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Fräulein Weise war nicht so; sie war böse und hätte zur Warnung ihrer Schüler auch so heißen sollen. Sie trug Rosa, Rosa zu allen Jahreszeiten, und aus diesem Rosa quoll ein weißer, fettiger Fischkopf wie das weiße Fleisch aus einem gekochten Hummer. Ihre wäßrigen flachen Augen waren schnell und stechend, und ihr dummer Spott ließ jedes beginnende Interesse an ihrem Geschwafel ersterben. Sie trug auf all diesen rosa Gewändern ein Parteiabzeichen. Sie war unsere Klassenlehrerin und haßte uns alle ausgiebigst.

Man sprach viel vom Krieg und vom Vaterlandverteidigen, und als ich einmal fragte, gegen wen wir uns denn verteidigen sollten, da wir doch gar nicht angegriffen wurden, durfte ich zu meiner Freude und meiner Mutter Verzweiflung drei Tage nicht in die Schule gehen, der Blockwart sprach eindringliche Worte mit meinem Stiefvater, und ich mußte mich entschuldigen.

Jeden Morgen betrat sie, ohne uns eines Blickes zu würdigen, die Klasse. Die Bänke waren zu klein für uns, und wir zerrten unsere Gebeine hervor, um strammzustehen und Heil Hitler zu brüllen, mußten stehen bleiben, bis sie ein kreischendes Setzen zurückschrie. Erst dann sah sie sich um und uns an, als sei sie überrascht, überhaupt etwas Atmendes, Lebendiges zwischen den Bänken zu sehen. Ihr erster, nun plötzlich leiser und verwirrend-sanfter Aufruf galt fast immer mir, sie rief mich nur beim Nachnamen, Knef, säuselte es durch den Raum, und sie stellte mir eine Frage, die ich nie beantworten konnte, weil ich jeden Morgen von diesem Fischgesicht aufs neue verschreckt und hypnotisiert war, sie verwandte dann ungefähr fünf Minuten an die Beschreibung meiner Minderwertigkeit, und je älter ich in diesen Verdummungsjahren wurde, um so klarer wurde mir doch, daß sie bei der Gestapo ihre Lehrprüfung abgelegt haben mußte. Sie war unsere Deutsch-, Geographie-, Französisch- und selbstverständlich auch unsere Geschichtslehrerin – die Geschichte hat sie uns dann auch restlos verheimlicht, dafür um so mehr die Vorzüglichkeiten unserer Regierung gepriesen. Dinarische Rasse, nordische Rasse … die Wenden, die Slawen (minderwertig), die nordische Frau: breites Becken, breite Schultern, blondes Haar, blaue Augen – es lief an uns vorbei wie Bahnhofsschilder an einem Schnellzug: Rassen, Rassen, wohin man sieht, Rassen … wir mußten vortreten, unsere Rassenmerkmale beschreiben: »Ich bin nordisch, weil …«

Und was war mit Margot Wiener? Wir saßen auf derselben Bank in der Volksschule in Wilmersdorf, sie wohnte am Bayrischen Platz in einer überwältigend großen Wohnung mit einer Toilette im Flur und einer im Bad, ich hatte das nie zuvor gesehen, und sie hatte mir stolz erklärt, daß die Flurtoilette für Gäste sei. Margot war klein und dunkel und hatte große hellbraune Augen und konnte lachen wie eine Hyäne, war gutmütig wie ein gefütterter Bernhardiner – wo war sie? Sie war eines Tages verschwunden, und die Lehrerin in der Volksschule, die Fräulein Koch hieß und so lieb und sanft und nachsichtig war wie die Weise ekelhaft, hatte uns mit ihrer kleinen, sauberen Stimme erzählt, daß Margot plötzlich mit ihren Eltern umgezogen sei.

Ich bin nordisch, weil …

Biologiestunde und Fräulein Lerche, eine dünne vertrocknete Lerche, die unablässig von der Wichtigkeit einer an der Luft getrockneten Zahnbürste sprach, täglich einmal, und die immer nervös an ihrer Oberlippe herumkaute mit ihren langen gelben Zähnen. Ihr Vater muß ein Pferd gewesen sein, nicht nur wegen der Zähne, sie galoppierte auch so, wir rasten mit ihr durch den Grunewald, und sie spuckte aus ihrem gelben Gebiß die Namen der Bäume, manchmal auch Lärchen, und wir wieherten blöd, was sie mit einem resignierten Kauen an der Oberlippe abtat. Sie war nicht bös, und wir hatten sie ganz gern auf unsere junge, sadistische Art. Aber ich kann heute nur mit Anstrengung einen Nadelbaum von einem Laubbaum unterscheiden, und das hat nichts mit meiner Kurzsichtigkeit zu tun, und so war ihr Wirken an mir tragisch erfolglos …

