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1. Sinn und Zweck der Beschäftigung
mit Katastrophen in der Antike
ОглавлениеEin ganzes Buch voller Katastrophen? Und dazu noch aus einer längst vergangenen Zeit? Wozu soll das gut sein? Sicher kann es bei einem solchen Vorhaben nicht darum gehen, beim Lesen jenes fast wohlige Schaudern zu erzeugen, das sich häufig einstellt, wenn man sich mit Unglücksfällen beschäftigt, von denen man selbst nicht tangiert ist. Und sicher soll auch nicht ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sensationen bedient werden. Vielmehr stehen bei dem Unternehmen drei übergeordnete Gesichtspunkte im Mittelpunkt. Erstens ist mit diesem Buch ein Beitrag zur historischen Katastrophenforschung zu leisten. In dieser Hinsicht hat sich nicht nur in der Alten Geschichte, sondern in den Geschichtswissenschaften überhaupt in den letzten Jahren viel getan. Zweitens geht es zwar auch um die Präsentation und Rekonstruktion der Katastrophen an sich, aber zugleich um deren Bedeutung für die Menschen, die diesen Katastrophen ausgesetzt gewesen sind. Drittens ergibt sich daraus die Möglichkeit, den immensen Erfahrungsschatz, den die Antike im Hinblick auf Katastrophen aller Art gesammelt hat, zur Orientierung auch in Bezug auf moderne Katastrophen zu nutzen.
Gerade die Antike, wie man mit vollem althistorischen Selbstbewusstsein hinzufügen darf. Katastrophen gab es zu allen Zeiten, in der Steinzeit ebenso wie im Mittelalter und in der Neuzeit. Jedoch ist die Antike die früheste Phase der menschlichen Geschichte, die aufgrund ihrer Schreibfreudigkeit genügend Material zur Verfügung gestellt hat, um Katastrophen angemessen dokumentieren zu können. Demzufolge liefert die Antike gewissermaßen das reflektierte Urerlebnis der Katastrophe. Hier können Verhaltensweisen, Reaktionen und Deutungsmuster in ihrer ganzen elementaren Anfänglichkeit studiert werden. Und hier können Defizite in der Verarbeitung von Katastrophen ebenso verdeutlicht wie erprobte Möglichkeiten des erfolgreichen mentalen und psychischen Umgangs mit ihnen aufgezeigt werden.
Was verstehen wir unter einer „Katastrophe“? Eine „Umkehr“, eine „Wendung“, wird der auf den exakten Wortsinn bedachte, des Griechischen kundige Altphilologe antworten. Denn das griechische Substantiv katastrophé kommt vom griechischen Verb katastrépho, und das bedeutet „umkehren, umwenden“, auch „umstürzen“. Damit impliziert die Originalbedeutung schon einmal als Voraussetzung für die Zuweisung eines Vorganges in die Kategorie „Katastrophe“, dass dadurch etwas vorher Bestehendes verändert, radikal verändert wird.
Im Allgemeinen wird „Katastrophe“ heute denn auch definiert als ein plötzlich und unerwartet eintretender Unglücksfall größeren Ausmaßes, mit erheblichem Schaden für die Menschen und ihre Umwelt, die in der Regel umfangreiche Hilfs- und Rettungsmaßnahmen notwendig machen. Konkret denkt man dabei an Naturkatastrophen, also an Erdbeben, an Vulkanausbrüche, an Überschwemmungen. Naturkatastrophen werden in diesem Buch selbstverständlich einen breiten Raum einnehmen. Der Schauplatz der antiken Geschichte war der Mittelmeerraum, und dieser war damals wie heute außerordentlich anfällig, was seismische Aktivitäten und damit verbundene Erdbeben angeht. So gibt es eine Fülle von Informationen über Naturkatastrophen in der Antike – Pompeji ist nur der bekannteste Fall gewesen, reiht sich aber ein in eine ganze Serie vergleichbarer Katastrophen.
Als katastrophal können aber auch Seuchen und Epidemien empfunden werden oder die in der Antike ebenfalls nicht seltenen Hungersnöte, die viele Menschen das Leben kosteten. Gleiches gilt für Kriege. Sie sind in der Antike gleichsam der Normalfall gewesen, es gab praktisch kein Jahr, in dem nicht an irgendeiner Stelle der antiken Welt ein Krieg geführt worden ist. Manche sind als besonders katastrophal in die Geschichte eingegangen, zumindest, was die eine Seite der Beteiligten betrifft. So war für die Athener das Scheitern der Flottenexpedition nach Sizilien im Peloponnesischen Krieg (415–413 v. Chr.) ein ähnlicher Schock wie für die Römer das Desaster in der legendären Schlacht von Cannae gegen Hannibal und seine Karthager (216 v. Chr.). Damit ist man bei Katastrophen angelangt, bei denen nicht irgendwelche Naturgewalten am Werk waren, sondern für die die Menschen ganz allein verantwortlich gewesen sind: Kriege sind Katastrophen, die potenziell zu verhindern sind, was bei Erdbeben nicht der Fall ist.
