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Die Katastrophe von Helike
ОглавлениеZum Glück ist aber auch eine ganze Reihe von Naturkatastrophen außerordentlich gut dokumentiert, so dass wir uns nicht über deren Ablauf, sondern auch über deren Folgen und die Reaktionen der Menschen detailliert unterrichten können. Eine schlimme Katastrophe, in ihren Auswirkungen sicherlich nicht weniger gravierend als der Untergang von Pompeji, fand 373 v. Chr. in Griechenland statt. Ort des Geschehens: die Stadt Helike in der nördlichen Peloponnes am Golf von Korinth. Touristenreisen nach Helike erübrigen sich, denn die einst wohlhabende und deswegen auch blühende Stadt gibt es nicht mehr. Sie ist im Meer versunken, als Ergebnis des furchtbaren Zusammenwirkens von einem Erdbeben und einem Tsunami. Ein wahres Schreckensszenario muss sich damals, in einer kalten Winternacht, in und um Helike abgespielt haben. Rückblickend schreibt im 1. Jahrhundert v. Chr. der griechische Historiker Diodor (15,48): „Niemals zuvor sind griechische Städte von einer solchen Katastrophe betroffen worden, und niemals zuvor sind ganze Städte mitsamt ihren Einwohnern verschwunden.“
Diese Aussage mag man noch damit relativieren, dass die antiken Autoren immer von der Tendenz geleitet gewesen sind, die Katastrophe, die sie gerade beschrieben, als die schlimmste aller Zeiten zu charakterisieren. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich damals ein ungewöhnlich schweres Unglück ereignete – so schwer, dass der Name „Helike“ bis in die Spätantike hinein synonym für ein schreckliches Inferno stand.
Wie sich aus den Angaben der antiken Schriftsteller rekonstruieren lässt, lief die Naturkatastrophe folgendermaßen ab: Mitten in der Nacht begann die Erde heftig zu beben. In Panik liefen die Menschen aus ihren Häusern ins Freie. Viele jedoch wurden unter den einstürzenden Mauern, Dächern und Wänden begraben. Am Morgen präsentierte sich die einst so stolze Stadt Helike als ein Trümmerfeld. Die Überlebenden befanden sich noch im Schockzustand, als sie ein, wie es Diodor formuliert, „noch größeres und noch unglaublicheres Unglück“ traf: „Das Meer türmte sich zu einer immensen Höhe, und eine riesige Flutwelle überschwemmte alle samt ihrer Heimatstadt.“
Helike versank im Meer aufgrund eines gewaltigen Tsunamis, und dies, obwohl das Zentrum der Stadt mehr als zwei Kilometer vom Meer entfernt lag. Auch die benachbarte Stadt Bura, in den Bergen gelegen, wurde von der Naturkatastrophe schwer in Mitleidenschaft gezogen. Angeblich kamen alle Bewohner, die sich in der Stadt aufhielten, ums Leben. Sie waren so überrascht, dass sie nicht mehr fliehen konnten.
Heute wird, sobald eine Naturkatastrophe geschehen ist, eine umfangreiche Hilfsmaschinerie in Bewegung gesetzt. Soldaten, Rotes Kreuz, private Organisationen erscheinen am Ort des Geschehens und versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie kümmern sich um die Überlebenden, um die Obdachlosen. Regelmäßig tauchen auch, wenn die Gefahr vorüber ist, Politiker auf, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Erscheinen auch von den Medien registriert wird. Sie kümmern sich um die Betroffenen und versprechen schnelle und unbürokratische Hilfe, versichern zudem, alles zu tun, um zukünftig besser gegen solche Katastrophen gewappnet zu sein. Wie verhielt es sich in dieser Hinsicht in der Antike? Der Fall Helike beweist, wie viele andere Beispiele, dass Unterstützung von außen eine Selbstverständlichkeit war. Helike gehörte zum Achäischen Bund, einer Vereinigung von insgesamt zwölf Stadtstaaten. Kaum war die Nachricht von dem Unglück publik geworden, schickte der Bund 2.000 Helfer zum Ort der Tragödie. Viel ausrichten konnten sie allerdings nicht mehr, denn die Stadt Helike gab es nicht mehr, sie war in den Fluten verschwunden.
Zu den unerfreulichen Begleiterscheinungen moderner Naturkatastrophen gehört der offenbar nicht zu zähmende Wunsch vieler Menschen, nach der Katastrophe den Ort des Unglücks persönlich in Augenschein nehmen. Für dieses Phänomen hat sich der Begriff „Katastrophentourismus“ eingebürgert. Man könnte zu der Ansicht neigen, dass sich manche Dinge niemals ändern, wenn man erfährt, dass es einen solchen Katastrophentourismus auch im Fall Helike gegeben hat.
Einheimische Fischer machten ein lukratives Geschäft daraus, neugierig herbeigereiste Zeitgenossen mit ihren Booten entlang der Küste zu chauffieren und ihnen dabei die auf dem Meeresgrund verstreuten Reste der versunkenen Stadt Helike zu zeigen. Unter diesen Neugierigen befand sich gelegentlich auch Prominenz wie der Geograph Eratosthenes, zu dessen Verdiensten unter anderem die nahezu exakte Berechnung des Erdumfangs zählte. Er bestieg ein Boot, und die Fischer erzählten ihm, am Grund des Meeres befinde sich eine bronzene Statue des Gottes Poseidon. In den Händen halte er ein Seepferd, dessen gezackte Formen eine Gefahr für die Netze der Fischer darstelle. Viel später, in der römischen Kaiserzeit, gab der Reiseschriftsteller Pausanias (7,24,13) zu, unter Wasser eigentlich gar nicht viel erkannt zu haben: „Die Reste von Helike sind noch gut erkennbar, aber nicht mehr so gut, da sie vom Salzwasser entstellt sind.“
Tatsächlich dürfte sich das Vergnügen der Touristen an der submarinen Besichtigung der versunkenen Stadt Helike im Laufe der Zeit in immer engeren Grenzen gehalten haben, weil man praktisch nichts mehr sah. Doch bis in die Neuzeit hinein gab es Reisende, die von Erfolgserlebnissen berichteten. So notierte am Ende des 18. Jahrhunderts der italienische Reisende Xavier Scrofani, der 1794/95 eine Tour durch Griechenland unternahm:
„Von einem kleinen Kahn aus sehe ich auf dem Grund des Meeres die Reste von Helike. Das Meer hat einen großen Teil der Mauern dieser Stadt, ebenso seine Häuser und seine Tempel beschädigt. Aber man erkennt noch eine Straße, eine Ecke des Theaters und ein anderes großes Gebäude, das man für das Senatslokal hält.“
Man darf getrost davon ausgehen, dass hier mehr Imagination als Realität im Spiel war. Authentischer waren hingegen die archäologischen Forschungen der letzten Jahre. In einer Lagune wurden Ruinen entdeckt, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit mit dem antiken Helike identifizieren darf. Hundertprozentige Sicherheit besteht indessen noch nicht, zumal sich die Landschaftsformation – und auch der Küstenverlauf – seit der Antike doch verändert haben.