Читать книгу Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau - Horst Bieber - Страница 10

1.

Оглавление

Am Horizont hellte es schon auf, und das Lichtband wurde schnell breiter. Seit ein paar Minuten herrschte ein diffuses Licht, das die Augen anstrengte, und am Himmel erlosch ein Stern nach dem anderen. Die Nacht hatte nicht wirklich Abkühlung gebracht.

Der Streifenwagen rollte langsam durch die Straße Am Waldsaum, vorbei an stattlichen Villen und neueren Doppelhäusern, die nach außen größer wirkten, als sie drinnen waren. Die Vögel lärmten lauter als der Motor. Hauptwachtmeister Schwarze, allgemein nur Blacky genannt, unterdrückte wieder ein Gähnen und schaute mäßig aufmerksam von links nach rechts, von rechts nach links, halb dösend, halb auf die kurvenreiche Straße und die nach beiden Seiten abgehenden Stichstraßen konzentriert, eingelullt von einer ereignislosen und langweiligen Nacht. Sein Nebenmann, frisch zur Schutzpolizei versetzt, nahm den Dienst noch ernster, drehte eifriger den Kopf hin und her. Blacky hatte dem jungen Spund persönlich übel genommen, dass er sich mit «Weiß» vorstellte. Schwarze und Weiß - der Schichtleiter hatte gegrinst, dass sich seine Ohren anlegten, und obwohl Blacky wusste, dass er den Kürzeren ziehen würde, hatte er sich aufgepumpt und ein paar massive Unfreundlichkeiten abgesondert. Dem Kerl würde er ...

«Da! Da, links. Die Frau!» Die Stimme des Jungen überschlug sich vor Aufregung, und Blacky trat in die Bremse, dass es sie beide nach vorn in die Gurte warf. Das durfte doch nicht ... einen Moment traute er seinen Augen nicht. Eine völlig nackte Frau taumelte betrunken durch den Vorgarten, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und konnte trotzdem keine gerade Linie laufen. Nackt und besoffen . also, da hörte sich doch alles auf! Wütend riss er die Tür auf und sprang auf die Straße.

Die Frau hatte ihn noch nicht gesehen oder gehört. Sie zerrte und riss an dem Gartentörchen, das plötzlich nachgab; wie ein nasser Sack fiel sie auf den Rücken, strampelte mit den Beinen in der Luft - es sah widerlich obszön aus. Mühsam rollte sie sich zur Seite und richtete sich schwankend wieder auf, beide Hände wie ein Säugling auf den Boden gestemmt.

«He, Sie da!», dröhnte Blacky, der mit langen Schritten auf sie zulief. Der Kopf der Frau fuhr herum; unwillkürlich verlangsamte Blacky sein Tempo, das war keine Frau, ein Mädchen, höchstens zwanzig Jahre alt. Aber nicht diese Erkenntnis bremste ihn, sondern dieser furchtbare Gesichtsausdruck, das war doch nicht mehr menschlich, das war - in diesem Moment begann das Mädchen zu schreien, und selbst der abgebrühte Blacky mit fast dreißig Dienstjahren prallte zurück, als sei er gegen eine Glasscheibe gelaufen. Ein fürchterlicher, entsetzlicher Schrei, der seine Trommelfelle marterte, bevor er die Todesangst heraushörte, eine nicht enden wollende Panik, die das Mädchen zu zerreißen schien und ihn auf der Stelle festnagelte. Dann vergurgelte das unmenschliche Geräusch, das Mädchen streckte abwehrend beide Arme gegen ihn aus, drehte sich um und floh. Ihre Beine gehorchten nicht, ein sinnloser Zickzackkurs, Stolpern, Schwanken, Einknicken, Auffangen mit letzter Kraft - Blacky rührte sich nicht, bis das Mädchen um die Hausecke verschwunden war, erst dann konnte er ausatmen und sich Rechenschaft geben über die Todesangst, mit der sie ihn angestarrt hatte.

«Mein Gott, was war denn das?», keuchte sein Anfänger; Weiß hatte ein fast so bleiches Gesicht wie das Mädchen. «Was ist denn mit der los?»

Blacky musste erst die lähmende Beklemmung abschütteln, und selbst danach klang seine Stimme seltsam schwach: «Ruf die Zentrale! Wir brauchen zwei Kolleginnen. Und einen Arzt - nee, besser eine Ärztin!»

«Willst du nicht die Frau ...?»

«Nun mach schon, los!»