Bei Fräulein Schulz war das anders – an sie werde ich mich wohl noch lange erinnern, wie an Fräulein Weise –, die war unsere Turnlehrerin. Das einzig hübsche in unserer Schule war unsere Turnhalle; sie hatte schöne große Fenster, einen blankgeputzten Parkettboden, und sie sah nicht nach Turnen, sondern nach fröhlichem Sport aus. Dieser Eindruck erwies sich in dem Augenblick als falsch, in dem Fräulein Schulz die Halle betrat, sie war ein verbackener Eierkuchen, vor Wochen in einer zu warmen Speisekammer vergessen. Ihr Gesicht war riesengroß und gelb, ihre verschwitzten Haare, die dunkelsträhnig um ihren großen Kopf hingen, die zu langen schwarzen, glänzenden Turnerhosen und die gebogenen, halb muskulösen, halb schwabbeligen Beine gaben ihr die Aura eines türkischen Ringers. Nachdem wir in Reihen oder »Riegen«, wie sie es nannte, angetreten waren, mußten wir wieder Heil Hitler schreien und die Hand heben – sie hob zurück. Dann hielt sie eine kurze Rede in einer rauhen, bellenden Hundestimme, die durch das Turnhallenecho vollends unverständlich wurde – Fetzen von »soldatisch« und »nacheifern« und »unserem Führer zeigen«. (Aber was?) Dann ging’s zum Reck; ich habe und hatte immer schwache Handgelenke und konnte weder Bauchwelle noch andere Wellen am Reck vollbringen, ohne herunterzufallen, einmal zwang sie mich mit ihrem Tambourstock, ich machte eine Bauchwelle beziehungsweise keine, denn auf halbem Weg sauste ich herunter und schlug mir einen Halswirbel heraus, der mir noch heute wie ein Dromedarhöcker aus den Abendkleidern steht. Sie war gar nicht erregt, sprach nur von soldatisch und Nacheifern und Körperstählen und gesundem Geist und gesundem Körper. Ich war ihr ein Dorn im fettversteckten Auge, ich war nicht im BDM, dafür hatten Großvater und eine Kinderlähmung, die ich als Siebenjährige gehabt hatte, gesorgt. Sie wollte mich stählen und meinte quälen, sie wollte mir zeigen, was »deutsch sein« heißt. Sie hat es so lange versucht, bis ich ihr beim sonnabendlichen Völkerballspiel meinen großen Medizinball in den Bauch donnerte, daß sie sich auf dem verstaubten Schulhof wand … Ich entschuldigte mich, sie ohrfeigte mich, aber das tat bestimmt nicht so weh wie der Medizinball auf den Eierstöcken.

Herr Rabe liebte Weber, Carl Maria von, und Oberon wird mir bis ans Grab widerlich sein. Er spielte Klavier wie ein Autofahrer in Gefahr, er hupte verzweifelt mit viel Pedal und sang düster vor sich hin blickend rätselhafte Texte. Bevor der Krieg anfing, kamen einmal englische Lehrer in unsere Schule und sahen sich den Unterricht bei uns an, wir mußten »Rosenstock, holder, blüh« im Ringelreihen tanzen, und er klatschte in die Hände, was er sonst nie tat, und vermittelte den Eindruck nationalen Glücks auch bei den Jüngsten …

Er war groß und hatte viel dunkles krauses Haar und wäre beim nordischen Unterricht der Weise glatt durchgefallen. Aber er glaubte an Sieg und Kraft durch Freude und an Weber und trug sein Parteiabzeichen auf einem verschabten grauen Anzug mit Lederecken auf den Ellenbogen. Außer Musikunterricht gab er auch einmal in der Woche Malstunde, es stand immer dieselbe trockene Geranie auf dem Katheder, die wir zeichnen sollten, wir mußten alles ganz genau und ordentlich wiedergeben, und er rannte mit einem Zirkel von Bank zu Bank und machte Vermessungsarbeiten wie ein Brückeningenieur. Er gab mir trotz der nie stimmenden Maße eine Eins im Zeichnen und gewann damit mein käufliches Herz, ich wollte Malerin werden, ich zeichnete Karl den Großvater, und Mutter – wenn sie Zeit hatte stillzusitzen – und Tante Hulda. Tante Hulda war schön faltig und zeichnete sich am leichtesten – sie besah sich meine Werke mit einer so unsäglichen Trauer ob ihrer Unschönheit, daß ich sie aus Mitleid als Modell aufgab. Ich schleppte meine Zeichnungen in die Schule in der Hoffnung, sie dem Rabe vorzeigen zu können und ein warmherziges Lob zu kassieren, rannte aber meistens in die Weise, die sich die Blätter besah und mir empfahl, mehr an Geschichtsunterricht und ihre Französischstunden zu denken und nicht mit diesem »Firlefanz« die Zeit zu vertun. Ran ging’s wieder an Odin oder Wotan und den Donnerregler Thor, an Siegfried und Kriemhild und diese sich endlos ausrottenden Helden des Nordens.

