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»Drehn Sie sich mal ins Profil«, sagte die rothaarige Eskimofrau, die Else Bongers hieß, im »Berlin-Film«-Büro Unter den Linden.

»Können Sie etwas vorsprechen?«

»Nein«, flüsterte ich.

»Wieso wollen Sie Schauspielerin werden?«

»Weil ich begabt bin.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es.«

Sie sah mich an, stand auf, ging raus.

Die Sonne machte auf dem Schreibtisch Kringel, die Fenster waren geputzt. Leute gingen zum Bahnhof Friedrichstraße oder auch nicht, es war Sonnabend. Ein Volksempfänger krähte Heimatlieder. Die Linden Unter den Linden waren gelbgrün, im Büro roch‘s nach Parfüm.

Als sie wiederkam, wollte ich mich auf den Boden stürzen, ihre Knie umklammern, um Nachsicht und um Glauben an unbewiesene Begabung bitten. Ich blieb sitzen, starrte auf ihre Kostümjacke. Sie gab mir zwei Reclamhefte, sagte: »Lernen Sie das Angestrichene.«

Wieder wollte ich auf den Boden, Hände küssen, Rocksaum benetzen. Dank schreien. Ich stand auf, murmelte: »Wann?«

»Montag in acht Tagen, Althoff-Studio Nowawes, 9 Uhr!«

»Ein Schmock, ein Schmock«, rief ich begeistert, als ich die Zigarrenkiste auf dem Atelierhocker sah, Gretchen war’s, als sie im Stübchen den Schmuck findet, den Mephisto hinterlistigerweise hinterlassen.

Die Bongers griente, der Regisseur auch. Ich gefalle, dachte ich, und weinte mein »Ach neige …« Dann kam Violas »Ich ließ ihr keinen Ring, was meint dies Fräulein?« Ich wurde dick bei so viel geforderter Grazie; Traktor im Wohnzimmer, Sandsackbeine, Seehundarme. Der Eskimoengel sagte: »Lassen wir das.« Sie schritt mit dem nachdenklichen Regiemenschen ins anliegende Kleinfilmstudio, ich hinterher. Jemand drückte mir einen Zettel in die Hand, Szene in einer Hotelhalle, Gespräch mit Portier. Sie leuchteten, sie schminkten, einer sagte: »Wenn Sie an die Leiste stoßen, sagen Sie Ihren ersten Satz!« Dann setzten sie mich auf einen Stuhl, ich mußte den Kopf hin und her drehen, ernst aussehen, lächeln, wieder ernst, noch mal nach links, jetzt nach rechts, nicht so schnell. Schlußklappe. Sie hören von uns. Ich wollte der Bongers noch sagen, daß ich Zahnschmerzen gehabt hätte, daß ich Halbwaise sei, daß ich verfolgt wäre, daß ich dringendste Hilfe brauche, daß ich ganz bestimmt begabt wäre. Ich schminkte mich ab, lief zum Bahnhof.

Vor 14 Monaten waren es Stühle, jetzt Violas alberner Ring.

Ich stolperte auf der U-Bahn-Treppe, ein junger Mann in Uniform fing mich auf, sah mich an, sagte: »Sie haben schöne Augen.« – »Ja, danke«, sagte ich. Dachte: das hilft auch einen Dreck. Acht Wochen waren futsch, und kein Wort, kein Anruf. Vielleicht ist der Bongers was passiert, oder vielleicht ist der Film verbrannt – ich rief an, fragte nach ihr, sie war jetzt bei der Ufa, sagte einer, ich legte wieder auf. Die Uniform sagte: »Darf ich mich vorstellen, ich heiße Manfred E. Ich bin auf Urlaub, muß morgen früh zurück, würden Sie mit mir einen Kaffee trinken?« Keiner wartete besonders auf mich. Mutter war in Uelzen, manchmal kam sie zurück für ein paar Tage, das letztemal hatte sie gesagt: »Jetzt bist du für dich allein verantwortlich.«

Er hatte ein schönes, gutes Gesicht – ich ging mit ihm in sein Kleinstatelier in der Grolmanstraße. Wir saßen auf zwei Hockern, und er erklärte mir, daß der Holzkopf an der Wand ein Mumiendeckel sei. »Ich bin Architekt«, sagte er. Ich mußte lachen. »Na ja, jetzt hört sich das vielleicht etwas seltsam an, aber nach dem Krieg wird man uns brauchen.« Er kramte einen Plattenspieler hervor, zog ihn endlos auf, spielte etwas Amerikanisches namens Harlem. Wir saßen, wippten mit den Beinen, dann brachte er mich nach Haus. Vor der Haustür gab er mir seine Lebensmittelmarken, weil er sie an der Front doch nicht brauche, wie er sagte. Er schrieb vom Brückenkopf südlich von Witebsk: »Man darf das Unvergängliche nicht vergessen, die Musik, die Natur, die schöpferische Kraft in diesem Schmelzprozeß, in dem unsere Welt versinkt. Wir sind zur Festung erklärt, Berlin hatte viele Angriffe, ich habe an Sie gedacht.«

»Du, der Liebeneiner sitzt in der Kantine«, sagte Helga atemlos. »Der ist doch jetzt der Chef der Ufa in Babelsberg.« – »Na und«, sagte ich und raste los. Dreißig Minuten stand ich hinter einer angelehnten Toilettentür, dann kamen sie, mindestens zwölf gleichzeitig redende Männer. Als letzter Liebeneiner. Ich hielt ihn fest, grabschte seine Jacke und hielt sie fest. Er drehte sich erstaunt mühsam unter meinem Verzweiflungsgriff, sagte: »Ja, bitte …?«

»Herr Liebeneiner« – den Professor, der er war, hatte ich vergessen – »Herr Liebeneiner, vor sechs Monaten hat die Frau Bongers, die ja jetzt bei der Ufa ist, hat die Frau Bongers eine Probeaufnahme von mir gemacht. Ich hab’ nichts mehr gehört, bitte sehn Sie sich die doch mal an, ich heiße Hilde Knef, ich will Schauspielerin werden und das ist meine Telefonnummer. Aber hier darf keiner was erfahren, sonst muß ich zum Arbeitsdienst.« Danach fiel mir nichts mehr ein.

