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Der die das Dingsda … [NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]

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… Es klemmte, sträubte sich, wollte nicht hinaus. Es klang im nächsten Augenblick nicht, war banal, bedrückte mich, stellte mich infrage, forderte mich auf, es ein andermal zu versuchen. Dabei leuchtete es im Kopf hell und klar vor mir auf …

… Dann schrieb ich:

Rosalie saß auf dem alten Sofa und stopfte Strümpfe. Bisweilen unterbrach sie ihre Tätigkeit und streichelte den alten Kater, der neben ihr lag und sich eng an sie geschmiegt hatte. Streicheln und Kraulen hatten zur Folge, dass der alte Hinz – so hieß der Kater – noch heftiger schnurrte als sonst. Die alte Dame überlegte: Hier bin ich nun zur Ruhe gekommen. Vor ’33 habe ich in Berlin, Wien und Zürich auf der Bühne gestanden, da war an Ruhe oft nicht zu denken. Der brutalste Ruhestörer war dieser Hitler. Wo der auftauchte, war es vorbei mit der Ruhe. Erst kamen die Eroberungen, und als es mit denen nicht mehr ging, die Zerstörungen, wobei die Bomben aus heiterem Himmel das Schlimmste waren. Man muss ja bloß in die S-Bahn steigen und nach Hamburg hineinfahren. Sind doch keine zwanzig Minuten, und man ist mittendrin in der Zerstörung, in den Ruinen, unter den Trümmerhaufen. Es sollen Tausende sein, die da noch drunter liegen, angefressen von den Ratten, skelettiert, mumifiziert, eingeäschert.

Die Putzfrau, die jeden Mittwoch kam – mehr konnte sich Rosalie von Adelstorff nicht leisten –, meldete einen Besucher, einen Herrn Traugott Busch. Und kaum stand der in der Tür, dachte Rosalie: Mein Gott, wie schön er ist, und noch so jung. Er ist mindestes eins fünfundachtzig. Dazu das volle blonde Haar und die strahlend blauen Augen. Ein germanischer Recke. Den wird Brenda sich hoffentlich nicht entgehen lassen.

Traugott Busch machte eine knappe, korrekte Verbeugung und dankte für den Platz, den man ihm angeboten hatte, einen Sessel, der ebenso alt war wie das Sofa und den jungen Mann tief sinken ließ.

Der stellte sich vor: Jahrgang ’20, Teilnehmer am Westfeldzug, Verwundung. Die Verwundung musste er nicht ausführlicher erläutern. Dass der linke Arm fehlte, war leicht auszumachen. Besonders an Tagen wie dem heutigen, wenn es warm war und die Männer kurzärmlige Hemden trugen. Nach der Genesung wurde der junge Leutnant abkommandiert zum Heeresamt für Unterrichtsfragen. Nach Wiedereröffnung der Hamburger Universität begann er ein Studium der Germanistik und Geschichte sowie Philosophie. Geschichte vornehmlich bei Professor Fritz Fischer, den er ausführlich mit Lob bedachte. Er, Busch, würde auch weiterhin gern in Hamburg wohnen, aber da seien günstige Zimmer für Studenten oder angehende Lehrer nicht zu bekommen. Deshalb …

Rosalie nickte eifrig, insbesondere bei der Nennung von Namen, als wollte sie den Eindruck vermitteln, sie kenne all das und diesen und jenen obendrein. Kurzum, ihr sei es nicht viel besser ergangen: »Ja, ja, junger Mann, mir hat das Leben nichts geschenkt. Mit den Großen und am Ende mit den ganz Großen habe ich auf der Bühne gestanden, aber es sollte nicht sein.«

Sie ließ offen, was nicht sein sollte. Denn sie liebte das Vage, Geheimnisvolle und sprach, wenn ihr danach war, gern in Andeutungen und von schicksalsmächtigen Kräften, denen wir alle unterworfen wären.

Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal. Brenda stand im Raum. Ihr Blick fiel auf Busch. Der sprang auf und lieferte seine korrekte Verbeugung ab. Dann standen sich beide gegenüber – Traugott fassungslos und glücklich. Denn das war die Frau, die er in vielen Träumen vor sich gesehen hatte. Eine innere Stimme verkündete: Das ist sie, du hast sie gefunden. Gott hat deine Träume nicht übersehen, auch wenn er es gerade in diesen Zeiten mit unendlich vielen Träumen zu tun hat. Aber Gott hat immer Zeit, das unterscheidet ihn von den Menschen.