Weiß gehorchte und stürzte zum Streifenwagen zurück. Blacky rieb sich die Stirn. Das Mädchen war nicht vor dem Polizisten, vor der Uniform geflohen, in letzter Sekunde hatte er die blutigen Striemen wahrgenommen, das geschwollene und verquollene Gesicht. Sie war fürchterlich verprügelt worden, und, nach dem Blut auf ihren Oberschenkeln zu schließen, nicht nur das. Nicht vor dem Polizisten, sondern vor dem Mann, der da auf sie zukam, hatte sie die Flucht ergriffen, aus einem Grund, den er jetzt nur zu gut verstand. Mit grimmig zusammengebissenen Zähnen holte er die Waffe aus dem Holster, entsicherte und lud durch.

«Sie schicken einen Wagen - was machst du da?»

Der junge Kollege würde noch viel lernen müssen, und gerade jetzt hätte er dringend einen erfahrenen Kumpel gebraucht. «Geh nach hinten und achte auf Türen und Fenster - aber halte dich von dem Mädchen fern!», befahl er in einem Ton, der keine Widerrede duldete. «Und wenn da einer rausgerannt kommt - einmal anrufen, und dann sofort auf den Körper gezielt. Und wehe dir, du lässt ihn entwischen!»

«Nur einmal? Auf den Körper? Aber wir sollen doch ...»

«Scheiß auf die Vorschriften! Hier wird’s ernst!»

Weiß schluckte unglücklich. Er fürchtete den massigen Blacky, er glaubte an die Vorschriften, und er wollte ein guter Polizist sein. Außerdem hatte er Angst vor seiner Pistole ...

Blacky achtete schon nicht mehr auf ihn, marschierte Richtung Haustür, voll eiskalter Wut, das Denken ausgeschaltet, nur noch darauf konzentriert, das Schwein zu stellen.

Die Haustür stand offen. Drinnen war es dunkel, und er wartete einen Moment, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, wobei er angestrengt lauschte. Die Stille irritierte ihn, das Haus wirkte völlig leer. Oder verlassen? Lautlos schob er sich durch den Windfang in die Diele. Hier war es noch kühler, noch dunkler, noch einsamer, die Waffe in der rechten Hand bot nur eine trügerische Sicherheit. Ein breiter Flur, hoch, mit gewölbter und stuckverzierter Decke. Das Parkett schien unter seinem Gewicht nachzugeben, aber knarrte nicht, und weiter drinnen dämpfte Teppichboden seine vorsichtigen Schritte. Vor der geöffneten Tür links verharrte er eine halbe Minute; die Leere wollte gerade an seinen Nerven zerren, als ein schwaches Geräusch zu hören war, so schwach, dass er nicht sicher war - dann wiederholte es sich, kaum stärker, das flache Atmen der Angst. Oder der Verzweiflung.

Wie eine Granate schoss er in das Zimmer, erwischte auf Anhieb den Lichtschalter und warf sich zu Boden: «Polizei! Hände hoch!»

Der Mann auf dem Boden rührte sich nicht. Das Blut aus seiner Kopfwunde hatte auf dem hellen Teppich mit dem Blumenmuster einen hässlichen Fleck gezeichnet.

*


HOLM WURDE UM SIEBEN Uhr von einer ungewöhnlich kleinlauten Cordula Matthies zu Hause angerufen: «Herr Rat, könnten Sie mal herkommen? Waldsaum 44.»

«Was ist los?»

«Ich fürchte, es gibt ... na ja, Probleme.»

Er brauchte zwanzig Minuten. Die stille Straße am Waldrand war brutal und vorzeitig zum Leben erwacht, durch kreuz und quer geparkte Polizeiwagen versperrt. Auf einigen zuckte noch stumm das Blaulicht. Nachbarn in Bademänteln und Trainingsanzügen standen regungslos vor ihren Haustüren und starrten in ängstlicher Neugier auf das Haus Nummer 44, vor dem immer noch eifrige Geschäftigkeit herrschte.

Eine Frau und ein Mann lösten sich aus der Gruppe und kamen ihm entgegen, beide mit grauen Gesichtern: Cordula Matthies, Oberkommissarin im Ersten, und Staatsanwalt Martin Wagner, der erst vor vier Monaten seinen Dienst angetreten hatte.

«Tag, Herr Rat.»

«Guten Morgen, Herr Holm.»

Sie gaben sich nicht die Hände. «Was ist passiert?»

Sie berichtete knapp. Die Besatzung von Wagen 11 hatte um 4.52 Uhr eine nackte Frau, scheinbar betrunken, aus dem Haus laufen sehen und versucht, die Unbekannte zu stellen. Aber als die Frau beim Anblick der Männer wie irre zu schreien begann, hatte Hauptwachtmeister Schwarze richtig geschaltet und weibliche Hilfe angefordert.

«Blacky», nickte Holm. Ein guter Mann, trotz seiner Renitenz.