Er stand jetzt auf der Treppe, sah mich an, schrieb meinen Namen auf eine Schachtel, sagte: »Sie werden von uns hören.«

»Das ham die vor sechs Monaten auch gesagt«, rief ich noch hinterher. Dann ging ich aufs Klosett und weinte.

Im Zeichensaal fragte Klemke: »Wo waren Sie so lange?«

»Ich habe Zahnschmerzen.«

»Dann gehen Sie zum Arzt und nicht auf die Toilette.«

Bomben fielen auf die Bernhardstraße, Mutter kam für einige Tage nach Berlin. Wir standen im fensterlosen Schlafzimmer, Glassplitter lagen auf Bett und Boden, hatten sich in Wände gebohrt, da klingelt das Telefon. Es war wohl das einzige, was noch funktionierte. Die Bongers war am Apparat, sagte: »Wir möchten Ihre Tochter unter Vertrag nehmen, dreijähriger Ausbildungsvertrag mit Optionen. Ihre Tochter ist minderjährig, brauchen Ihre Zustimmung.« Meine Mutter murmelte fassungslos: »Ja, aber sie ist doch gar nicht begabt …« Ich hörte eine schneidende Stimme: »Das müssen Sie schon uns überlassen, Frau Wulfestieg.« Meine Mutter sagte ja. Sie wußte nicht, warum; vielleicht sah sie das Stipendium als Kriegsüberbrückung, als Rettung vor dem Schwert, genannt Arbeitsdienst. Denn daß die Zeichenschule nicht mehr mein ganzes Glück war, entnahm sie einem Brief von Klemke, der sich einsilbig über mein Desinteresse an Topf und Falten ausließ.

Die Staatliche Filmschule, Babelsberg, war nach Woltersdorf evakuiert. Meine Mutter und ich verschnürten eine Bettdecke, packten meine drei Pullover, zwei Röcke und eine ausgewaschene Trainingshose in einen Karton. Als wir fertig waren, fing sie an, die Glassplitter einen nach dem anderen in einen Eimer zu werfen. Sie sagte nichts, sah mich nicht an, schien nur mit diesen Splittern beschäftigt. Sie hatte nichts geahnt von den Probeaufnahmen, den verwarteten Monaten, von einer Sehnsucht, die so groß war, daß ich sie nicht erzählen konnte, ohne sie zu verraten. In zwei Tagen sollte ich in Woltersdorf sein – die Ablösung des Zeichenvertrages übernahm die Ufa-Filmkunst, sie waren schließlich eine Firma, und die gehörte dem Staat, und der Staat befahl. Mutters Zug ging um 19.30 Uhr vom Lehrter Bahnhof über Stendal, Salzwedel nach Uelzen. Sie ging runter in den Laden, sprach wohl mit Stiefvater. Ich saß auf dem Bett mit der lila Steppdecke – es war das erstemal, daß ich das Gefühl hatte, mich freuen zu müssen, und es nicht konnte. Ein Gefühl, das mir treu blieb. Schuldgefühl. Niemandsland.

Mutter kam zurück, sie brauchte nicht zu klingeln, nicht zu schließen, die Korridortür lag zersplittert im Gang. Sie sagte: »Es wird Zeit.« Wir nahmen ihre Bündel und zwei Pappkoffer, gingen zu Vater. Über Maschinenlärm hinweg brüllten sie »Tschüs« und »Halt die Ohren steif«. Als der Zug kam, gab sie mir einen schüchternen Kuß, rief, bevor die automatischen Türen zuknallten: »Vielleicht kannst du Weihnachten nach Uelzen …«, das »kommen« wurde vom »Zurückbleiben Türen schließen abfahren« verschluckt.

Zwei Tage später war ich am Bahnhof Ostkreuz, mußte umsteigen. Die Sirenen heulten. Zwischen den Hastenden, Rasenden verlor ich meine Bettdecke. Nach der Entwarnung lag auf den Gleisen eine fette tote Ratte, ich sah sie an, bis mir schlecht wurde. Der Zug kam, fuhr über sie hinweg. Die Abteile waren voll, die Fenster raus. Ich quetschte und klemmte, puffte und krallte, kam mit. Einer sagte in die Dunkelheit rein: »Ick genießet Lebn in volln Züjen.« Endstation, Umsteigen, Vorortsstraßenbahn, so eine altersschwache, pensionsberechtigte, aber der, der hinter dem Schild »Das Sprechen mit dem Wagenführer ist strengstens untersagt« stand, nahm’s nicht zur Kenntnis. Er raste die Dorfstraße entlang, daß es schepperte, stöhnte und schließlich krachte, der Anhänger war aus den Schienen gewankt. Den Rest lief ich, kam nach Mitternacht in Woltersdorf an, fand das verlassen aussehende Restaurant, in dem ich von nun an wohnen, lernen, leben sollte, fand den Saal neben ehemaligem Bierausschank mit zehn ordentlichen Feldbetten und fand die Sprachlehrerin Frau Kaminsky. Sie saß unter einer verdunkelten Lampe und las. Ich entschuldigte mich, weil verspätet, hielt noch immer den verbliebenen Karton umklammert. Sie sah mich freundlich-kühl an, sagte leise und schön: »Mein Kind, müssen Sie denn so berlinern?«

Morgens wurden wir vorgestellt. Da war Maria, zart-verhaucht und unverkennbar aus Sachsen. Elinor, schwarz und groß und souverän; Annerose, Ebenmaß von Stirn bis Kinn und schon verheiratet, Chiquy, sportlich-schön, Heidi, auf endlosen Beinen verträumt einherschreitend, und da war vor allem Karl Meixner, der Lehrer, unser Schauspiellehrer. Er brauchte ein Streichholz am Tag, von da an zündete er die neue an der Kippe der alten an. Seine schwarzen Augen kniesteten hinter Rauchwolken, seine Haut hatte die großen Poren von Schauspielern, die sich schnell und lieblos abschminken, die an Spiegeln uninteressiert, es sei denn, einen Bart zu kleben.

