kind, ich bin zu alt, um die Grausamkeiten vergessen zu können und auch um dir noch nützlich zu sein …«, und er hörte auf: »… vielleicht wirst Du mich eines Tages verstehen und mir verzeihen …« Die Schrift war ganz klar und gar nicht zitterig.

Er hatte dann viele Schlaftabletten genommen, sich mit einem Taschentuch das Kinn festgebunden und das Laken über den Kopf gezogen.

Der geschenkte Gaul

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