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7.

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Die nächsten Tage schuftete er wie ein Irrer. Schultheiß schleppte pausenlos neues Gerät heran, Kameras, Videogeräte, Funkanlagen, Richtmikrofone, Restlichtverstärker; Holm kannte vieles nur dem Namen nach und einiges nicht einmal in der Theorie. Die zur SoKo abkommandierten Männer und Frauen mussten untergebracht und eingewiesen werden. Kurzlehrgänge für alles Mögliche. Funk- und Telefonverbindungen. Herrichten der Überwachungsorte. Holm zeichnete pausenlos Beschaffungsanträge ab. Kaltläufe des Systems wurden simuliert, dann Probeläufe. Kurierdienste. Ein Fotolabor, Vervielfältigungsmöglichkeiten. Sie entwarfen Listen und Berichtsformulare. Schultheiß verteilte Schreibmaschinen - zwei automatische Lesegeräte für standardisierte Formbögen sollten erprobt werden. Die Elektroniker richteten ihre Dateien ein und zeigten zum ersten Mal Ungeduld und Erregung, wenn ihre schönen Systeme nicht auf Anhieb spurten. Zwei ungewöhnlich hübsche junge Frauen bauten ein Archiv auf, das vorerst aus einer unglaublichen Batterie leerer Aktenordner bestand.

Holm fluchte, trank zu viel Kaffee und nahm ab. Mit Schultheiß sprach er noch am wenigsten, sie waren unabhängig voneinander zur selben Prozedur und Arbeitstechnik der SoKo gekommen. Der Herr der Elektronik leistete gute Arbeit, hinter seinem demonstrativen Gleichmut verbarg sich ein eiserner Wille. Doch ohne Lincke wären sie eingebrochen. Der kleine, ruhige, unerschütterliche Mann ließ sich selten blicken, weil er die Reviere abklapperte und in geduldiger Überredung seine Kollegen zur Mitarbeit gewann; er stellte sich als eine so seltene wie wertvolle Mischung aus Loyalität und entschlussfreudiger Intelligenz heraus. Zusammen bildeten sie ein Trio, das kaum besser harmonieren konnte, und der Fels, den sie aus gutem Grund zu allen wichtigen Entscheidungen heranzogen, nickte häufig sehr beeindruckt.

Trotzdem brauchten sie fünf Tage. Jeder war mit aller Kraft dabei, aber sie mussten eine Organisation aus dem Boden stampfen, die in fast allen Punkten von der Routine abwich. Eines Nachmittags fiel Holm auf, dass Schultheiß vor einem Terminal saß und eine lange Liste eingab; als er ihm über die Schulter schaute, murrte Schultheiß: «Die Polizei muss noch viel lernen, Herr Rat.»

«Zum Beispiel modernes Management?»

«Ja, unsere Kunden sind uns in vielen Punkten voraus. Wir haben einfach noch nicht gelernt, rasch und flexibel genug zu reagieren.»

«Wir sind eine Behörde, Herr Schultheiß.»

«Aber unsere Kunden nicht.»

Weil ihm an diesem Abend von dem unmäßigen Rauchen Kopf und Lungen zu platzen drohten, verordnete er sich einen langen Spaziergang. Es war unverändert warm und trocken, im Radio wurde jetzt regelmäßig vor Wald- und Wiesenbrandgefahr gewarnt, und in der Stadt kühlte es sich nachts so gut wie gar nicht ab.

Früher hatte er viel Sport getrieben, während der Grundausbildung ohnehin, weil es auf dem Dienstplan stand, und später noch im Polizeisportverein. Im Laufe der Jahre belästigte ihn die Gegenwart der anderen immer mehr, er verließ die Volleyball-Mannschaft, beendete kurz darauf auch das Experiment im Tennisverein nach nur zehn Monaten Mitgliedschaft, verlegte sich eine Zeit lang aufs Schwimmen und begnügte sich jetzt folgerichtig mit langen Fußmärschen; nur in den Ferien joggte er gelegentlich. Dass viele auf denselben Gedanken gekommen waren, ließ sich nicht verhindern. Aber der Acherer Forst war groß genug, den anderen aus dem Weg zu gehen, man musste sich nur von den zentralen Parkplätzen entfernen.

Holm marschierte mit weit ausholenden Schritten und überholte, als winke am Ziel ein Preis. Nach zwanzig Minuten lichteten sich vor ihm die Pulks der Spaziergänger, er verlangsamte das Tempo, bog noch einmal in einen schmaleren Seitenweg ab und hatte bald einen verschlungenen Pfad für sich. Unter den Bäumen war es kühl, und allmählich lockerte sich der Druck in seinem Schädel. Solche Nikotin-Koffein-Exzesse steckte er nicht mehr so leicht weg wie früher, auch mit Alkohol war er vorsichtig geworden; der Tag danach verdarb ihm immer häufiger den Abend zuvor. Das Alter meldete sich halt, noch zaghaft, und mit ihm die Frage, wie es eigentlich weitergehen sollte. Beruflich, aber mehr noch privat.