Rosalie bat ihre Tochter, einige Minuten zu bleiben. Herr Busch sei auf der Suche nach einem Zimmer, und in Hamburg sei nichts zu bekommen. »Deshalb hat er auf unsere Anzeige hin angerufen …«

Busch räusperte sich. »Es hängt natürlich auch von der Höhe der Miete ab. Mir sind da enge Grenzen gesetzt.«

Brenda, ganz in Abwehrhaltung, denn auch sie war von dem Mann und der Begegnung auf eigenartige Weise berührt, sah ihn herausfordernd an: »Darüber machen Sie sich keinen Kopf. Uns liegt daran, ordentliche Leute ins Haus zu bekommen. Jungen Männern, die das Vaterland verteidigt haben, machen wir einen Sonderpreis. Den Garten dürfen Sie mitbenutzen …«

»Und keine Damenbesuche!«, rief Rosalie mit gequälter Stimme dazwischen. »Jetzt, wo wir einen Katholiken zum Bundeskanzler bekommen haben, wird wieder auf die Moral geachtet.«

Busch zuckte leicht zusammen, überlegte kurz, ob er gestehen sollte, dass er aus dem streng katholischen Münster stammte. Aber er zog es vor zu schweigen. Katholiken waren im lutherischen Holstein nicht beliebt. Es gab Schilder an Gartenpforten: An Flüchtlinge und Katholiken wird nicht vermietet. Auch Adenauer, dem es immerhin gelungen war, Protestanten und Katholiken in einer christlichen Partei zusammenzuführen, wurde zunächst argwöhnisch betrachtet.

Traugott sagte: »Wie ich im Radio hörte, ist er mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt worden. Das wird seine eigene gewesen sein.«

Brenda schien es eilig zu haben. Rosalie erhielt ein Küsschen. Kater Hinz ebenfalls.

»Bleib ein wenig«, bettelte Rosalie und beobachtete Busch dabei genau. »Andauernd bist du unterwegs. Und abends bist du auch immer auf und davon. Das ziemt sich nicht für eine junge Dame.«

Brenda lachte. »Einer muss ja das Geld verdienen. Unterhalte dich mit unserem neuen Mieter ein bisschen und zeige ihm sein Zimmer.« Dann wandte sie sich an Busch: »Wo arbeiten Sie eigentlich?«

»Ich studiere, Fräulein von Adelstorff.«

»Das von können Sie getrost weglassen. Lediglich Mutter legt Wert auf den Adel, von dem niemand weiß, wie wir überhaupt dazu gekommen sind. Sie studieren also. Aber das macht nicht satt, und die Miete kann man davon erst recht nicht bezahlen.«

Traugott, der sich immer stärker in den Gedanken hineinschraubte, dass diese hinreißende junge Dame genau die Frau fürs weitere Leben sein könnte, appellierte an sein Selbstbewusstsein, dieses Verhör möglichst bald zu beenden. Er überlegte, ob er Brenda einen Spaziergang durch den bereits erwähnten Garten vorschlagen sollte. Doch kaum hatte er sich innerlich ein wenig in Position gebracht, schlug die nächste Frage ein.

»Was studieren Sie?«

Rosalie rief: »Aber das hat er doch schon erzählt! Germanistik bei Professor Fischer. Hörst du denn gar nicht zu!«

»Mir hat er das noch nicht erzählt, Mama, und ich habe ebenfalls ein Anrecht darauf, so wichtige Dinge zu erfahren.«

Traugott lächelte. »Geschichte und Deutsch, und zusätzlich noch Latein und Philosophie im Nebenfach. Aber angesichts der vielen gefallenen, verwundeten oder mit Berufsverboten belegten Lehrer wird es schwer sein, den Bedarf an Kollegen zu decken. Hinzu kommt die schlechte Bezahlung. Sie lässt die Gründung einer Familie kaum zu.«

»Um Gottes willen!«, rief Brenda, und Traugott musste davon ausgehen, dass die Empörung nicht gespielt war. »Da wird man ja zum Hungerleider. Wo arbeiten Sie denn richtig?«

»In einer Druckerei, Fräulein Adelstorff.«

Brenda sah ihn erstaunt an. »Und das geht mit diesem Dingsda?« Sie führte ihre rechte Hand zu ihrem linken Oberarm, etwa dahin, wo bei Busch der Armstumpf nur mühsam vom kurzärmligen Hemd verdeckt wurde. »Da laufen Sie ja nur mit halber Kraft.«

»Ich arbeite in einer Druckerei«, erklärte Traugott leicht gereizt. »Und zwar in der Redaktion. Meine Arbeit als Korrektor wird sehr geschätzt.«