Alle wollten ihm gefallen – sie zogen sich um und an, kämmten und zupften, hingen himmelnd an seinen Lippen. Ich nicht. Ich wollte lernen, schnell, pausenlos, ungeduldig. Er hätte Roboter, Rasputin, Himmler, Hitler oder alles zusammen sein können – ich wollte nur eins von ihm: lernen. Der wilde Ehrgeiz blieb nicht unerkannt, die Uneitle, deren Eitelkeit es war, die Beste zu werden. Er trieb mich, er forderte, er brüllte, er langweilte sich, übersah mich, ließ mich hängen, führte und trieb und fauchte. Es gab keine Bomben, es gab keinen Hunger, keine Bezugsscheine, mit denen es nichts zu beziehen gab, es gab Gretchen, Luise, Ophelia, die Klassiker herauf und herunter, und alle vor der Theke, die nach Bierresten roch. Am Nachmittag raste er los mit wehendem Trenchcoat, Zigarettenschachtel in der Hand, immer zu spät, immer Züge knapp erreichend oder jammervoll verpassend, um im Schiffertheater beim George zu spielen. Ob er ein großer Schauspieler war, weiß ich nicht – er war ein großer Lehrer, der beste, den sich ein Anfänger wünschen kann. Er baute – wie keiner der Regisseure, mit denen ich später arbeitete – aus zwei Stühlen eine Welt; er ließ die Zögernden, Kichernden, stotternden Nichtskönner tauchen, eintauchen in Gefühl, zu großes, ungesteuertes Gefühl, zerlegte nicht, zersägte nicht, quatschte nicht, ertränkte uns nicht in den Abwassern der Theorie, machte keine Wissenschaft, wo’s keine gibt. Er forcierte Mut – Mut zum Fehler, Mut zum Lautsein, Mut zum Großen: »Zurücknehmen kannst du immer noch«, sagte er spöttisch, »Verhalten braucht Kontrolle, und von der hast du keinen Schimmer.« Und wenn wir im grellen Sonnenlicht, das durch die Scheiben der Wirtschaft fiel, nicht an das Gift glauben konnten, das da Ferdinand der armen Luise in die Limonade gegossen, und wenn wir ein bißchen herumreden wollten, um Zeit zu gewinnen, unterbrach er kühl: »Wirf dich hin, verdammt noch mal, du stirbst, verstehst du, du stirbst – ›Gift, Ferdinand, Gift‹« –, das röchelte er schon, daß einem ganz mulmig wurde. Der Mut war wieder da, die Sonnenstrahlen auf der Theke vergessen.

Wenn er wegraste, ging ich zur Kaminsky, die mich sorgenvoll betrachtete und regelmäßig sprach: »Wir müssen an diesem Lispler arbeiten, und Ihre Endsilben, die sind grauenvoll.« – »Abraham saß nah am Abhang, sprach gar sangbar zaghaft langsam« – so weit kam ich gar nicht im »Kleinen Hey«, Bibel aller Schauspieler. Bei »saß« fiel ihr Gesicht bereits ein. Ich gab mir große Mühe, aber das S stand mir im Weg und steht noch heute. Ich wartete auf den kommenden Tag wie eine Verstoßene auf ein Zeichen des Geliebten, arbeitete er mit anderen, war der Tag für mich geschmissen, vergeudet, Zeit verloren, unwiederbringlich. Ich lernte sämtliche Rollen, auch die, die für mich auf gar keinen Fall in Frage kamen. Else Bongers besuchte uns. Sie brachte ihren Pudel mit, der die Vorratskiste heimtückisch leer fraß, uns der Reihe nach ansah und nachschmatzte, das Aas. Sie spielte Publikum in unserem Thekentheater, behielt Reaktionen sorgsam für sich. »Wenn man mit ihr über was anderes als Rollen spricht, kriegt sie den leeren Blick«, sagte die Bongers zu Meixner und meinte mich.

Sie hatte es versucht, die Eskimofrau – die von mir heimlich so genannte, weil Mongolen-, weil Eskimo-, weil fremden, seltsamen Kopf auf zarten deutschen Schultern –, monatelang versucht, mich unterzubringen, jemanden zu begeistern oder wenigstens zu interessieren – für ihren Fund. Aber der Jonen, der Berlin-Film-Chef, lachte, lachte, bis ihm Tränen rollten. Und lustig war sie nicht, meine Szene, die wir in Nowawes gedreht hatten. Sie stand in der Vorführung, blickte auf den Schnaufenden – rief: »Die wird noch lachen, wenn Ihnen (Betonung lag auf Ihnen) das Lachen längst vergangen.« Dann nahm sie Mantel, Tasche, Film und ging. Ging zur Ufa; doch da war auch nichts – bis der Liebeneiner kam, sie engagierte, mich engagierte.

Nach drei Monaten wurde die Schule zurückverlegt, aufs Ufa-Gelände nach Babelsberg. Woltersdorf erwies sich als zu weit und zu gefährlich. In der Nähe waren Munitions- und andere Fabriken, und in unserem Restaurant-Glaskasten saßen wir ungeschützter als in den Kellern der Stadt. Wer keine Wohnung hatte oder nicht mehr hatte, durfte weiterwohnen – mir war’s egal, ich pendelte mit meinem Karton zwischen Babelsberg, Wilmersdorf, Woltersdorf, schlief auf Fußböden, Sofas, bei Mitschülerinnen, in Filmgarderoben und meistens sowieso im Keller.