Im Haus hatte Blacky dann nicht den Vergewaltiger gestellt, sondern einen lebensgefährlich verletzten jungen Mann gefunden. Er war bereits ins Krankenhaus abtransportiert worden, wie die junge Frau.

«Tatsächlich vergewaltigt?»

«Und wie!», presste sie heraus. «Hoffentlich ...»

«Ja? Was wollten Sie sagen?», ermunterte er sie nach einer Pause. Staatsanwalt Wagner schaute zu Boden.

«Hoffentlich wird sie überhaupt noch einmal aussagen können.»

«Was heißt das?»

«Wissen Sie, ich habe schon eine Menge gesehen, aber so was ...» Sie kämpfte mit den Tränen. «Das Mädchen war geistig völlig verwirrt.» Eine schreckliche Szene hatte sich abgespielt, die selbst den Abgebrühten an die Nieren gegangen war. Bis zuletzt hatte das Mädchen niemanden an sich heranlassen wollen, selbst die Ärztin nicht. Drei Polizistinnen mussten sie regelrecht einfangen und überwältigen, damit die Ärztin eine Spritze setzen konnte, und nachher hatte die Medizinerin, fünfzehn Jahre im Polizeidienst, hemmungslos geheult. Es erklärte mehr als ein ausführlicher Bericht.

«Wissen wir, wer das Mädchen ist?»

Cordula Matthies und Wagner schauten sich kurz an, bevor der Staatsanwalt vorsichtig äußerte: «Vermutlich heißt sie Sara Wendel.»

«Ja, und?»

«Sagt Ihnen der Name nichts?»

«Nein. Müsste er?»

«Sicher, Herr Rat», mischte sich die Oberkommissarin ein. «Wendel - die Landtagsabgeordnete. Die Scharfmacherin im Innenausschuss.»

«Ach du heiliges Kanonenrohr!» Jetzt verstand er auch, warum die forsche Cordula mit der frechen Schnauze ihn herbeizitiert hatte. Das konnte ja heiter werden! Ingeborg Wendel führte seit zwei Legislaturperioden einen Krieg gegen die Polizei, die faul, feige und erfolglos sei und vor der steigenden Flut von Verbrechen längst kapituliert habe. Dabei war nie ganz genau zu unterscheiden, ob sie wirklich für verängstigte oder unzufriedene Wähler sprach oder nur in zynischer Berechnung mit einem publicityträchtigen Thema Stimmen sammelte.

Holm seufzte. «Und der junge Mann?»

«Der heißt Klopfer, Bernd Klopfer. Am besten schauen Sie sich das mal selber an.»

«Okay.» Offenbar wollte sie sich absichern, und den Grund sollte er selbst herausfinden. Holm ging nicht direkt zum Haus, sondern machte einen Umweg zum Streifenwagen; der große, breitschultrige Mann, der halb auf der Motorhaube saß, blickte ihm finster entgegen.

«Gute Arbeit, Blacky.»

«Danke, Chef.»

«Hat’s Ihr Kollege verkraftet?»

«Noch nicht. Aber ich kümmere mich schon um ihn.» Es hörte sich an, als sei es auch nötig; in der Grundausbildung lernten die jungen Leute eben nicht alles.

Der Mann von der Spurensicherung versperrte den Eingang und richtete sich ächzend auf. «Morgen, Herr Rat. Keine Spur am Schloss. Die Haustür ist mit regulären Schlüsseln geöffnet worden.»

«Ohne Zweifel?»

«Ohne Wenn und Aber. Innen steckte ein Haustürschlüssel, übrigens an einem Bund, ist bereits sichergestellt.»

«Danke.»

Die Villa musste kurz nach der Jahrhundertwende gebaut worden sein, mit Erkern, Türmchen, Bögen und Winkeln. Wilder Wein hatte sich bis unter das Dach hochgerankt; die Sprossenfenster waren inzwischen doppelt verglast; Türen, Parkettböden und Stuckdecken verrieten liebevolle und sachkundige Pflege. Oder mit anderen Worten: Geld.

«Wem gehört das Haus?», fragte er.

«Einem Ehepaar Reinecke. Dr. Christian Reinecke und Dr. Marianne Reinecke.»

«Und wo sind die Eigentümer?»

«Keine Ahnung. Heute Nacht waren sie jedenfalls nicht zu Hause.» Im Erdgeschoss brannten überall Lampen, weil hinter allen Fenstern Jalousien herabgelassen waren, die in der unteren Position mit Steckschlössern gesichert wurden. Das System war sein Geld wert, wie er wusste, und ohne den richtigen Schlüssel hätten sie die Winkelhaken mit Gewalt aufbrechen müssen. Von oben, vom ersten Stock, fiel Tageslicht herein. Ein weiterer Mann stäubte noch den breiten Handläufer des geschnitzten Geländers, auf der Suche nach Fingerabdrücken, mit einem weißen Puder ein.

