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Paula packt aus [NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]

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Ich hielt am ersten Sonntag des Monats meinen üblichen Vortrag im großen Speisesaal des Seniorenstifts. Mittels einer Power-Point-Präsentation unternahm ich auch dieses Mal virtuelle Ausflüge in die Stadtgeschichte. Am Ende der gutbesuchten Historischen Matinee beantwortete ich Fragen und kommentierte ergänzende Bemerkungen, insbesondere die älterer Herren, die meine Veranstaltungen gern als Gelegenheit nutzten, sich einmal ungebremst reden zu hören.

Das alles erforderte viel Vorbereitung und ging zu Lasten meiner Chronik. Auf der anderen Seite war schon so manches historische Juwel zutage gefördert worden, das meine Arbeit bereicherte. Dieses Mal war mir eine ältere Frau aufgefallen, die mich kritisch zu mustern schien, sich aber an den Gesprächen nicht beteiligte. Erst als ich meine Sachen schnell zusammenpacken wollte, denn es roch schon nach Vorsuppe und die Tische um uns herum waren bereits eingedeckt, trat sie an mich heran.

Ob ich einen Augenblick Zeit hätte. Ihr Name sei Paula Adelstorff, sie könne mir wichtige Informationen über Direktor Traugott Busch liefern. Sie sei mit dessen Sohn Konrad verheiratet gewesen. Ich hätte Traugott zwei-, dreimal erwähnt. Da gäbe es noch sehr viel mehr zu sagen.

Ich hatte meine Packerei unterbrochen und teilte ihr mit, dass ich seit einiger Zeit auf der Suche nach einschlägigen Unterlagen sei. Wenn sie mir dabei helfen könne, käme ich einen großen Schritt weiter.

Wir verabredeten den kommenden Donnerstag. Ich stand pünktlich vor einer der Villen in der Bismarckallee, unserem Preußenviertel, das von Moltke, Roon, Wrangel und anderen Größen unserer Militärgeschichte kündete. Ich wurde von meiner Gastgeberin mit einer liebenswürdigen Geste hereingebeten. Wie es meine Art ist, nahm ich trotz einer freundlichen Aufforderung nicht gleich Platz, sondern sah mich um und entdeckte auf diese Weise im Bücherregal ein Foto, das einen Mann mittleren Alters zeigte.

»Das ist er!«, rief Frau Adelstorff. »Kennen Sie die Aufnahme? Es zeigt ihn gewissermaßen auf der Höhe der Macht, Mitte der Sechzigerjahre. Ich glaube allerdings, das Foto hat Seltenheitswert. Ich wüsste niemanden, der eine Kopie davon besitzt. Ja, wenn Hermann noch etwas dazu sagen könnte, Hermann Schrotmüller, der die Schule abbrach, um Fotograf zu werden. Das hing mit seinem Vater zusammen, der ganz plötzlich verhaftet wurde. Schreckliche Geschichte. Sollte man vielleicht gar nicht wieder aufrollen.«

»Erstaunlich«, fügte ich hinzu, wobei ich meiner Gastgeberin bis in die Küche gefolgt war.

»Ich glaube, es lag an seinem fehlenden Arm, den Traugott gern verdeckte. Er empfand das als Makel. Schöne Männer sind oft eitel. Es hat einige Jahre gedauert, bis er sich mit seinem Schicksal arrangiert hatte. Überhaupt liebte er das Leben. Trübsal blasen war seine Sache nicht. Er war ständig in Aktion. Stillstand verabscheute er.«

»War es eine Kriegsverletzung?«

»Ja, er kam armamputiert nach Hause und wurde zunächst von depressiven Stimmungen heimgesucht, die er aber schnell in den Griff bekam. Nehmen Sie doch Platz. Kuchen? Ich erhielt vor einigen Tagen einen Anruf von Konrad …«

»Ihrem geschiedenen Mann!«

»Ja, ich habe die Vermutung, das hängt mit Ihnen zusammen und dem, was über Sie in der Zeitung stand.«

»Was wollte er denn?«

»Konrad ist Eigentümer des Nachlasses. Er ist misstrauisch gegenüber jedem, der ihm in die Quere kommt. Er wollte immer die Geschichte seines Elternhauses schreiben, ist jedoch nicht weit gekommen. Zu viele Unterlagen sind im Laufe der Jahre verschwunden. Zudem schien Konrad der Auffassung zu sein, dass er sich im alleinigen Besitz der historischen Wahrheit befände. Er kann sehr brüsk werden, wenn man ihm zu nahe kommt.«

