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Er zog aus und war weg
ОглавлениеRosalie steht im Flur und wischt sich die Tränen aus dem Auge. Alles ist so schnell gegangen. Aus Kiel kam ein Telegramm. Die Kultusbehörde bot Traugott eine Referendariatsstelle in Husum an. Der nahm sofort an. Was gestandene Lehrer als Strafversetzung empfunden hätten, denn die graue Stadt am Meer schien außer Theodor Storm nichts Großartiges zu bieten, war für den angehenden Lehrer ein Befreiungsschlag.
Brenda dachte nicht an eine Ehe, gestaltete den Abschied vielmehr unterkühlt. Von der langen Liebesnacht war ebenso wenig die Rede wie von finanziellen Angelegenheiten. Traugott zog aus und war weg.
Er stürzte sich in die Arbeit und galt sowohl im Kollegenkreis als auch bei seiner vorgesetzten Behörde als Lichtblick und zukünftiger Schulleiter, obwohl er inmitten der Ausbildung steckte und das Referendariat noch längst nicht abgeschlossen war. Seine Bezüge waren ausgesprochen dürftig, so dass an Urlaub oder längere Reisen nicht zu denken war. Münster! Das stand natürlich ganz oben auf der Liste.
Für die jüngeren Kolleginnen war Traugott allerdings ein Gesprächsstoff. Er galt als Hahn im Korb, und mehr als eine der jungen Damen – sie ließen sich mit Fräulein anreden – überlegte, ob man den attraktiven Mann nicht zu einer Reise nach Münster einladen könne. Eine Fahrradtour wurde erwogen. Traugott hatte selbst davon geschwärmt. Doch fielen diese hoffnungsreichen Pläne in sich zusammen, als bekannt wurde, Traugott habe sich bei seinem letzten Besuch mit einer Cousine verlobt, die ein kleines Vermögen in die Ehe einbringen werde. Vom Bau eines Hauses und der Anschaffung eines Sportwagens war die Rede.
Das zweite Staatsexamen stand vor der Tür. Es war ein trüber Tag. Traugott hatte seit Tagen gelernt, zugleich aber Unterrichtsverpflichtungen wahrgenommen, wozu auch die Korrektur von fünfundvierzig Aufsätzen einer zehnten Klasse gehörte. Die Zimmervermieterin, Frau Feddersen, steckte den Kopf durch den Türspalt, brachte aber nicht den ersehnten Kaffee, sondern einen Brief aus Neustadt an der Bille, Bahnhofstraße Nr. 6. Als er den Brief aus dem Umschlag ziehen wollte, fiel ihm ein Kinderfoto entgegen, die Aufnahme eines Kleinkindes, das soeben laufen gelernt hatte. »Das ist Konrad. Er grüßt seinen Vater«, stand auf der Rückseite. Mehr nicht.
Traugott spürte seinen Herzschlag, denn in Münster gab es Kinderfotos von ihm, die diesem Kind unglaublich ähnlich waren. Er nahm seinen Lehrerkalender und blätterte. Auch hier passte alles zusammen. Er war Vater. Und was ihn zunächst erschreckte, ging einige Minuten später in Stolz über.
Als Frau Feddersen den Kaffee brachte, reagierte Traugott nicht schnell genug, so dass die Wirtin feststellte: »Der ist aber süß.«
Traugott stotterte ein wenig, fing sich jedoch schnell und sagte: »Mein Neffe. Ich bin jetzt Onkel.«
Die Feddersen war eingeschnappt, weil sie keine Einzelheiten zu hören bekam. Deshalb verließ sie den Raum mit der Bemerkung: »Hauptsache, er wird nicht katholisch erzogen.«