In dem großen Wohnraum schnappte Holm nach Luft. Da standen echte Biedermeier-Möbel, keine Imitate. Sein Vater hatte mit Antiquitäten gehandelt, auf wertvolle und schöne, echte Sachen verstand er sich. An den Wänden hingen - er zählte atemlos - zwölf Gemälde, Originale, Impressionisten, Pointillisten und frühe Expressionisten, ein Vermögen und eine Kollektion, die sich seltsam bruchlos in die Einrichtung einfügte. Echte Teppiche, ein blau-goldener Mir aus Indien, der erstaunlicherweise mit den grün-goldenen Bezügen der Stühle harmonierte. In der Glasvitrine, darauf würde er wetten, echtes Wedgwood-Porzellan. Viele Kostbarkeiten und trotzdem kein Museum, sondern ein stilvoller, wenn auch eigenwilliger Raum voller Leben. Nur die Flecken und Kreidelinien auf dem Boden störten, schienen in dieser Atmosphäre diskreten Reichtums so aufdringlich wie unangebracht. Zwei umgestürzte Stühle, eine auf den Fußboden herabgezogene Tischdecke und eine zerbrochene Vase zeugten von einem Kampf, der hier stattgefunden haben musste. Und in dem der junge Mann mit lebensgefährlichen Verletzungen unterlegen war. Gegen wen hatte er sich hier zur Wehr gesetzt? Oder hatte sich hier das Mädchen von ihm befreit?

Er hörte Schritte und drehte den Kopf. Cordula Matthies wich seinem Blick aus: «Wir gehen am besten zuerst in den Keller.»

Auf der Gartenseite gab es eine Außentür. Eine Treppe entlang der Hauswand, auf der anderen Seite mit einer hohen Stützmauer gehalten, führte in den Garten hoch. Oben waren mehrere Pappen so über den Treppenschacht gelegt, dass kein Licht herausdringen konnte. Die Stahltür war von außen geöffnet worden. Aus der Stahlleiste des Rahmens, die bei geschlossener Tür die Fuge überdeckte, hatten die Einbrecher genau in der Höhe der beiden Schlösser Öffnungen herausgeschweißt, sodass die Zungen der Schlösser sichtbar wurden. Ein Holzkeil, durch einen mit Gummi überzogenen Holzhammer in den winzigen Spalt getrieben, hatte die Tür dann gerade so weit zurückgedrückt, dass sich die Metallzungen durchschweißen ließen.

«Profiarbeit», urteilte Holm nachdenklich. «Aber ein verdammt ungewöhnlicher Modus Operandi.»

Zwei ältere Männer nickten zustimmend: «Wirkliche Profis. Außer Hammer und Keil haben sie alles wieder mitgenommen.»

«Macht das Schweißgerät nicht Lärm, ich meine, es zischt doch durchdringend?»

«Nicht unbedingt. Die Belgier haben da ein Modell entwickelt, von der Firma Suradoux, P 5 heißt das Ding, also, damit können Sie ...»

Abwehrend hob er die Hände: «Bitte, keine Einzelheiten. Sie kennen mich doch.»

«Natürlich, Herr Holm.» Beide schmunzelten.

«Die Männer sind also über den Garten gekommen?»

Der Kleinere antwortete: «Ja. Mindestens drei Kerle, es gibt Spuren, aber wir sind noch dran. Noch kein Hinweis darauf, wo sie ihr Auto geparkt hatten.»

«Na schön. Sonst noch was?»

«Tja, schwer zu sagen. Wir haben Nesselfäden gefunden, vor der Tür und auf der Treppe, aber was die zu bedeuten haben ...» Er kniff sich in die Nase. «Allerdings sind sie ziemlich frisch, haben also noch nicht lange hier gelegen.»

«Gut, danke.» Die Leute verstanden ihr Fach, und er wusste, dass er sie nur bei der Arbeit störte. Und zu ermahnen brauchte er sie auch nicht; sie würden eher zu viel einsammeln und untersuchen.

Auf dem dichten, sehr kurz geschorenen Rasen hatten sich keine Abdrücke gehalten. In die starke, feste Hecke an der Hinterseite war eine Lücke gebrochen worden; die Täter hatten die stärksten Äste und Zweige mit einer Riesenheckenschere einfach gekappt. Gewaltsam aufgeschnitten, sicherlich mit einem Seitenschneider, war auch der sehr feste Zaun aus doppeltem Maschendraht, der von Nato-Stacheldraht an Y-Trägern gekrönt wurde. Durch die Lücke konnte sich gerade eben ein Mann quetschen.