Ich verfresse die Fleischmarken für einen Monat in einer Woche, trödle in der Mittagspause wasserbrötchenkauend die Straße zwischen Filmhallen entlang – denke immer wieder: hier bin ich zu Hause, das ist mein Zuhause. Morgens um halb acht fangen wir an: Ballett, eine Stunde, Fechten bei Frau Gerresheim – sie soll bei der Olympiade dabeigewesen sein –, Gesang bei Frau Röseler: »Ach, Kind, Sie sind so zart, und die Stimme paßt gar nicht zu Ihnen, wir müssen sie höher anlegen.« Ich zwitscherte, ich piepste, und nach einer Stunde krächzten wir beide. Um halb zwölf zur Kaminsky, wenn sie mich sah, zuckte sie zusammen, es ließ nicht nach, bis die Stunde vorüber war. Sie gab nicht auf, ich gab nicht auf, wir kämpften Silbe um Silbe, nur feine Sätze wurden’s nie. Dann zur Inge Bartsch und dem holländischen Pianisten, knochig wie eine unterernährte Dogge mit Pferdegesicht. Gottergeben spielte er dasselbe Lied dreißigmal – Unterricht im Chansonsingen. Um eins kam Meixner, die Ouvertüren waren vorüber. Ab sieben schleiche ich ums Bongers-Büro, nur so, vielleicht seh’ ich sie, kann ihr sagen, daß ich heute und gestern nicht drangekommen bin, daß Meixner mit anderen arbeitet. Rachsüchtig, Verwünschungen murmelnd schleiche ich, sie sieht mich, klopft ans Fenster von innen nach außen, ich soll reinkommen. Steh’ ich vorm Schreibtisch, sag’ ich nichts, trau’ mich nicht mehr, die Wut ist weg, bin wieder dankbare Schülerin. Sie lockt’s aus mir heraus, und am nächsten Nachmittag sitzt sie in der Schule, spricht: »Was studiert Hilde Knef im Augenblick? Ich würde gern etwas sehen, Herr Meixner.« Er sieht mich an, feixt, kennt seine Pappenheimer. Ich gucke unschuldig, nur leicht errötend aufs Goebbels-Bild, Profil, schräge Fuchsohren, ausladender Hinterkopf – sehe harmlos auf unsern Schirmherrn.

Sonntage sind verhaßt, kein Babelsberg, keine Schule, keine Bongers, kein Meixner. Ich fahre nach Wilmersdorf zum Stiefvater, nagle Pappe, wo mal Fenster waren, hole Briefe von Mutter und Manfred, sitze stumm mit ihm im Keller, wir haben uns nicht so viel zu sagen. »Sag doch mal was auf aus so einem Stück, du studierst das doch« – er will teilhaben, aber ich lass’ ihn nicht.

Es ist Dezember 1943 – Mutter schreibt, daß die Garage, in der sie wohnt, kalt sei, daß die Verwandten die geschobene Butter für sich behalten, daß sie morgens das Eis aufschlagen müsse, daß die Schulen geschlossen bis auf zwei Tage in der Woche, daß sie ein Nachthemd bei der Kartenstelle Uelzen beantragt habe, daß eine Maus in die Falle gerannt, sich freigemacht und weinend vor ihrem Bett gestorben sei … »Und immer diese Bomber, Tag und Nacht fliegen sie Richtung Berlin. Im Nebendorf ist einer abgestürzt, die Bauern haben den Piloten erschlagen. Ich schicke Euch Zuckerrüben, hoffentlich kommen sie auch an – nach dem letzten Großangriff habe ich versucht zu telefonieren, wollte wissen, ob Ihr’s überlebt habt. Nach zwölf Stunden meldete sich ein Bestattungsinstitut in Tegel. Ich bete jede Nacht, daß ER Dich beschützen möge. PS: Warst Du bei Großvater?«

Manfred ist verletzt, Bauchschuß, er liegt in einem Lazarett am Schwarzen Meer. »Es passierte bei dem Kampf um die Rollbahn Orscha«, schreibt er, »es geht mir schon besser, man muß nur aufpassen, daß man nicht zu einem fremden Truppenteil kommt, später, wenn man aus dem Lazarett entlassen wird. Es ist seltsam hier am südöstlichen Rand Europas, Griechen waren da, Römer, Goten, Venezianer und nun wir. Ein weißes Bett, eine Wanne, der Pfiff einer Lokomotive sind letzte Offenbarungen einer Zivilisation geworden. Wo sind die Opern von Gluck, Mozart und Flotow. Ich erinnere mich an Abende im Odenwald mit meinen Eltern, an die Bergstraße, an Fachwerkhäuser meiner Kindheit.« Schreibt Manfred.

»PS: Am Kleinen Wannsee ist ein Bootshaus, der Verwalter heißt Kupke, geh hin und nimm dir mein Kanu, sobald es warm wird.«

Wenn am Montagmorgen kurz nach sechs der S-Bahn-Zug mit dem Endstationsschild »Potsdam« am Bahnhof Westkreuz einlief, ging’s mir schon besser. Vom Bahnhof Babelsberg lief man durch den Wald zum Ufa-Studio. Rechts, in einer Lichtung, war ein Kriegsgefangenenlager. Engländer, die uns ansahen, die wir ansahen.