Vor ihm erklangen laute, zornige Stimmen. Ein Mann und eine Frau zankten sich, er konnte die einzelnen Wörter nicht verstehen und das Paar auch noch nicht sehen, aber ihre Auseinandersetzung störte ihn in seinen Gedanken. Unwillkürlich lief er langsamer, um Abstand zu gewinnen. Die Stimmen senkten sich, der Weg machte eine Kurve, und da spazierten sie vor ihm, ein großer Mann und eine schlanke Frau mit brünetten Locken bis auf die Schultern. Im Augenblick brüteten sie vor sich hin. Unbehaglich überlegte Holm, was er tun sollte - im Höchsttempo an ihnen vorbei oder bei nächster Gelegenheit abbiegen? So, wie er sich von anderen Spaziergängern gestört fühlte, nahm er automatisch an, auch die beiden würden gern allein bleiben. Obwohl sie im Moment sichtlich Abstand hielten und ein beachtliches Tempo vorlegten. Selbst von hinten wirkten sie gereizt, und Holm schämte sich seiner erwachenden Neugier. Der Mann war ein muskulöser Typ, und die Frau in den engen Jeans konnte man ruhig als attraktiv bezeichnen, sehr schlank, sie kam Holm irgendwie bekannt vor, diese langen Beine - dann drehte sie den Kopf zu ihrem Begleiter, und Holm blieb wie angewurzelt stehen. Es war Annegret Marquardt. Sie hatte den Verfolger noch nicht entdeckt und gestikulierte, der Mann lachte laut und böse auf.

Aus einem unklaren Impuls drückte sich Holm seitlich ins Unterholz. Der Weg machte immer noch eine leichte Biegung, das Paar, mittlerweile wieder laut zankend, entfernte sich, geriet außer Sicht, und Holm kehrte um. Er hatte keine Lust, in einen Streit einbezogen zu werden; andererseits konnte er an ihr nicht einfach mit einem hingeworfenen «Guten Abend» vorbeilaufen. Und ihnen nachschleichen, als ein Voyeur wider Willen, wollte er auch nicht.

Sein erster Gedanke, eine Frau wie sie müsse einen Freund haben, war also richtig gewesen ...

Er ging auf die Fünfzig zu. Mit Sicherheit würde er noch einmal versetzt werden oder seine Versetzung beantragen. Nach knapp zwei Jahren stand fest, dass er in diesem Präsidium nicht warm werden würde. Für seinen Geschmack entwickelte es etwas zu viel Mief, und da er frische Luft im doppelten Sinne des Wortes liebte, würde er niemals den nötigen Stallgeruch erwerben, um von der Mehrzahl der Kollegen akzeptiert zu werden ... In sechs oder sieben Jahren also noch einmal eine neue Stadt. Noch einmal anfangen. Und dann? Solange er im Dienst war, ließ sich das Alleinsein ertragen. Aber ohne Dienst?

Komisch, solche Ideen ausgerechnet heute.

Das hieß, so seltsam wiederum auch nicht. Weil er stundenlang schweigen konnte und den freiwilligen Kontakt mit anderen mied, glaubten die, er sei unempfindlich für Stimmungen. Oder zu Beobachtungen unfähig. Die Männlein und Weiblein aus Schultheiß’ Mannschaft kannten sich alle, gut sogar, sehr viel besser, als je offen ausgesprochen worden war, jedenfalls gut genug, ihn stillschweigend von ihrer Runde auszuschließen. Höflich, korrekt formierten sie einen Wall gegen ihn und Lincke.

Mit gesenktem Kopf bog er in den Weg zum Parkplatz ein.

«Hallo, Herr Holm!» Die helle, lebhafte Frauenstimme ließ ihn herumfahren. Annegret Marquardt winkte ihm zu und lief die letzten Meter, über das ganze Gesicht strahlend. «Wie schön, Sie hier zu treffen.»

«Guten Tag», erwiderte er steif und warf schnelle Blicke auf den Weg. Ihr Begleiter war nirgends zu sehen, und er entspannte sich ein wenig. «Was treibt Sie in den Wald?»

«Wfff», machte sie und klemmte sich die Nase zu. «Ein Ärgernis.»

«So?» Eigentlich freute er sich, dass sie ihn aus seinen düsteren Gedanken riss, aber er hatte noch immer keine Lust, den Neutralen in einem Streit zu spielen.

«Eine Auseinandersetzung mit einem Bekannten, der sich für meinen Geschmack etwas zu viele Rechte anmaßt.» Dabei schüttelte sie voller Missbilligung ihren Kopf, dass die Locken flogen. «Wollten Sie schon nach Hause? Ich könnte jetzt einen Schluck gebrauchen.»

«Gut, ich bin dabei.» Wann er ins Präsidium zurückkam, spielte wirklich keine Rolle.