»Interessant«, sagte Brenda, »alles sehr interessant, was Sie sagen. Ich glaube, ich zeige Ihnen mal den Garten. Wenn das Wetter besser wird, dürfen Sie sich gern einen Liegestuhl ausleihen. Ich habe früher fünfzig Pfennig dafür genommen. Man muss immer sehen, dass etwas in die Kasse kommt.« Sie sah ihn freundlich an. »Ich fahre heute Abend noch in die Stadt. Wenn ich Sie mitnehmen soll, sagen Sie nur Bescheid.«

»Sie haben einen Führerschein?«

»Wenn man einen Wagen besitzt, ist das durchaus sinnvoll.«

»Aber ist es überhaupt erlaubt, dass Sie als Frau, ich meine …«

»Onkel Tiberius hat mir eine besondere Fahrerlaubnis besorgt. In solchen Sachen ist er unschlagbar.«

»Entschuldigen Sie mein Erstaunen. Aber dass eine Frau mit einem Auto durch die Gegend fährt, ist doch ziemlich ungewöhnlich.«

»Da mögen Sie recht haben. Aber haben Sie bei der Wehrmacht keinen Führerschein gemacht?«

»Ich stand kurz vor der Fahrprüfung, als dieses Dingsda mein Leben gründlich veränderte.«

Beide lachten, und Traugott nahm an, das Eis sei nun gebrochen. Er sollte sich irren. Brenda erklärte ein wenig umständlich: »Nicht, dass ich Ihnen zu nahe treten möchte, aber als Frau – nehmen Sie das bitte nicht persönlich – könnte ich mich niemals an so ein Dingsda gewöhnen. Wenn Mann und Frau zusammen sind, ich meine richtig zusammen, im dunklen Schlafzimmer … Sie wissen, was ich meine … ich würde jedes Mal einen gehörigen Schreck kriegen, wenn der Dingsda mir zu nahe käme. Bitte nehmen Sie mir das nicht übel. Ich kenne Frauen, denen das gar nichts ausmacht und die auch keinen Aufschlag verlangen. Aber bei mir ist das anders.«

Traugott schluckte mehrere Male und sah Brenda tief in die Augen. »Sie haben einen sehr schönen Garten. Bitte teilen Sie Ihrer Frau Mutter mit, dass ich das Zimmer sofort mieten möchte. Ich zahle im Voraus. Ihr Angebot, mich im Auto mitzunehmen, nehme ich ebenfalls gern an, da ich den Bus nach Wandsbek nicht mehr bekommen werde.«

Mit einer gewissen Kälte fügte Brenda hinzu: »Sie können mir die Miete bar bezahlen. Sie erhalten umgehend eine Quittung. Oder Sie überweisen den Betrag auf mein Konto. Mutter besitzt sowas nicht.«

»Haben Sie denn ein eigenes Konto?«

»Ich habe freie Verfügungsgewalt über mein Konto, auch wenn es offiziell auf Onkel Tiberius’ Namen eingerichtet ist.«

Traugott sah die junge Frau länger an, als es geboten war. Sie hatte unglaublich flinke Augen, war überhaupt drahtig und machte einen sportlichen Eindruck. Dazu das Mädchengesicht, der schlanke, elastische Körper, und trotzdem diese volle Brust, die wie ein optischer Magnet wirkte.

Eine Woche nach seinem Besuch zog Traugott um. Zwei Kommilitonen halfen ihm, was bei zwei gesunden Armen kaum nötig gewesen wäre, sieht man einmal von dem Bücherkarton ab, der bereits ausgeliehene Werke aus der Staatsbibliothek enthielt, weil das Datum, an dem sich Busch zum ersten Staatsexamen anmelden musste, immer näher rückte. Brenda bot an, einige Kartons mit dem Auto zu transportieren. Doch die beiden Freunde hatten auch daran gedacht und einen alten Tempo organisiert.

Notgedrungen musste Traugott Bemerkungen über die schöne Vermieterin über sich ergehen lassen. Das konnte nicht ausbleiben, zumal die jungen Studenten entzückt waren über Brendas ungezwungene Art, mit der sie ihnen in kürzester Zeit die Köpfe verdreht hatte. So meinte der eine, wenn es hier solche Exemplare weiblicher Schönheit gebe, werde er in die Provinz ziehen.

Sooft es das Wetter erlaubte, saß Traugott im Garten und fertigte Exzerpte für seine Examensschrift an, soweit die Umstände es zuließen. Kam Brenda beispielsweise nach draußen, um Wäsche aufzuhängen, war es vorbei mit der Konzentration. Die reizende Frau war schon Grund genug, die Gedanken schweifen zu lassen.

Warf sie überdies noch Wäsche in der Weise über die Leine, die Hildegard Knef in ihren gewagtesten Filmrollen nicht überbot und die man der Jugend aus sittlichen Gründen nicht zumutete, geriet Traugott ins Grübeln. Eine solche Frau könne man nicht halten, brummelte er und spürte zugleich ein quälendes Verlangen nach einer Lebensgefährtin.