Kurz nach Silvester war Großangriff. Die Bombe, die Endgültige, fiel auf Bernhardstraße. Auf Bahnhof Wilmersdorf. An einem Sonntagmorgen landete ich am Teltower Damm in Zehlendorf bei Wilfried Frass, einem Regieassistenten der Ufa. Ein fröhlicher Wiener, der Berlin bedingungslos mit und ohne Häuser liebte. Die Bongers hätte ich nicht anrufen können und wollen – jeder wurde irgendwann ausgebombt, es war verpönt, Hilfe zu erwarten; ein ungeschriebenes Gesetz, an das man sich hielt. Mit Fremden oder Halbfremden war das anders, warum, weiß ich nicht, jener Berlin-Süchtige hatte heißes Wasser, und ich durfte baden; zu essen hatte er nichts. Er nahm mich in eine Atelierwohnung zwei Stock höher. »Dippert« stand auf dem Schild. Sie war klein und rund, bewegte sich rasch, sprach ebenso, ein Gummiball – Vollgummi. Und sie hieß Alike. Wilfried berichtete vom Silvesterschicksal, sie umarmte mich gerührt, sagte: »Ach, Sie armes Kind, wie betrügt man Sie um Ihre Jugend.« So viel Mitgefühl war ich gar nicht gewöhnt, es übermannte mich, überfraute mich. Sie schleppte mich in einen Raum, in dem ein riesiger Zeichentisch stand, auf ihm zahllose Tuscheflaschen, Federn, Pinsel, Becher, Büchsen, sehr geordnet, sehr genau, wie beim Klemke. Hinter allem saß ein dürrer Mann, der sich trostlos und mühselig erhob, das war Fritz aus München. Er wedelte mit seinem langen Arm, bis er meine Hand gefunden, schüttelte sie wortlos, kondolierend. Alike sagte atemlos: »Man muß den Menschen helfen, morgen kann uns dasselbe passieren, nicht wahr? Wir haben noch einen Raum, den wir eigentlich gar nicht brauchen.« Fritz schoß einen eisernen Blick auf Alike, den sie nicht wahrzunehmen gedachte. Sie goß Wasser in den Mittagessen-Eintopf und rief: »Nun reicht’s für uns alle.« Fritz hatte nichts gesagt, nur einsam geblickt. Alike bezog ein Bett. Da ich keine Kleider hatte, fiel das Schrankproblem weg, sie zeigte mir die Toilette, die Badewanne, sprach pausenlos. »Sie werden sich zu Hause fühlen bei uns, wir haben im Hof einen Splittergraben und natürlich den Keller, aber wegen der Heißwasserrohre – manchmal gibt’s ja noch welches – gehn wir nicht rein. Ich hab’ mir schon immer eine Tochter gewünscht, und da hab’ ich sie nun, auf den Fritz müssen Sie nicht hören« – er hatte noch immer nichts gesagt –, »er ist ein bißchen schwerfällig – na ja, ist eben kein Berliner, aber gut ist er, und im Grunde will er ja auch helfen, er kann’s eben nicht so ausdrücken.«

Nachts wurde ich der Hausgemeinde vorgestellt – während einer Flakpause, im Splittergraben. Die Nachbarin verkaufte Billetts im Eva-Kino in Wilmersdorf. Sie nahm Alike nach der Entwarnung beiseite und murmelte: »Ich würde keine Schauspielerin in die Wohnung nehmen, ich weiß schließlich Bescheid, arbeite in der Branche. Sind alle unsolide, Männergeschichten und so.« Alike erzählte es freudestrahlend, während wir unsere blaugefrorenen Füße massierten.

Alle drei Monate war Studioaufführung, Szenen aus den Klassikern. Lampenfiebergerötet rannten wir um Meixner rum, wie Hennen um den Hahn. Der rauchte, beantwortete alle Anliegen mit »Ja, ja«, setzte sich, rief: »Anfangen.«

Da saßen sie, die Chefs der Ufa, Tobis, Terra, Berlin-Film, Prag-Film und manchmal ein Theaterintendant. Sie saßen freundlich-jovial oder gelangweilt-arrogant mit dem »Auch-das-geht-vorüber«-Gesicht. Hinter ihnen die Lehrer. Vor ihnen die Bongers. Ich war die fünfte. Ein Blonder mit Stupsnase war Ferdinand, ich seine Luise. Wir spielten die »Gift in der Limonade«-Szene aus »Kabale«. Und da geschah’s, dasselbe warme Gefühl in der Magengegend wie bei Armgarden Anno Weise. Ich hörte Schnauben, ich hörte Hüsteln, dann fiel ich um, weil ich tot zu sein hatte. Merkte, daß das Kleid verrutscht, spürte Kühle an Schenkeln und anderswo, zog als Verblichene schamhaft Kleid dahin, wo es hingehörte. Sie lachten immer noch nicht, sie klatschten sogar. Nur Liebeneiner sagte später: »Wenn man tot ist, ist das Stück noch nicht vorbei, meine Liebe.« Kaminsky schlich gealtert um mich rum. »Mein liebes Kind, es war sehr schön und sehr ergreifend, nur werden Sie die Klassiker niemals spielen können, niiiemals mit diesem grauenvollen Berliner S und diesen Endsilben« – sie brach ab, sah sich um, sah mich an, putzte Nase, putzte Augen, schöpfte Kraft. »Wir müssen arbeiten, viel, viel arbeiten.« Hinterließ Hoffnung, wo Hoffnung hoffnungslos.

Röseler schloß mich fest und ernst in beide Arme, summte, sang: »Mein liebes Kind, es war zu Herzen gehend, ich muß es gestehen, es hat mich berührt – aber die Stimme, mein Gott, die Stimme, sie ist zu tief, sitzt falsch, ist heiser. Wir müssen an dieser Stimme, dieser grauenvollen Stimme arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten!«

Meixner rauchte, grinste, sagte nichts.

Bongers sah mich an mit ihren Blitzeblauen (»Meine Augen sind klein, aber sie sehen alles«, pflegte sie zu sagen): »Liebeneiner hat geweint, Jahn und Jonen haben geweint, ich auch. Das genügt. Übrigens, das ›Deutsche Theater‹ interessiert sich.« Ich hatte zum zweitenmal das Gefühl, mich freuen zu müssen.

Ein Mittwoch war’s, es war kalt, die Sonne schien, beleuchtete Ruinen und Gleise, die wie erhobene Zeigefinger aus ihren Fugen ragten. Es dauerte Stunden, bis ich endlich am Bahnhof Friedrichstraße landete. Ich rannte ins »Deutsche Theater«, suchte Herrn Karchow, dem ich vorsprechen sollte. Ich hatte Hunger, wie immer, und Angst, wie immer.