Nachmittags war Handarbeitsunterricht, wir strickten Socken für die Soldaten an der Front, und bevor wir uns an die Wollreste begaben, wurde eine Rede über die Notwendigkeit des Krieges und den Lebensraummangel des deutschen Volkes gehalten; da ich ein ehrliches Gedränge nur am Potsdamer Platz zur Weihnachtszeit und vielleicht noch im Freibad Wannsee im Juli bemerkt hatte, verstand ich die Sorge nicht ganz, hütete mich aber, Näheres zu ermitteln, ich war gewarnt, und Fragerei bringt Ärger, hatte ich als einziges in dieser Anstalt gelernt. Nur einmal kam ich noch vom Wege ab, das war in der Aula, als der weißhaarige Chemielehrer eine Rede zum VDA-(Verein-der-Auslandsdeutschen-) Tag hielt und das große Leid und Heimweh der in den Karpaten, an der Wolga, in Bessarabien und selbst in Südamerika ansässigen Deutschen beschrieb, die nichts so sehr herbeisehnten, als in unserem engbesiedelten Lebensraum auch noch zu siedeln – da fragte ich, warum sie nicht blieben, wo sie Platz hätten, und schon hatte ich die Schererei …

Die meisten in der Klasse wollten Lehrerin oder Krankenschwester an der Front werden – letztere hofften wohl auf einen dreißigjährigen Krieg –, sehr wenige wichen von diesen bei den Lehrern geschätzten Berufen ab. Da war Vera Ress, ein hübsches Mädchen mit Stupsnase, sie wollte Tänzerin werden und war verpönt. Nanette wollte auch malen, was uns fast befreundet machte, und eine wollte mit ihrem Vater, der Ingenieur war, nach China – wie sie dort hinkommen sollten und was genau sie dort vorhatten, gab sie nicht bekannt, aber die ganze Sache mit China war schon ein guter Einfall, und man soll dann auch nicht kleinlich werden. Eine kam täglich in einem zerschlissenen und bekleckerten Taftkleid zum Unterricht, sie liebte Johannes Heesters und ging jeden Abend in die Operette »Graf von Luxemburg«, woselbst er auftrat – uns behandelte sie wie hilflose Dorftrottel, weil wir selten ins Theater kamen, ich war erst einmal im Theater oder genauer in der Oper gewesen, »Fidelio«, und wäre fast eingeschlafen – die Dicke als Mann verkleidet erfüllte mich mit tiefer Trauer. Unsere Süchtige im Taftkleid hatte eine größere Krise, als Heesters in einem Film eine Liebesszene mit der Rökk gespielt hatte; ihre Aufsätze schrieb sie mit zittriger Greisenhand, und Tränen liefen über Taft und Hefte, und wir mußten sie vor ernsteren Schritten bewahren – sie wollte sich von einer Seitenloge am selben Abend auf die Bühne und Heesters zu Füßen werfen, ich hielt es zwar für einen effektvollen, aber nicht unbedingt leidenschafterweckenden Eintritt in des Angebeteten Leben.

In dieser Zeit fingen wir an, unter Weises Aufsicht die Klassiker mit verteilten Rollen zu lesen. »Die Klassiker« waren Schiller und meistens »Wilhelm Tell«. Mir fiel die arme Armgard zu, ich stand also vor der Klasse und begann mit »Hier weicht Ihr mir nicht aus, er muß mich hören«, als ich plötzlich ein warmes, freundliches Gefühl in der Magengegend spürte – wie eine weiche Wärmeflasche in einem eisigen Winterbett, und als ich bei »Barmherzigkeit, Herr Landvogt, Gnade, Gnade« landete, lag ich auf den Knien, und mir liefen die Tränen aus Nase und Augen, und ich kam vor Schluchzen nur mit Mühe zu den »Waisen, die nach Brot schreien«. Das Fischgesicht gebot der Darstellung Einhalt, verwies mich mit schneidender Stimme auf die letzte Bank und sprach von undeutsch-hysterischem Gebaren. Es war ein Alptraum, ich schämte mich in Grund und Boden, hoffte auf Erdbeben oder Luftangriff, um dem Hohn und dem Erschrecken über mich selbst zu entgehen … Bis auf die keifende Stimme blieb alles still, die anderen stierten mich an, als hätten sie in ihrer Mitte unbedachterweise eine Vogelspinne beherbergt. Meine restliche Zeit bei der Weise war Qual … ich hatte Angst vor den anderen und auch vor mir, denn ich wußte ja nicht, ob ich mich eines Tages wieder hinschmeißen und wegen der Waisen in Tränen ausbrechen würde, ich dachte an die Großtante, die sich auf den Brücken auszog, und wurde bedrückt.

