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Von leeren Brieftaschen und von Glück und Treue …

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KONRAD ERZÄHLT VON BRENDA

Sie hat mir erzählt, irgendwann, als sie dreizehn oder vierzehn war, habe sie vor dem großen Wandspiegel im Schlafzimmer ihrer Mutter beschlossen, aus ihrem Körper kommerziell etwas zu machen. Fotomodel schwebte ihr vor.

Der Auslöser war jener Onkel Tiberius, der Rosalies Geliebter, zugleich aber väterlicher Freund war, denn Rosalie litt unter einer chronischen Geldnot. Sie war einfach auf einen Mann angewiesen, der mit beiden Füßen Bodenhaftung hatte. Lebensnotwendig war das besonders in Krisenjahren, von denen Deutschland ja genug zu bieten hatte.

Tiberius kam aus der Filmbranche und half, wo er konnte. Brenda hasste die Abhängigkeit von anderen, aber mehr noch hasste sie Armut, diesen Abgrund, an den die Mutter sie des Öfteren geführt hatte.

Eines Abends, in einem Berliner Hotelzimmer, gab es irgendetwas zu feiern, und die drei stießen gutgelaunt an. Tiberius schenkte Rosalie ständig Rotwein nach. Die ließ es geschehen, während sie mit einer gespielt fröhlichen Resignation zu ihrer wohlgewachsenen Tochter hinüberblickte, als müsste sie sich für alles, was da noch kommen sollte, entschuldigen.

Brenda erzählte später, an den Blicken des Onkels sei ihr klargeworden, dass sie an diesem Abend dran war. Zunächst war ihre Hoffnung, Müdigkeit vorzutäuschen. Doch Tiberius fing an, sie zielgerichtet mit der ganzen Erfahrung eines Lebemanns zu entkleiden, während Brenda lustlose Abwehr leistete. Mit einem Mal begriff sie, dass hier ein abgekartetes Spiel stattfand.

Brenda verstand schlagartig das merkwürdige Verhalten ihrer Mutter, die seit geraumer Zeit mit Gesten und Bemerkungen um Verständnis für das bat, was sie nicht auszusprechen wagte. Auch das ständige vertrauliche Lächeln des Freundes, das eine gewisse Vorfreude auszudrücken schien, sowie dubiose Bemerkungen oder anzügliche Komplimente deutete sie im Nachhinein so, dass es irgendeinen Deal gegeben hatte. Aber erst im nächtlichen Hotelzimmer begriff Brenda vollends, um was es sich handelte.

Als Rosalie im Nebenraum das Bett vollkotzte, begutachtete Tiberius den herrlichen Mädchenkörper, den er mit gezügelter Begierde genoss. Brenda ließ das alles über sich ergehen. Tatsächlich versuchte sie eine Erklärung dafür zu bekommen, was in diesen Mann gefahren war, den sie Stunden zuvor noch als väterlichen Onkel erlebt hatte, der jetzt nur Wollust zu empfinden schien und sich der nackten Brenda bediente, als hätte er es mit einem kalten Buffet zu tun.

Als er fertig war (was einige Zeit in Anspruch nahm), rauchte er eine Zigarette. Gönnerisch bot er Brenda eine an. Doch die würdigte ihn keines Blicks. Er zog sich an und begab sich in sein Zimmer, das um einiges komfortabler war als das der beiden Frauen.

Rosalie ging es am nächsten Morgen nicht gut. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Brenda hatte nach der Tat lange geduscht. Danach passte sie einen günstigen Moment ab und entnahm Tiberius’ Brieftasche sämtliche Geldscheine. Anschließend fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach unten, betrat die Hotelbar, schlug die schlanken Beine übereinander und bestellte schwarzen Kaffee.

Tiberius fürchtete, sich in die junge Frau zu verlieben, eine Gefühlslage, die er unbedingt vermeiden wollte. Da kam ihm Brenda zu Hilfe. Als er sie auf die Banknoten in seiner Brieftasche ansprach – er tat es auf seine humorvolle Art –, wurde ihm mitgeteilt, dass dies nur eine Anzahlung gewesen sei. Wollte er ein zweites oder drittes Mal von ihrem Körper Gebrauch machen, würde der Spaß um einiges teurer werden.

Rosalie war und blieb die alte Freundin, der Tiberius weiterhin half. Da war er ein Ehrenmann alter Schule. Brenda hingegen betrachtete er wie ein Naturwunder, wie eine Raubkatze, die im Dschungel ihre eigenen Wege geht.