Auf der Probebühne fuhrwerkten alle Reinemachefrauen der Umgebung, schepperten mit Eimern, knallten mit Türen, putzten lautstark ihre Nasen, hatten was gegen Neulinge. Karchow sagte: »Bitte fangen Sie an.« Ich starrte auf die Frauen, er sagte, die stören nicht. Die »Heilige Johanna« auf dem Güterbahnhof, Verladerampe eins, hätte nicht unbemerkter stattfinden können. Ich blieb hängen, begann von neuem, um an gleicher Stelle, mit dem gleichen Klirren eines Wassereimerhenkels, den gläsernen Blick, die trockene Zunge, das tonlose Würgen zu kriegen. Gretchens Kerkerszene war eine Stummfilmdarbietung – daß Karchow mich dennoch engagierte, ließ mich so lange fassungslos umherirren, bis ich die mir zugedachte Rolle im nächsten Premierenstück der Kammerspiele des »Deutschen Theaters« gelesen hatte. Ich trat ungefähr sechsmal auf, ohne etwas zu sagen, einmal kam ich mit Revolver, hatte ängstliches »Hände hoch« zu flüstern. Zur Premiere kam Bongers, ich brüllte meinen Satz, tat mir und dem Stück nichts Gutes. Karlheinz Schroth spielte die Hauptrolle, auf der Treppe zum Bühneneingang sah er mich allabendlich überrascht an, sagte »Na, Kleine«, lächelte und vergaß mich bis zum nächstenmal. Auf der Bühne nahm er mich nicht wahr – ich trug für meine einzige Szene mit ihm eine Gesichtsmaske, eben für das täglich ersehnte »Hände hoch«.

Nach der Vorstellung raste ich zum Bahnhof. Am Friedrichstraßenbunker lungern sie mit Kind und Kegel, mit Taschen und Flaschen, warten auf Bomben, auf Alarm, warten geduldig vor verschlossenen Toren. Ich rase in der Hoffnung, Zug und Zehlendorf vorm Angriff, dem Unausbleiblichen, zu erreichen, knalle auf einen nicht sehr jungen, nicht sehr großen, recht unauffälligen, recht unwirsch blickenden Herrn, bringe geordnetes Haar, bringe geordnete Erscheinung in Unordnung. Murmle »Entschuldigung« – galoppiere weiter.

Hilde Jansen, mit der ich Garderobe und Schminktisch teile, kichert am nächsten Abend, sagt: »Du hast gestern den Demandowsky übern Haufen gerannt.« – »Wen?« – »Na, den Demandowsky, den Tobis-Chef.« Die Hilde war verheiratet, der Mann in Rußland, und der war ein Freund vom Umgerannten. »Kommst du mit? Er zeigt einen Film, einen ganz neuen, am Sonnabendabend, er holt uns ab nach der Vorstellung.«

Die Tobis-Büros waren auf der anderen Seite vom Bahnhof Friedrichstraße, zwischen S-Bahn-Station und Admirals-Palast, die Studios draußen am Bahnhof Grunewald. Mehr wußte ich nicht, wollt’ ich auch nicht – war schließlich bei der Ufa, der Großen, sah herunter auf Tobis, die Kleinere.

Das Auto stand vorm Bühnenausgang, Marke »Holzkocher«, etwas Koksangetriebenes, Rußiges. Neben ihm ein Dünner in Schornsteinfegerfarbe. Hilde und ich stiegen ein, er auch. Ich freu’ mich, seit der vermasselten Ballnacht in Lichterfelde war ich nicht mehr Auto gefahren. Er dreht am Zündschlüssel, steigt aus, rührt im Ofen, der aus dem Kofferraum ragt, steigt ein, dreht, steigt aus, rührt. Nach dreißig Minuten sagt unser Heizer-Fahrer: »Der jeht nich.« Der Film wurde in Demandowskys Haus vorgeführt, das war in Dahlem, wir nahmen S-Bahn, nahmen U-Bahn, liefen durch Parks, kamen zur Gelfertstraße, der Film hatte angefangen, der Hausherr war verärgert. Hans Albers spielte gerade Trompete und sang was von Paloma, Ilse Werner trat auf, hatte mein Kleid an – die Ufa hatte sich an meiner Trainings-Luftschutzhose übergesehen, schenkte Kleid aus Fundus an bombengeschädigten Nachwuchs. Sie da oben, ich da unten im selben, dann kam die Hildebrand, sang »Beim erstenmal, da tut’s noch weh«, anschließend war Alarm. Er hatte einen Unterstand im Garten, balkengestützt, mit Licht und zwei Bänken. Die Flak ließ entferntes Meckern hören, dann ein Gurgeln, ein Summen, die Balken knirschen, liegen schräg, richten sich auf, Licht blinzelt, wird trübe, geht aus. Eine Taschenlampe sucht Decke ab, aus der rieselt’s, wieder ein Gurgeln, wieder Summen, diesmal ein langer Ton, Kinderpfeife, Balken knirschen, liegen schräg, bleiben schräg, einer schreit: »Raus.« Wir bleiben an der Treppe, Hockstellung, Mund auf, Ohren zu. Oben zwitschern die Flaksplitter, machen gurr, gurr, machen tschip, tschip, sägen Baumäste ab. Das geht so ein, zwei Stunden, ich denke, was suchen die in Dahlem, zwischen Kiefern, Villen, Ententeichen – da wird’s heiß, das kenn’ ich, das hab’ ich nicht gern, ich sag’: Brandbombe, vielleicht Phosphor – nachts kamen die Engländer, und die schmissen Phosphor, das wußte jedes Kind. Kopf in Luftschutzeimer, den vorschriftsmäßig wassergefüllten, Decke auch, umlegen, nicht stolpern, raus. Der Rasen brennt, wir schlagen mit Decken um uns, gegenüber brennt’s, und über der Innenstadt ist Tag, rosa-rot-qualmig, Tatütata der Feuerwehr. Entwarnung – die ersten sind weg. Alarm – die zweiten kommen.