Jede Nacht war Fliegeralarm, wir waren alle müde, hingen in den Bänken, durften nie zu spät kommen – »Die Soldaten an der Front dürfen auch nicht müde sein!« Bomben fielen kaum, man saß nur im Keller, hörte Kinderquaken, das Murmeln der Flak, hatte Zahnschmerzen oder auch keine, roch den feuchten Kellermief, betrachtete die Wasserrohre, schlief über unfertigen Schularbeiten ein, wachte bei Entwarnung wieder auf, schleppte die Koffer nach oben, schlief wieder ein, wurde geweckt durch zweiten Alarm oder den Wecker, trank dünnen, aufgewärmten Kaffee, aß zweimal wöchentlich Eipulver aufgelöst und verrührt, gekocht, gebraten, nach Leim schmeckend, Vierfruchtmarmelade auf Wasserbrötchen, manchmal Margarine, Trockengemüse, trug selbstgestrickten Pullover aus kratziger Kriegswolle – Schafen wachsen in schwierigen Zeiten Borsten –, gewendeten Mantel, Mappe unterm Arm und los, ran ans fröhliche Lernen zur verständigen, aufmunternden Weise.

Am Sonntag früh holte ich auf Marken den Liter Magermilch für Kleinkind-Bruder, und an einem solchen Sonntag traf ich Martin Witt, er ging in die Treitschke-Schule, hatte ein Fahrrad und trug Rollkragenpullover – beim Milchtopfschwenken lud er mich zum Radfahren am Montag ein, Seligkeit, die Weise sah sogar besser aus am Montagmorgen, um vier trafen wir uns beim Stadtpark und kicherten und trampelten auf den Rädern bis fünf, dann mußte er Schularbeiten machen und ich meinen Kleinkind-Bruder vom Kindergarten abholen. Der Dienstag hatte es in sich, ich saß kuhäugig vor Glück und traumverloren in meiner Bank – er hatte gesagt, ich könne radfahren wie ein Junge und hätte schönes Haar –, da machte sich Weises Sopran in meinen Träumen bemerkbar – »… während unsere Soldaten an der Front für uns sterben, haben bestimmte Mädchen unter euch nichts anderes zu tun, als sich mit radfahrenden Jünglingen unnütz die Nachmittage zu vertreiben.« … radfahrende Jünglinge … ich mußte an Jünglinge denken, die statt Beinen Räder mit Gummireifen haben, und ich fing an zu grinsen – da donnerte es: Kneeeef … der Hummer war wieder frisch gekocht, der Tadel in der Führungsmappe eingetragen, verwarnender Brief an Eltern geschrieben, kuhseliges Glück unselig, und vorbei.

Nachmittags war manchmal Kochunterricht, von der turnwütigen Schulz geleitet – viel zu kochen gab es nicht, und in dem halbdüsteren Keller, der eine Küche sein sollte, wurden Löffel unter dem Leitsatz »Wie bereite ich aus Graupen und Wasser ein bekömmliches Mahl für fünf Personen?« geschwenkt.

Ich war fünfzehn, und die Frage war, bleibe ich und mache ein Abitur, oder bleibe ich nicht. Ich blieb nicht und mußte zum Arbeitsamt, Pflichtjahr und Arbeitsdienst hingen über mir wie gelbe Gewitterwolken, und dann die Prüfung, die »mittlere Reife« – die Weise fragte verderbenden Blickes, der Rektor war dabei, ich kam durch die mündliche Prüfung, die schriftliche war ein Thema, das wir uns wählen konnten. Ich wollte ja Malerin werden und auch dem abgeschabten Rabe einen Gefallen tun, schrieb ein langes Werk über Dürer – seine Kohlezeichnung von der schiefäugigen Mutter hatte mich beeindruckt –, und als ich mein Werk in Schönschrift ablieferte und eine Nacht in dem Glauben ruhte, ein Genie zu sein, holte die rosarote Weise zu ihrem letzten Schlag aus, behauptete an diesem meinem letzten Schultag, ich hätte alles abgeschrieben aus einem bekannten Dürer-Buch und hätte damit gezeigt, daß ich einen unwürdigen Charakter besäße. Die schlichte Antwort auf ihre letzte Frage, was ich denn zu werden gedenke – Malerin –, entlockte ihr den lebensklugen Satz: »So was muß es auch geben«, und damit war ich entlassen.

Der geschenkte Gaul

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