»Dann will ich ihn lieber nicht behelligen.«

»Gehen Sie nur! Er ist ein schwieriger Zeitgenosse, Künstler eben. Er wird sich am Ende über Ihren Besuch freuen. Er schwärmt leidenschaftlich für die Musik der Sechzigerjahre, ich meine natürlich die Popmusik. Wenn Sie da ein wenig mitschwärmen, haben Sie schnell einen neuen Freund gefunden.«

Wir sprachen ausführlich über ihren Schwiegervater, den sie nie richtig kennen gelernt hatte, dem sie aber eine unüberhörbare Verehrung entgegenbrachte. Die trat immer wieder hervor, wenn wir am Couchtisch über Eck Fotoalben durchblätterten und ich in den Dunstkreis ihres eleganten Parfüms geriet.

Meist waren es postkartengroße Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Viele Fotos zeigten den Neubau des Gymnasiums, ein modernes, dreistöckiges Flachdachgebäude, so dass ich mir die Bemerkung gestattete, das sei ja Bauhaus-Architektur in Reinkultur.

Frau Adelstorff stimmte lebhaft zu: »Er hat sich um alles selbst gekümmert. Als er hörte, dass in mehreren Städten Deutschlands solche Schulbauten existierten oder sich in der Planung befänden, sind die extra in den Sommerferien dorthin gefahren. Am liebsten wäre er wohl nach Dessau gereist, um sich ein Bild zu machen. Aber das war zu kompliziert. Stellen Sie sich vor: Ein westdeutscher Beamter in Führungsposition besucht die DDR. Wir sagten damals aber nur Zone und sprachen von Pankow, wenn wir die ostdeutsche Regierung meinten. Wir befanden uns noch mitten im Kalten Krieg. Die da drüben waren überhaupt nicht anerkannt. Man verdächtigte ihn ohnehin, ein Linker zu sein.«

»Sie sagten, die seien in den Sommerferien losgefahren.«

»Nun hören Sie mal! Das ist doch sonnenklar. Mit Brenda ist er los, und einige Klatsch- und Tratschtaschen sind auch dahintergekommen. Gleich ging es wieder hoch her in unserem schönen Neustadt. Ein Schulleiter, der ein außereheliches Verhältnis zu einer – sagen wir mal höflich – ungewöhnlichen Frau hat. Das war schon ein heißes Eisen. Es gibt nämlich auch Fälle, da wurden Schulleiter vom Dienst suspendiert, wenn sie gegen die Moral verstießen. Oder gegen das, was einflussreiche Kreise darunter verstanden. Ich erinnere Sie nur an den populärsten Showmaster dieser Jahre, den Holländer Lou van Burg, der siebzig Prozent Einschaltquoten mit seiner Unterhaltungssendung erreichte. Doch die ZDF-Größen stießen sich an seinem Privatleben. Van Burg lebte von seiner Frau getrennt, hatte mit seiner neuen Lebensgefährtin zwei Töchter und leistete sich eine Affäre mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau, die ein Kind von ihm erwartete. Das war den ZDF-Verantwortlichen zu viel, sie schmissen den Mann fristlos raus, weil er moralisch nicht mehr tragbar war.

Hier haben Sie eine Aufnahme vom Rohbau, den er akribisch überwacht hat. Viele Aufnahmen aus diesen Jahren stammen von Hermann – ein Name, wie gesagt, den Sie im Auge behalten sollten. Er hat später als Fotograf Karriere gemacht. Das Tusculum, das Restaurant an der Marktstraße, gehört der Familie noch heute.«

»Was ist das!«, rufe ich begeistert. »Ist das nicht das alte Schulgebäude, das nach dem Umzug in die Sachsenwaldstraße abgerissen wurde? Auch davon gibt es nur wenige Aufnahmen. Das war ehemals ein alter Kasernenbau, der mit Abzug der Garnison leer stand und zum Standort des alten Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums wurde. Hier hat Preußen sich nicht mit Ruhm bekleckert. Die Lichtverhältnisse waren katastrophal. Die Schüler haben sich in dem Gemäuer, das vom Schwamm befallen war, die Augen verdorben. Und die Knochen ebenso, denkt man nur an das Mobiliar. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden Forderungen laut, das Gebäude abzureißen. Traugott Busch brachte die Kraft auf, bei den zuständigen Landes- wie Kommunalbehörden, den Parteien und den einflussreichen Persönlichkeiten einen Neubau durchzusetzen. Es war ein Kampf, der seine Spuren hinterließ.« Ich warf einen Blick auf das Foto, das sie vom Regal genommen hatte. »Aber Sie beschreiben einen Helden, der sich große Verdienste um das Gemeinwohl erworben hat. Man müsste eine Straße nach ihm benennen.«