Gleich hinter dem Zaun, der in der Hecke verborgen war, begann der Wald. Altes Laub, jetzt noch etwas feucht - also auch hier keine Fußspuren.

«Drei Männer wenigstens», murmelte er, als er mit Cordula Matthies durch Garten und Keller zur Haustreppe zurückging. Sie wollte etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders.

«Von der Lücke im Zaun können sie sich nach links oder rechts gehalten haben.» Vom Waldsaum führten kurze Sackgassen ab, und dort gab es zwischen einzelnen Grundstücken Fußwege in den Wald. Wo hatten die Einbrecher den Fluchtwagen abgestellt? Oder wo hatte der Fahrer auf sie gewartet? «Lassen Sie nachfragen, ob ...?»

«Natürlich. Aber bis jetzt scheinen alle Anlieger fest geschlafen zu haben. Niemand ist durch einen laufenden Motor oder ein abfahrendes Auto geweckt worden.»

Auf der Treppe mussten sie sich an einem schweigsamen Typen vorbeidrücken, der das Holz studierte, als wolle er die Maserung auswendig lernen. Oben wandte sie sich nach rechts und deutete stumm auf eine Holztür.

Die Beschädigungen erzählten eine ganze Geschichte. Jemand hatte von innen abgeschlossen, und vom Flur her war die Tür mit roher Gewalt aufgesprengt worden; das herausgerissene Schloss lag noch am Boden.

Er blieb unter der Öffnung stehen und schaute stumm auf das Chaos. Ein junger Mann und eine dunkelhäutige Frau drehten sich kurz zu ihnen um und fuhren dann mit der Suche fort. Das Zimmer war nicht groß, es hatte eine schräge Wand und ein Fenster, das auf den Garten führte. Unter der Schräge waren Wandschränke eingebaut, sonst bestand das Mobiliar aus einem Doppelbett, zwei Sesseln und einem zierlichen Stuhl vor einem kleinen Sekretär. Ein Gästezimmer, wie er vermutete. Die Kopfkissen und die beiden Bettdecken waren schon zusammengerollt und eingepackt, um zur kriminaltechnischen Untersuchung mitgenommen zu werden. Das hellgelbe Bettlaken zeigte Flecken, helle und dunkle, über die ganze Länge und Breite, und er wusste, dass es sich um Blut, um viel Blut, und Sperma handelte. Blutspritzer auch auf der hellen Raufasertapete, auf dem einfarbig beigen Teppich. Kringel aus schwarzer Fettfarbe an so vielen Stellen, dass er schaudernd auf das Zählen verzichtete. Neben dem Sekretär war eine halb volle Sektflasche umgefallen und ausgelaufen, die beiden Gläser zerbrochen, die Pralinenpackung zu einem schmierigen Brei zertreten. Ein Zahnputzglas hatte den Sturz vom Sekretär überlebt, die einzelne Rose, ebenfalls von einem Schuh zermalmt, tat ihm weh.

«Nicht eintreten!», wies die kniende Frau unfreundlich an.

«Okay.»

«Wir sind noch nicht fertig.»

«Ich sagte doch, es ist okay.»

Cordula zupfte an seinem Ärmel: «Im Moment sind wir hier überflüssig.»

Schweigend gingen sie nach draußen auf die Straße und setzten sich in den Einsatzwagen, wo sie gleichzeitig nach ihren Zigaretten griffen. Mit tonloser Stimme berichtete sie: In dem Zimmer oben hatten sie Frauenkleidung gefunden, Sandalen mit halbhohem Absatz, Söckchen, Jeans, eine rot-weiß karierte Baumwollbluse, BH und einen Tanga.

Weil sie ihn dabei forschend anblickte, bemerkte er unfreundlich: «Ich bin kein Mönch.»

Außerdem ein dunkelblaues Frotteehemd, das dem jungen Mann gehörte. Er trug, als sie ihn unten im Wohnraum fanden, Unterhose, Jeans und Turnschuhe. «Irgendwann haben die beiden also Geräusche gehört, er hat sich angezogen und ist runtergelaufen.»

«Den drei Männern in die Finger.» Holm stöhnte.

Der Kampflärm unten hatte das Mädchen dazu gebracht, oben die Tür von innen zu verschließen. Vielleicht hatte sie sich damit erst verraten. Denn die Männer kamen hoch, brachen die Tür auf und machten sich über das Mädchen her. Es gab wohl keinen passenderen Ausdruck für das, was sie mit ihrem wehrlosen Opfer angestellt hatten. Eine lange Minute wollte keiner von ihnen etwas sagen. Drei Profis, die glaubten, sich den Weg in ein leeres Haus aufzuschweißen. Und dann von einem jungen Mann überrascht wurden, an dem sie ihre Wut ausließen. Erst an ihm, dann an dem Mädchen. «Der junge Mann hatte ein Portemonnaie mit einem Personalausweis bei sich. Daher wissen wir Namen und Anschrift.»