Er nahm sie mit zu Filmaufnahmen, stellte sie einflussreichen Männern vor und lud sie eines Tages ein, mit ihm den Hanseatischen Hof zu besuchen, eine Art Vergnügungs- und Erholungseinrichtung der gehobeneren Klasse, die sich nicht weit von Ahrensberg in der Geborgenheit der hamburgischen Walddörfer etabliert hatte.

Vor dem ersten Krieg war dies ein Hotel gewesen, um gutbetuchten Feriengästen die Sommerfrische so angenehm wie möglich zu machen. Vorteilhaft war die Nähe zur Stadt. Ein Anruf genügte, und der Geschäftsmann war in kürzester Zeit in sein Kontor zurückgekehrt, wo er vielleicht dringend erwartet wurde.

Der Hanseatische Hof bot einige Zimmer an, für den Fall, dass der Geschäftsmann ein Doppelzimmer für sich und eine bzw. seine Dame suchte. Unter diesen Umständen konnte er hier die nötige Diskretion erwarten. Man war unter sich, traf sich beim Billard oder im russischen Bad, oder genoss die waldreiche Umgebung.

Brenda begleitete Onkel Tiberius, ließ sich in die Gesellschaft vermögender Männer von Welt einführen und entleerte weitere Brieftaschen. Eines Tages erhielt sie ein Angebot vom Inhaber einer Werbeagentur. »Wissen Sie eigentlich, was für ein interessantes Gesicht Sie haben, meine Liebste?«

Brenda antwortete, indem sie ihre wohlgeformte Nase intuitiv anhob: »Ja.«

Die Geschäftsführung wurde auf sie aufmerksam, da sie es verstand, die Gäste an das Haus zu binden. Trotz ihrer Jugend wurde Brenda fest eingestellt, da eine ihrer Spezialitäten das Anwerben junger Frauen war. Ihre Maxime lautete: Die Frauen verkauften nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Liebe, denn das war es, was die männliche Gesellschaft vorgerückten Alters am meisten begehrte: von einem jungen weiblichen Wesen geliebt zu werden. So jedenfalls brachte es ein Bankier auf den Punkt, der zu den Stammgästen des Hanseatischen Hofs zählte. Und ein anderer gern gesehener Kunde, ein Reeder, meinte, was zähle schon die leere Brieftasche, wenn man innerhalb eines Wochenendes dem wahrhaftigen Glück in die Augen sehen dürfe. Er setzte hinzu: Und bis zum nächsten Aufenthalt das Gefühl bewahre, man werde nicht nur geliebt, sondern erfahre auch Treue.

Im Hanseatischen Hof wurde viel gelacht und gescherzt, und das klassische Do ut des bildete die stillschweigende Übereinkunft, dass auch die engagierten Damen auf ihre Kosten kamen. Brenda sorgte dafür, dass sie den Hanseatischen Hof am Freitagabend in extravaganter Garderobe betraten. Die reichen Geschäftsleute hatten großen Spaß daran, sich bei der Ausstattung ihrer attraktiven Begleiterinnen zu überbieten.

Es hieß, der Portier würde Herrschaften, die in normaler Straßenkleidung aufkreuzten, höflich daran erinnern, dass Abendgarderobe erwünscht sei. Es war eine geschlossene, auf ihre Weise dennoch erstaunlich tolerante Gesellschaft, die sich hier amüsierte und dabei ihre eigenen Wege ging.

Onkel Tiberius blieb Rosalie und Brenda gewogen, half ihnen kurzfristig mit kleineren Beträgen aus. Brenda gegenüber wurde er wieder ganz der alte Onkel, seit er wusste und selbst erlebt hatte, wie die junge Frau sich im Hanseatischen Hof in kürzester Zeit in der Geschäftsführung hochgearbeitet hatte. Brendas Blick für reiche Herren verhalf ihr zu einem kleinen Vermögen. Je mehr dieses anwuchs, desto geiziger wurde sie. Das bekam Rosalie zu spüren, die mehr als einmal behauptete, der Erfolg ihrer Tochter sei nur auf sie, die Mutter, zurückzuführen.

»Und was ist mit einem Vater? Von dem war noch gar nicht die Rede.«

Konrad grinste: »Da hatte Brenda eine reiche Auswahl. Ihr Name ist ja englischen Ursprungs, was die Vermutung nährte, Rosalie habe mit einem Schauspieler in London eine Affäre gehabt. Es kam aber auch eine Handvoll anderer Männer infrage. Kurzum: Sie wusste es nicht mehr. Tiberius trat erst später in ihr Leben. Gott sei Dank, möchte man erleichtert ausrufen.«

KONRAD ERZÄHLT WEITER

Trotz aller Gerüchte, die durch Neustadt an der Bille schwirrten: Traugott Busch lebte gern in dem Haus in der Bahnhofstraße Nr. 6. Morgens trank er Kaffee mit Rosalie und erörterte die weltpolitische Lage. Dabei überschüttete Rosalie ihren Mieter mit Fragen für die Prüfungsvorbereitung: »Was bedeutet dieses Grunzgesetz eigentlich?« (Es schien kein Versprecher zu sein, denn mehrfach sprach sie von Grunzgesetz.) »Heißen wir hier wirklich Trizonesien? Was halten Sie von der Deutschen Demagogischen Republik

Professor Fischer war dafür bekannt, dass er in der Examensprüfung auch aktuelle politische Fragen ansprach, und das nicht, um den Prüfling vorzuführen, sondern um ihm die Chance zu geben, die Gegenwart aus der Historie heraus zu verstehen.