»Ist doch versucht worden. Die Sozialdemokraten in der Stadtversammlung haben mehrere Anläufe unternommen. Doch es reichte, dass der Vorstoß von der SPD kam. Schon hatten gewisse Kreise ihre Vorbehalte. Zur Not stocherte man in seinem Privatleben herum. Brenda lieferte den Stoff, der nötig war, einen hervorragenden Menschen zu desavouieren.«

Wir schwiegen einen Moment. Dann erhob sie sich, winkte aber ab, als ich ebenfalls aufstand.

»Warten Sie, ich bin gleich wieder zurück«, rief sie mir zu und verschwand im angrenzenden Raum, vermutlich dem Büro. Nach etlichen Minuten kehrte sie zurück. »Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ, aber ich glaube, Sie werden einigermaßen entschädigt.«

Sie hatte einen Karton dabei, in dem einst Schuhe gelagert haben mochten. Als sie den Deckel abnahm, kamen unzählige handgeschriebene Blätter zum Vorschein. Paula sah mich erwartungsvoll an: »Greifen Sie ruhig zu. Was Sie in Händen halten, ist nichts Geringeres als der Briefwechsel zwischen Traugott und Brenda.

Wenige Wochen vor unserer Scheidung, will sagen, dem damit verbundenen Auszug, hatten wir einen Wasserschaden im Keller. Wir – das heißt, vorrangig ich – trugen alles nach oben, was evakuiert werden konnte. Konrad war auf Konzertreise, während ich mit Hilfe einiger Nachbarn rettete, was zu retten war. Die Briefe waren teilweise in einem erbärmlichen Zustand. Ich trocknete die beschädigten Blätter und begann nach dieser mühevollen Behandlung mit dem Studium der Papiere.«

»Es geht doch nichts über Briefquellen«, sagte ich. »Damals hat man sich noch geschrieben, obwohl viele Haushalte schon einen Telefonanschluss hatten. Fasse Dich kurz, stand an jeder Telefonzelle. Das Telefon ist der größte Feind des Historikers. Heute kommen E-Mails und SMS hinzu. Sie verhindern das Generieren brauchbarer Texte, die noch in zweihundert Jahren von unserer Gegenwart künden.«

Sie sah mich mitleidig an. »Aber wenn wir den ganzen Blödsinn archivieren, den wir tagtäglich produzieren … Nehmen Sie den Krempel mit und werten Sie ihn meinetwegen aus.«

»Und was sagt Konrad dazu?«

»Er weiß nicht, dass ich die Briefe habe. Er geht davon aus, dass sie alle entsorgt wurden. Als er von seiner Tournee heimkehrte, waren sie jedenfalls weg. Hinzu kommt, dass er sich all die Jahre nicht sonderlich um den schriftlichen Nachlass seiner Eltern gekümmert hat. Ich bin froh, dass wir jetzt in Ihnen jemanden gefunden haben, der all den Geheimnissen einmal vorurteilsfrei auf den Grund geht. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand.«

Ich saß tagelang an der Entzifferung der Texte, deren Inhalt oft nur mit der Lupe erschlossen werden konnte. Ich hatte die Briefe eingescannt und konnte die Schrift entsprechend vergrößern, wodurch ebenfalls Unklarheiten beseitigt wurden. Zunächst erstellte ich Regesten, schrieb wichtige Informationen in eine Textdatei. Als die Sichtung abgeschlossen war, wollte ich einen Text schreiben, den ich als Baustein für eine mögliche Lebensgeschichte Traugott Buschs verstand, des Helden meiner Kommunalbiographie. Ich hatte die Geschichte vollständig vor Augen, sah die Bilder in mir wie die eines Films. Ich ließ den Film ablaufen, wenn ich nicht schlafen konnte, und überarbeitete ihn auf längeren Spaziergängen. Meine Geschichte war inhaltlich und stilistisch gelungen. Sie hatte nur den einen Nachteil: sie existierte allein im Kopf, ich hatte noch keinen einzigen Buchstaben zu Papier gebracht …

Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch

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