Irgendetwas stimmte mit der schönen Frau nicht – eine Vermutung, die sich erhärtete, als Traugott durch Neustadt schlenderte und in der vollbesetzten Schlachterei vom Chef des Hauses ungeniert angesprochen wurde. Er hatte sich nur ein wenig von den Strapazen der deutschen Literaturgeschichte seit Grimmelshausen erholen wollen, als Schlachtermeister Röhricht durch den Laden tönte, ob seine Vermieterin – gemeint war natürlich die junge Frau – noch in Hamburg beschäftigt sei, in jenem zwielichtigen Etablissement, das Hanseatischer Hof genannt wurde. Den Laden habe es nämlich schon vor dem Krieg gegeben, und damals hing draußen nicht nur eine rote Laterne, sondern die ganze Nacht über glühten solche Lampen, wie man sie von den Etablissements der Reeperbahn her kannte. Da rief eine andere Stimme durch den Laden: »Du kennst dich ja gut aus, Wilhelm!«

Die versammelte Kundschaft lachte laut, doch Röhricht ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Auch von roten Telefonen, die auf kleinen Tischen platziert waren und von wo aus man Kontakte zum anderen Geschlecht anbahnen konnte, war die Rede. Die rundliche Schlachterfrau wollte wissen, ob Onkel Tiberius noch ab und zu vorbeischaue. Der sei ja auch so einer …

Traugott, der sein letztes Geld zusammengekratzt hatte, weil er einen regelrechten Heißhunger auf Knackwurst mit Brötchen und Senf verspürte, war froh, als er sich unter den neugierigen Blicken davonstehlen konnte.

An allem schien etwas dran zu sein, auch besagter Herr Tiberius stand eines Tages im Wohnzimmer. Brenda hatte sich gerade Bismarck und die deutsche Außenpolitik erklären lassen, als Tiberius sich in die Unterhaltung einmischte. Brenda schaltete blitzschnell um und erschien Traugott in allem, was sie sagte, frostig: »Es ist noch Kaffee da, auch Kekse kannst du dir nehmen, ansonsten befinden wir uns gerade in der Vorbereitung zum mündlichen Examen, und zwar bei Professor Fischer, der den Kandidaten viel abverlangt.«

»Ich will nicht lange stören«, sagte Tiberius, der immer ein Lächeln im Gesicht hatte, mal ein freundliches – dann kniff er die Augen eigenartig zusammen –, mal ein zum Grinsen abfallendes, wodurch das ganze Gesicht in eine Schieflage geriet. Ohne Traugott eines Blickes zu würdigen, sagte er mit leiser, klarer Stimme: »Ich wollte nur Rosalie sprechen. Richte ihr aus, dass es nichts wird mit der Rolle.«

Er verabschiedete sich, draußen heulte ein Motor auf, und Brenda sah ihren Mieter gutgelaunt an. »Das ist schon ein toller Kerl!«

Traugott stutzte. »Der Herr Tiberius?«

Brenda lachte laut los. »Ihren Bismarck meine ich natürlich. Doch Sie sehen so traurig aus, lieber Herr Busch. Plagt Sie das Examen?«

»Ach, wenn es nur das wäre, Fräulein Adelstorff. Meine Mutter schreibt aus Münster, dass es meinem krebskranken Vater immer schlechter geht. Überdies könne sie mir kein Geld mehr schicken, weil sie nicht wüssten, woher sie es nehmen sollten. Vater war selbständig und privat versichert. Solange er gesund war, stellte das kein Problem dar. Doch jetzt lasten Schulden auf dem kleinen Unternehmen …«

Brenda ergriff mit beiden Händen Traugotts Rechte. »Herr Busch, wenn es nur das Geld ist, so denken Sie einfach nicht daran. Ich will Sie gern monatlich unterstützen, und später, wenn Sie Gymnasialprofessor sind – mein Gott, klingt das gut, finden Sie nicht auch? –, setzen wir uns zum Kaffee zusammen, so wie heute, und machen einen Kassensturz und überlegen, wie es weitergehen soll.«

Traugott tupfte sich mit der Serviette den Mund, sah sie fast flehend an. »Liebes Fräulein von Adelstorff, könnten Sie sich nicht doch vorstellen, dass wir beide … ich meine, Sie und ich, gemeinsam einen Kassensturz …«

Brenda zog ihre Hände zurück und erhob sich. »Herr Busch, machen Sie sich bitte keine Hoffnungen. Unsere Lebenswege sind vom Schicksal sehr verschieden ausgerichtet, und wir sollten das so hinnehmen.«

Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch

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