«Und das Mädchen?»

«Nichts Persönliches. Bis auf diesen Schlüsselbund, den sie in einer Jeanstasche hatte.» Sie schob ihm eine Plastiktüte hin. Drei flache Schlüssel, ein winziger Rosenquarz in Form eines Eis, an einem Ende mit einer engen Öse, die so eben auf den Ring gepasst hatte, dazu ein silberner Anhänger, auf der einen Seite erhaben das Stadtwappen, auf der Rückseite eine Gravur: «Von Obo für Sara.» «Warum ist das Haus nicht mit einer Alarmanlage gesichert?», fragte er zerstreut und gab das Tütchen zurück.

«Ich weiß nicht», antwortete sie langsam. «Es ist ja ... schauen Sie sich mal Türen und Fenster an. Ohne Schweißgerät ist da nichts zu wollen, und das wäre den Nachbarn doch aufgefallen ...»

«Bis auf die Tür vom Garten in den Keller», berichtigte er sie sachlich. «Das Ding war also sorgfältig vorbereitet. Sie haben den einzigen Weg genommen und die einzige Tür aufgeschweißt, die von den Nachbarn nicht bei jedem zufälligen Hinausschauen kontrolliert werden. Und dann ...» Irgendetwas störte ihn, ohne dass er sein Unbehagen formulieren konnte. Profis, und dann so brutal, nachdem sie überrascht worden waren. Es gefiel ihm nicht.

«So, und jetzt hören wir uns mal an, was eine Zeugin aussagt. Sie heißt Meiring und wohnt in Nummer 42.»

Die ersten Wagen fuhren los, doch die Neugierigen oder Geschockten harrten weiter vor ihren Türen aus. Er spürte die bösen Blicke, als sei er dafür verantwortlich, dass Frieden und Sicherheit so nachhaltig gestört worden waren. Er wusste, dass Leute aus Wohnungen, in die eingebrochen worden war, auszogen, weil sie nicht ertrugen, dass Fremde sich darin herumgetrieben hatten. Ihm war auch bekannt, dass aus demselben Grund Häuser verkauft wurden. Wie Schimmel fraß sich die von der Gewalt ausgelöste Angst durch Straßen und Siedlungen.

Anna Meiring hatte die Sechzig überschritten, eine kleine, gebückt laufende Frau mit weißen, straff nach hinten gebundenen Haaren. Sicher eine mutige Frau, die unerschrocken für Recht und Gerechtigkeit eintrat, aber auch sie fürchtete sich jetzt vor körperlicher Gewalt.

«Frau Meiring? Das ist mein Kollege, Kriminalrat Holm. Dürfen wir noch einmal hereinkommen?»

«Ja, natürlich. Guten Morgen, Herr Holm. Wollen Sie einen Kaffee, ich habe gerade frischen gekocht.»

«Wenn wir Ihnen nicht zu viel Arbeit machen ...»

«Aber nein, ich bitte Sie!» In der Küche setzten sie sich um einen kleinen Tisch. Der Kaffee war stark und heiß, Holm konnte ihn gebrauchen, und in seiner Gier verbrannte er sich fast die Zunge.

Ja, also, das Haus Nummer 44. Es gehörte den Reineckes. Er war Chirurg, am Bethesda-Krankenhaus; Frau Reinecke war übrigens auch Ärztin, ihre Praxis hatte sie im Sattlerhaus am Pferdemarkt. Etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, der musste jetzt Mitte sechzig sein. Nette Nachbarn, etwas still und zurückgezogen, na ja, sie hatten ja auch beide Arbeit genug, aber immer freundlich. Nein, Kinder hatten sie nicht, Marianne Reinecke beschäftigte sich viel mit Kunst, malte selbst etwas, und wenn ein Künstler eine Ausstellung machte, wurde es bestimmt im Nachbarhaus gefeiert.

Vor sieben oder acht Monaten hatte er einen leichten Herzinfarkt gehabt, es ging noch einmal gut, aber seitdem ließ er alles etwas langsamer laufen. Was ja wohl auch so sein musste. Vor zwei Monaten waren sie zu einer Weltreise aufgebrochen, einmal rund um den Globus, beneidenswert. Ein halbes Jahr insgesamt sollte es dauern. Richtig, das Haus. Das stand natürlich leer. Gut verschlossen und vor der Reise extra noch einmal von einer Firma gesichert. Die Tochter einer Reinecke-Freundin kam regelmäßig, lüftete oder kümmerte sich um den Garten, mähte den Rasen, schaute nach dem Wasser und so, ein freundliches, zuverlässiges Mädchen, diese Sara. «Sara und wie weiter?»