Daher beschränkt sich die vorliegende Darstellung nicht allein auf „konventionelle“ Katastrophen. Sie erweitert das katastrophale Spektrum auf anthropogene Vorgänge und Ereignisse, die jedenfalls für die Betroffenen eine einschneidende Bedeutung hatten. Dazu gehören politische Katastrophen wie Bürgerkriege, Attentate, Umstürze und Revolutionen. Dabei auch wirtschaftliche und finanzielle Katastrophen ins Visier zu nehmen, bedeutet nicht, dem Zeitgeist zu huldigen, sondern eine die antike Katastrophen-Bilanz mit prägende Realität zu beschreiben. Man könnte in diesem Zusammenhang freilich auch den Begriff „Krise“ verwenden. Worin aber liegt der Unterschied zwischen „Krise“ und „Katastrophe“? Im Kern darin, dass Krisen sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, während Katastrophen plötzlich und unerwartet eintreten. Aber auch diese Definition kann nur beschränkt Gültigkeit beanspruchen. Denn auch Katastrophen erweisen ihren „katastrophalen“ Charakter häufig erst durch die mittel- oder längerfristigen Konsequenzen. Insofern kann man darüber streiten, ob die wirtschaftlichen Probleme, von denen das bis dahin prosperierende Römische Reich im 3. Jahrhundert n. Chr. betroffen war, nicht eher als Krise denn als Katastrophe zu bezeichnen sind. Tatsächlich handelte es sich um eine langsame, schon in den Jahrzehnten zuvor angelegte Entwicklung, die jedoch von den meisten Menschen als eine abrupte Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse erlebt wurde.
Eine Katastrophe ist es nun aber ganz ohne Zweifel, wenn jemand durch Feuer seinen gesamten Besitz verliert. Umso gravierender ist der Brand großer Teile einer ganzen Stadt – wie geschehen im Jahre 64 n. Chr., als die Weltstadt Rom brannte, woran man Kaiser Nero die Schuld gab, welcher seinerseits die Verantwortung den (wenigen) Christen von Rom zuschob. Doch das ist, wie zu zeigen sein wird, längst nicht die einzige verheerende Brandkatastrophe in der Antike gewesen. Katastrophal war für einen Reeder oder einen Kapitän der Verlust des Schiffes. Hunderte von Wrackfunden im Mittelmeer beweisen, dass die Schifffahrt auf dem Meer eine riskante Angelegenheit sein konnte. Doch auch auf Flüssen konnte einen das unbarmherzige Schicksal ereilen, und nicht alle hatten so viel Glück wie der Passagier eines Schiffes, das in den glorreichen Zeiten des Imperium Romanum auf dem Neckar unterwegs war und dann unvermittelt in große Schwierigkeiten geriet …
Katastrophengeschichte ist immer auch Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Wie die Menschen Katastrophen der verschiedensten Art wahrnehmen, deuten, wie sie darauf reagieren, welche Konsequenzen sie ziehen (wenn sie denn das Glück haben zu überleben) – das lässt immer auch Rückschlüsse zu auf die Befindlichkeit einer Gesellschaft. Bekanntlich ist es nicht so, dass alle Menschen zu allen Zeiten auf dieselbe Weise auf Katastrophen reagierten, auch wenn es evident ist, dass sich manche Verhaltensweisen über die Zeiten hinweg immer wiederholen. Aber jede Gesellschaft, auch die der Griechen und der Römer, verfügte über ein spezifisches Katastrophen-Wahrnehmungs-Schema und ein spezifisches Katastrophen-Reaktions-Schema.
Abschließend behandelt das vorliegende Buch eine Art von Katastrophe, die im Allgemeinen unberücksichtigt bleibt, wenn von diesem Thema die Rede ist: die Katastrophe im ureigensten privaten Bereich, die für fast alle Zeitgenossen ohne jedes Interesse ist, die Betroffenen aber genau so hart treffen kann wie die größte Naturkatastrophe. Gemeint sind private, individuelle Schicksalsschläge wie Tod, Krankheit, Unfall, plötzliche Armut. Solche Fälle hat es zu allen Zeiten in Hülle und Fülle gegeben, ohne dass sie – sieht man einmal von entsprechenden Vorkommnissen in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ab – allgemein prominent zur Kenntnis genommen worden wären. Die Quellen, die darüber Auskunft geben, sind – neben den zahlreich erhaltenen, allerdings vornehmlich auf Ägypten bezogenen Papyri – Inschriften, insbesondere Grabinschriften, die in der Antike noch weitaus auskunftsfreudiger gewesen sind als die heutigen, und Weihinschriften, in denen man sich an die Götter wandte, um sie um Hilfe in einer Notlage zu bitten oder ihnen für eine erwiesene Hilfe zu danken. So reicht der Bogen also von den großen Naturkatastrophen, von denen die Menschen als Gemeinschaft betroffen waren, bis hin zu den ganz privaten Schicksalen, die in ihrer Intensität nicht als minder gravierend empfunden wurden.