Gegen Morgen räumen wir Glassplitter, der Schornsteinfeger-Fahrer-Heizer erscheint, muffig-traurig, meldet Automobilverlust. Demandowsky sitzt im Wohnzimmer, dem fensterlosen, und lacht – der kann ja lachen, denke ich. »Der macht ein Gesicht wie damals«, sagt er. Damals war eine Filmpremiere, der Muffig-Traurige sollte ihn abholen, aber er holt nicht. Nach Stunden taucht er auf, Bierdunst, Zitterhände. »Wo ist der Wagen, wo waren Sie?« schreit der Sitzengelassene. Er steht, er wankt, holt Luft, läßt sie wieder raus, sagt: »Also es passierte an der Ecke – der kommt rüber, sieht nischt, is blau, also dann Bums und sonstdergleichen, war ne ganz einfache Person, hatte gar keine Verwandte.« Telefon klingelt, Tobis-Friedrichstraße steht noch, ich rufe: Fragen Sie doch mal, ob Nollendorfplatz, ob Wilmersdorf, habe plötzlich Angst um Großvater, um Stiefvater, nein, es war Gleisdreieck und Tiergarten und Ku’damm und Zoo und Potsdamer. Sag’ danke, ich muß jetzt gehen – sag’ es, als wäre zulässige Besuchszeit abgelaufen.

Wo wohnen Sie?

In Zehlendorf.

Ich bringe Sie, mit dem Rad.

Er strampelt los, ich auf Gepäckständer. Vorm Haus Teltower Damm Nummer 5 steigt er ab, nimmt meine Hand, zieht sie rauf, ich runter, küßt sie, sagt: Wie schade, daß ich morgen nach Prag muß. Alike und Fritz sind wach, besorgt, fragen. Alike kocht Muckefuck, setzt sich ans Bett, spricht betrübt: Mägdelein, Mägdelein, das ist kein guter Umgang.

Sie hatten Vertrauen zu mir. Erzählten von Brecht, von Mann, von Wedekind und Schnitzler. Erzählten von denen, deren Bücher es nicht mehr gab, weihten mich ein in verbotene Astrologie, Numerologie, erzählten von der Bergner, der Massary, von Pallenberg und Reinhardt. Nachts hörten sie BBC. Es quakte, es quietschte, wurde unverständlich, aber es gab ihnen Freiheitsgefühl, Hoffnung, Protest in protestloser Zeit. Sie hatten großes Vertrauen. Stiefvater erzählte, daß Hannelore aus der Varziner Straße ihre Mutter angezeigt hätte. Der Vater war in Rußland in Gefangenschaft – Mutter wurde abgeholt, war in Deutschland in Gefangenschaft. Hannelore im nationalsozialistischen Jugendheim, befördert, geehrt. Und Stiefvater sagte: »Weißt du noch – sechsunddreißig?« Wir waren mit der Schulklasse zum Olympiastadion gefahren, draußen in Westend – Hitler hielt eine Rede. Es war heiß – »Hitler-Wetter« nannten sie es, weil seine Kundgebungen stets sonnenbeschienen –, Kakao gab’s in Flaschen mit Strohhalm. Klebehände, Flecken: Kakaobraun auf Führerbraun. Ich sah Fahnen und Hinterköpfe, war meilenweit weg. Beim Abendbrot sagte ich: »Es war ein großer Tag, ich habe den Führer gesehen.« Meine Mutter starrte mich an, rief: »Du bist wohl übergeschnappt?« Stiefvater warf warnenden Blick, sagte sanft: »Aber das ist doch sehr schön für so ein Kind, nicht wahr?«

Er sah jetzt elend aus, war mager, klapprig, sehnte sich nach Frau und Sohn, wohnte in Untermiete beim Fleischermeister, lief regelmäßig zur Polizei, um eine Reisegenehmigung nach Uelzen zu bekommen, für drei Tage wenigstens. Wenn ich ihn hastig besuchte, blieb er hinter seinem Ladentisch, flüsterte: »Komm nicht ran, ich spucke nachts immer Blut.« Die Bongers platzte in den Unterricht, sprach: »Kind, Sie bleiben heute abend hier – für Probeaufnahmen.« Für was, für wen, fragte man nicht. Man blieb. Ich drehte bis Mitternacht, schlief in einer Filmgarderobe, dachte nicht darüber nach, warum ich die stummen Köpfe, die armselige Szene wieder und wieder gedreht hatte.

Goebbels, Schirmherr der Filmindustrie, Schirmherr des Nachwuchses, hatte mich eingeladen, privat, zum Essen, zum »persönlichen Kennenlernen«. Für Bongers war das Alarmstufe 1, Gefahr in allen Richtungen, voraussehend, wissend, ahnend – Katastrophen meiden in einer Katastrophenwelt, auch die kleinen, um jeden Preis. Sie sagte dem Ministerium, daß das gewünschte Fräulein Probeaufnahmen hätte, sei schließlich kriegswichtig, neuer Film, sei leider, leider ausgeschlossen, den Nachwuchs vorzuführen, außer auf der Leinwand, der Filmleinwand. Ich erfuhr es später, wesentlich später. Ich schlief in meiner Filmgarderobe und freute mich, daß kein Alarm war.