«Sara Wendel. Sie wohnt - mit ihrer Mutter - gleich um die Ecke, im Tycho-Brahe-Weg, Nummer 3, glaube ich.»

«Warum betonen Sie: wohnt mit ihrer Mutter?»

Anna Meiring wiegte etwas kummervoll den Kopf: «Die Wendels sind geschieden, seit einigen Jahren schon, und Saras Vater ist weggezogen, ich weiß nicht genau, in welche Stadt. Aber er kommt nur recht selten - wissen Sie, ich glaube, Frau Wendel will nicht, dass er seine Tochter zu oft sieht.»

«Sara - oder ihre Mutter - haben also Schlüssel für das Reinecke Haus?»

«Natürlich. Beide nehmen das sehr genau, mit dem Aufpassen, meine ich. In dem Haus sind ja auch eine Menge wertvoller Dinge.» Es klang so, als missbillige sie es; Holm sah sie scharf an, aber sie schlug die Augen nieder.

«Haben Sie in der vergangenen Nacht etwas gehört, Frau Meiring?»

«Tja, wie soll ich das sagen.» Sie errötete tatsächlich. «Hinterher ist man ja immer ... also, in der Nacht bin ich einmal wach geworden, weil es so schauerlich gezischt hat. Wie Gas, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber es hat fast sofort wieder aufgehört, und weil wir hier in der Straße gar kein Gas haben, bin ich beruhigt wieder eingeschlafen.»

«Andere Geräusche haben Sie nicht gehört? Schreie, Poltern, Lärm wie von einem Kampf?»

«Nein, leider nicht.»

«Und wann war dieses Gezische?»

«Schwer zu sagen. Gegen zwei Uhr, würde ich schätzen.»

«Gut, das hilft uns schon weiter.» Er durfte die Frau nicht aufregen. «Wann haben Sie zum letzten Mal gesehen, dass Sara oder ihre Mutter nebenan in das Haus gegangen ist?»

«Gestern. Am frühen Nachmittag. Sara kam mit dem Fahrrad und blieb etwa eine Stunde. Die meiste Zeit hat sie im Garten gearbeitet. Ich hab ihr noch ein Stück Kuchen gebracht.»

Kaum merklich schüttelte Cordula den Kopf und klappte ihr Notizbuch zu. Mehr war von der Zeugin nicht zu erfahren. Hoffentlich hatten sie anderswo mehr Glück. Er verabschiedete sich so höflich und freundlich, dass Anna Meiring für einen Moment ihren Kummer vergaß und geschmeichelt strahlte und vor allem nicht daran dachte, sich nach Saras Befinden zu erkundigen. Vor dieser Antwort fürchtete er sich.

Staatsanwalt Wagner war schon weggefahren, und sie schauten sich wortlos an. Jetzt standen nur noch zwei Polizeiwagen vor dem Haus; die Spurensicherung packte zusammen.

«Laufen wir?», fragte er.

«Gern. Ich hole eben den Schlüsselbund.»

Mit «Gleich um die Ecke» hatte Anna Meiring etwas übertrieben, bis zur Einmündung des Tycho-Brahe-Wegs spazierten sie fünf Minuten den Waldsaum entlang. Haus Nummer 3 war dann allerdings das zweite Haus auf der rechten Seite, ein unauffälliger Bau. Der sauber gemähte Rasen, die sorgfältig gestutzten Kanten und die in Reih und Glied stehenden Blumen signalisierten etwas mehr Strenge und Ordnungsliebe, als ihm im Moment behagte. Viertel nach acht! Wie auf Kommando strafften sie sich.

Im Haus ertönte ein melodischer Gong. Es dauerte aber fast zwei Minuten, bis es in der Sprechanlage knackte: «Ja?»

«Frau Wendel? Mein Name ist Holm, Kriminalpolizei. Meine Kollegin Matthies und ich hätten Sie gern gesprochen.»

«Jetzt? Um diese Zeit?»

«Es ist leider dringend.»

Wieder verstrichen dreißig Sekunden, bevor Schlüssel rasselten und ein Riegel knackte. Die Tür öffnete sich nicht vollständig, gehalten von einer massiven Sperrkette. «Würden Sie sich bitte ausweisen?»