»Hierzu helfen ihm meine Fragen«, versicherte Rosalie, während Brenda bemerkte: »Stell bloß nicht so schwere Fragen. Das verunsichert ihn nur, und am Ende fällt er durch.«

Dabei lächelte sie Traugott so verführerisch an, dass dieser ernsthaft überlegte, lieber draußen in der Feldmark zu üben. Er nannte das seine Gedankengänge, wenn er seinen Fragenzettel abarbeitete und freies Sprechen übte. Wer sich über den zu einem imaginierten Publikum redenden Wanderer wunderte, waren allenfalls die Kühe, die ihn manchmal ein kleines Stück seines Wegs begleiteten, denn Kühe sind neugierige und gesellige Zeitgenossen. Nur ein elektrisch geladener Weidezaun hielt sie davon ab, Traugott zu nahe zu kommen.

Das Haus mit dem großen Obstbaumgarten gehörte mittlerweile Brenda. Onkel Tiberius hatte es ihr überschrieben, Rosalie erhielt ein lebenslanges Wohnrecht. Eine gute Entscheidung, fand Brenda, da Tiberius weder Frau und Kinder noch nähere Verwandte hatte.

Das war im Frühjahr vollzogen worden. Ein paar Tage später traf das Telegramm ein, das den Tod des alten Busch im fernen Münster anzeigte.

Als Traugott auf Brenda zuging, um ihr das traurige Ereignis mitzuteilen, legte die ihm den Zeigefinger auf die Lippen und nahm den Freund in den Arm. Dann sagte sie mit leiser, aber fester Stimme: »Ich gehe nachher zum Bahnhof und besorge Ihnen einen Fahrschein erster Klasse. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Ihnen werden keine Kosten entstehen.«

»Aber das kann ich nicht annehmen. Sie tun schon so viel für mich.«

Brenda lächelte. »Sie sind bald Gymnasialprofessor, dann klären wir alles.«

Die Prüfungen nahten. Eigentlich benötigte Traugott jede freie Minute für die Präparation, hätten ihn nicht andauernd Gedanken eingeholt, die in den Tagen der Beerdigung zur Belastung geworden waren. Nach den Trauerfeierlichkeiten blieb Traugott noch eine knappe Woche, um der Mutter beizustehen.

In Anwesenheit des Priesters, der seit fünfundzwanzig Jahren der Familie verbunden war, berichtete Traugott von der jungen Tochter seiner Vermieterin, der durch die Großzügigkeit ihres Onkels ein Haus zugefallen war. Sie sei zwar Protestantin (wie fast alle in holsteinischen Landen), aber inzwischen sei man in diesen Fragen großzügiger. Die vielen Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien hätten den Anteil katholischer Bevölkerung ohnehin anwachsen lassen. Beide Konfessionen würden sich im Laufe der kommenden Jahre sicherlich angleichen.

Das sah der Priester anders. Er hielt gar nichts von der Mischehe. Und als er hörte, die junge Frau sei abends in einem Hotel beschäftigt, fahre mit einem eigenen Auto durch die Gegend und sei auf Werbefotos zu sehen, wurde er äußerst misstrauisch. Die Modernität, die sich in diesen Fragen nach dem furchtbaren, sittenzerstörenden Krieg entfaltet habe, erfordere eine gründliche Prüfung. Der Sittenverfall um die Großstadt Hamburg herum lasse ihn nichts Gutes ahnen.

Der Tag der ersten Staatsprüfung war da, gefolgt von der zweiten, der Germanistikprüfung. Den Auftakt hatte eine halbstündige mündliche Philosophieprüfung gebildet, die zum Höheren Lehramt befähigte. Kandidat Busch brillierte und schloss in allen drei Disziplinen mit sehr gut ab.

Brenda holte den Freund vom Prüfungsamt ab. Sie fuhren nach Neustadt, stießen mit Rosalie an und aßen in einem nahe gelegenen Ausflugsrestaurant zu Mittag. Ende des Monats fand der Examensball statt.

Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch

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