Am nächsten Abend hing ich zwischen zerknautschten S-Bahn-Fahrern auf der Strecke Babelsberg-Zehlendorf. Jemand brabbelte neben mir: »Ich bin Herstellungsgruppenleiter Ufa, habe Sie in der Schule gesehen und einmal in der Kantine – planen einen großen Film, wäre schöne Rolle für Sie drin, könnten wir das nicht mal morgen abend besprechen« Ich erzählte der Bongers vom Herstellungsgruppenleiter – der keiner war, wie sie sagte. In der Aufnahmeleitung hatte er zu tun, dritter oder vierter, die, die immer »Komparserie auf die Plätze!« brüllen. Bongers ließ ihn zu sich kommen, sprach streng: »Soviel ich weiß, sind Sie uk-gestellt, soviel ich außerdem weiß, sind nicht viele Männer Ihres Alters in der glücklichen Position. Die Mädchen in unserer Schule werden nicht ausgebildet, um Nutten zu werden. Merken Sie sich das und verbreiten Sie es!«

Zu mir: »Du bist in einem Beruf oder wirst eines Tages in einem sein, den Männer und solche, die’s gern wären, mißverstehen. Lerne: Du suchst die Männer aus, nicht umgekehrt. Und noch eins: Sage nie vor Erschöpfung ja.« Ich wurde rot, röter, fürchtete zu platzen. Sehr beschämt war ich damals, dankbar war ich später.

Sonntags fahre ich mit Alike und Fritz zum Kleinen Wannsee. Wir drehen uns so lange im Kreis, bis ich lerne, mit Manfreds Kanupaddel umzugehen, dann gondeln wir zum Griebnitz- und Stölpchensee, hocken unter Trauerweiden, Fritz mit Hut und Weste, Alike im Kostüm, dem einzigen, grauen, mit zerfranster Bluse.

Eine Nacht bleib’ ich allein auf dem Wasser, liege im Kanu, gucke auf Sterne, schaukle, hab’ mich festgemacht an einer Boje im Griebnitzsee. Frösche quaken, Sirenen heulen, weiße Finger tasten am Himmel rum, grabbeln Sterne weg. Ein Flugzeug kommt ins Scheinwerferkreuz, versucht zu fliehen, fällt auseinander, brennt. Es orgelt, es pfeift, ich liege im Wasser, japse, suche das Boot, das kopfsteht – eins – zwei – drei Bomben schlagen in den See, ich schreie Hilfe, Fontänen sausen hoch, das Wasser bebt, das Kanu hopst, klatscht zurück. Ich dreh’ es um, häng’ dran, jammere, klettre rein. Höre die nächsten Verbände einfliegen, sie summen, brummen, hören sich freundlich an. Im Morgengrauen komme ich zum Bootshaus, schlotternd, Abenteuerlust einer Sommernacht ein für allemal beendend.

Das Stück im Deutschen Theater klappert mühselig seinem Ende entgegen, wir spielten es sowieso kaum noch über die Pause hinweg, meist tönte die Sirene, bevor mein »Hände hoch« gefallen war. Der Inspizient bekam telefonisch seinen Vorwarnungsbericht, konnte ausrechnen, wann der Vorhang fallen, das Publikum stumm ergeben in den nächsten Keller eilen würde.

Ende Juli soll das Stück abgesetzt werden. Am zwanzigsten sitze ich in überraschend leerer Stadtbahn, am Bahnhof Friedrichstraße steht SS, Panzer, Militärpolizei, schlicht »Kettenhunde« genannt, fragen barsch nach Ausweis, wohin, warum, wohnhaft und das übliche. Sie sagen, ich soll ins Theater gehen. Ich schlängle mich durch Panzer und grimmig blickende SS-Menschen. Die Garderobiere steht am Eingang, bibbert, ich frag’ sie, sie sagt nichts. Bibbert weiter. »Wo sind die anderen?« – »Nicht da«, klappert sie. Ein Polizist kommt, sagt: »Gehn Sie in den Keller.« Wir sitzen im Keller, wissen nicht, warum. Nach drei Stunden guck’ ich mal raus, die SS ist weg, ein Panzer schleicht herum. Ich lauf zum Bahnhof, kein Zug weit und breit, kein Stationsvorsteher, keine Drängler – Mondlandschaft. Ein SS-Mann rennt auf mich zu, brüllt: »Gehn Sie gefälligst in den Keller!« Ich denke an Giftgase oder ähnliches, suche den nächsten Keller. Stumm sitzen sie, sehen sich nicht an, sitzen nur. »War Alarm?« flüstre ich ins Halbdunkle, keiner antwortet. Stunden vergehen, die Tür wird aufgerissen, jemand brüllt: »Ausweise!« Ich zeig’ meinen, hoffe auf ein Wort, eine Erklärung. Der Mann sagt: »Dableiben!« Die Tür knallt zu, wieder Stille. Morgens komme ich in Babelsberg an, für Zehlendorf hat’s nicht gereicht. Auch da scheint jedermann verstummt, nicht bereit, Näheres zu sagen. Meixner grinst: »Wißt ihr schon, das Telefon heißt ab jetzt ›Selb‹ – die Fremdwörter müssen ausgemerzt werden, ausradiert, hat der Führer gesagt! – Wie die Städte«, murmelt er selbstmörderisch hintennach. Erst abends bei Alike, der BBC-Gebildeten, höre ich von den Generälen und vom Attentat, das nicht stattfand.

»Was wird mit der Schule, wenn der Krieg vorbei ist?« frag’ ich. Der Meixner guckt die Bongers an, die Bongers guckt den Meixner an. Ich kann mir nichts vorstellen unter »vorbei«. »Wir sind zu Hinkel bestellt, morgen um neun«, sagt sie. Da sitzen wir aufgereiht, Lehrer, Schüler, Bongers – im Vorführraum der Reichsfilmkammer, Kurfürstendamm Ecke Uhland. Goebbels’ Untertan steht in Ornat und Orden – ich höre Fetzen: Endsieg, brauchen jeden Volksgenossen, Einsatz, totaler Krieg, die Stunde hat geschlagen, werden ihnen zeigen, den imperialistischen Kriegshetzern, einer für alle – alle für einen, Volk steht auf, Sturm bricht los, Heil Hitler.

»Darf ich Sie mal besuchen, Frau Bongers?« – Sie antwortet nicht, hört nicht.

Der geschenkte Gaul

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