Stumm reichten sie ihre Ausweise durch den Spalt und bekamen sie schnell zurück. «Einen Moment bitte!» Die Tür schloss sich, noch einmal Geräusche, als würden mindestens zwei weitere Sicherungen ausgeklinkt, und dann stand endlich Ingeborg Wendel vor ihnen - kühl, unfreundlich und das reine Gewissen in Person.

Holm hatte noch nie mit ihr persönlich zu tun gehabt, erkannte sie aber nach den Fernsehbildern und Zeitungsaufnahmen. Im Augenblick schaute sie noch strenger drein als normalerweise, fast zornig, dass man es wagte, sie um diese Zeit in ihrem Privathaus zu stören, und diesen ärgerlichen Zorn zeigte sie offen. Sie war keine Frau, die aus Höflichkeit lächelte, und der bis oben geschlossene, knöchellange Morgenmantel war nicht nur so züchtig wie ein Nonnenhabit, er unterstrich in seiner Strenge ihre Selbstgerechtigkeit. Er vermutete nach den ersten Blicken, dass sie kalt und intolerant war. Auch sie musterte ihn unverhohlen, und als sie danach auf Cordula schaute, zuckte es wie Missbilligung um ihren schmalen Mund. Das wiederum konnte er verstehen. Nicht, dass er persönlich etwas an dem Aussehen der Oberkommissarin auszusetzen hatte; er mochte Frauen, die ihre guten Figuren mit einer gewissen Offenherzigkeit vorführten und jünger aussahen als vierzig, aber er hatte auch schon oft erlebt, dass die verehrte Kollegin wegen ihres Aufzugs von Zeugen und Zeuginnen nicht ernst genommen wurde. Bei ihren schweren Jungs war das sogar die Regel, wenigstens zu Anfang. Es änderte sich allerdings rasch, weil sie knochentrocken und erbarmungslos mit ihnen umsprang, außerdem einen Jähzorn besaß, der auch Ausgebuffte einschüchterte.

«Was gibt es denn?»

«Dürfen wir nicht hereinkommen, Frau Wendel?»

«Muss das sein?»

«Es geht um Ihre Tochter.»

«Um Sara? Was soll mit ihr sein?» Ingeborg Wendel dachte nicht daran, die Tür freizugeben, und weil ihn das ärgerte, erklärte er scharf: «Heute Nacht ist im Hause Reinecke, Waldsaum 44, eingebrochen worden.»

«Was? Bei den ...»

«Die Einbrecher hatten geglaubt, in ein leeres Haus einzudringen, aber es waren zwei Personen dort.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Ein junges Paar. Der junge Mann heißt Klopfer, Bernd Klopfer.» Ihr Gesicht erstarrte. Nicht einen Millimeter bewegte sie sich, als sei sie versteinert, aber es bestand kein Zweifel, sie kannte den Namen Bernd Klopfer, das hatte sie schon verraten, doch bis sie endlich flüsterte: «Und wer war die Frau?», verging eine quälende Minute. Und erst jetzt verfärbte sie sich, flackerten ihre Augen.

«Das wissen wir nicht, Frau Wendel. Aber in den Sachen des Mädchens haben wir einen Schlüsselbund gefunden, und wir fürchten ...»

«Zeigen Sie ihn!»

Wortlos hielt ihr Cordula die Tüte mit dem Bund hin. Zehn Sekunden zitterten ihre Lippen unkonzentriert, plötzlich ballte sie die Fäuste: «Der gehört meiner Tochter Sara.» Ihre Stimme war so scharf geworden, dass er zusammenzuckte. «Aber meine Tochter muss ihn dort verloren haben. Wie kommen Sie darauf, dass sie die Nacht in einem fremden Haus mit einem Mann verbracht hat?»

«Wo ist Ihre Tochter denn - Ihrer Meinung nach?» Es sollte gar nicht höhnisch klingen, er verlor nur angesichts ihrer herausfordernden Art allmählich die Geduld, und deswegen erschreckte ihn ihre Reaktion. Mit zornverzerrtem Gesicht fauchte sie ihn an: «Bei einer Freundin, Sie unverschämter Kerl.»

«Dann rate ich Ihnen dringend, diese Freundin anzurufen und Ihre Tochter ans Telefon zu holen, Frau Wendel.» Cordula sprach schleppend, mit einer Gleichgültigkeit, die auf die erregte Frau wie eine Ohrfeige wirkte. «Und wenn Sie Ihre Tochter dort nicht erreichen, begleite ich Sie selbstverständlich ins Krankenhaus.»

«Krankenhaus?»

«Das junge Mädchen ist ... schwer verletzt.»

Das kaum merkliche Zögern war ihm nicht entgangen. Im letzten Moment hatte Cordula entschieden - richtig entschieden -, mit der vollen Wahrheit noch nicht herauszuplatzen.

Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau

Подняться наверх