«Fein. Was halten Sie von der Kehlinger Mühle?»

«Einverstanden.»

«Prima. Dann ist der Tag doch noch gerettet.» Sie schob ihren Arm unter seinen. «Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten - Sie sehen müde aus. Gesumpft?»

«Leider nein.» Ihre Lebhaftigkeit tat ihm gut. «Zu viel Kaffee, zu viel geraucht, zu wenig Schlaf und zu viel Dienst. Ich musste heute mal auslüften.»

«Kenne ich!», stimmte sie fröhlich zu. Am liebsten hätte er sich umgedreht, um zu kontrollieren, ob der große Mann sie noch beobachtete. Sie fuhr einen kleinen, blauen, offenen Flitzer, und automatisch prägte er sich das Kennzeichen ein. AM 114. AM wie Annegret Marquardt. Bei ihrem Kavaliersstart wirbelten die Reifen eine Staubwolke auf, der er sorgfältig auswich.

In der Kehlinger Mühle fanden sie tatsächlich einen Platz direkt am Geländer über dem Wasser. Das Wehr war einen Spalt geöffnet, das Wasserrad drehte sich träge und ächzend. Zusammen mit dem Rauschen des Wassers und dem Grummeln des Mahlwerks, das der Heimatverein mit viel Liebe und Geld rekonstruiert und renoviert hatte, bildete es eine angenehme Geräuschkulisse. Sie bestellten Weinschorle gegen den Durst und für die Aufmunterung, und sie bekräftigte aus heiterem Himmel: «Ich freue mich wirklich, dass ich Sie noch aufgelesen habe.» Bei diesen Worten legte sie ihre Hand auf seine, zog sie aber gleich wieder zurück, und er machte keinen Versuch, sie festzuhalten. «Zum Wohl.»

Auf den Mann, mit dem sie sich gestritten hatte, kam sie nicht mehr zurück, und er erwähnte nicht, dass er sie unfreiwillig beobachtet hatte. Indirekt schnitt sie das Thema aber doch an, als sie so offen, dass er nicht eingeschnappt sein konnte, wissen wollte: «Warum sind Sie nicht verheiratet?»

«Woher wissen Sie das?»

«Der Große Friedrich hat’s erzählt - Sherlock Holmes habe schließlich auch den Frauen entsagt.»

«Au weia, was meinen Sie, wie oft ich darauf angesprochen werde. Warum ich denn das <es> von meinem Namen gestrichen habe?! Und wo sich denn der Doktor - wie war doch gleich der Name? -, der Dr. Watson aufhalte? Es gehe ihm doch hoffentlich gut?»

Ihr Lachen verletzte nicht: «Heute gibt’s Ärztinnen. Wo steckt denn Frau Dr. Watson?»

«Ich bin ihr zwar noch nicht begegnet, denke aber, sie hat sich entschlossen, nach Afghanistan zurückzukehren.»

«Auf Seiten der Rebellen?»

«Die Emanzipation lässt sich halt nicht mehr bremsen.»

«Wissen Sie, dass Ihre Stimme jetzt vor Trauer trieft?» Es schüttelte sie vor Erheiterung, und er lächelte süßsauer zurück, weil sie ihm mit dieser Unterstellung nur halb unrecht tat.

Nach einer Stunde brachen sie auf. Mit der Dämmerung war hier draußen ein leichter Wind aufgekommen, der zuerst angenehm kühlte, sie beide aber bald frösteln ließ. Die meisten Gäste waren schon gegangen, als sie zu ihren Autos schlenderten. Sie holte die Schlüssel aus ihrer Handtasche, er zerkaute ein Lächeln und legte beide Hände auf ihre Hüften. Eine halbe Minute stand sie still und betrachtete ihn, nicht ablehnend, aber auch nicht so auffordernd, dass er sie an sich gezogen hätte. Dann presste sie sich plötzlich an ihn, dass er ihren vollen Busen fühlte, küsste ihn flüchtig und trat sofort wieder zurück: «Frau Dr. Watson dankt für die nette Einladung.»

Die Räder ihres Autos sprühten Kies nach hinten. Er lachte, winkte ihr nach und ging langsam zu seinem Wagen.

*


IN DER KÜNFTIGEN ZENTRALE der SoKo wurde immer noch gearbeitet, keiner schaute hoch, als Holm hereinkam und stutzte: Der Direktor stand neben einem Terminal und ließ sich von einem sichtlich genervten jungen Mann etwas erklären. Was war in den Dicken gefahren, dass er sich für einen Vorgang in seiner Abteilung interessierte? Irgendwo dudelte ein Radio gerade laut genug, Holms Schritte zu übertönen, als er kopfschüttelnd zu seinem Schreibtisch ging. Der Direktor nickte pausenlos, es sah sehr albern und nach sehr viel Unverständnis aus, und als er sich endlich umdrehte, bemerkte er Holm, der ihn nüchtern grüßte. Wie auf frischer Tat ertappt, zögerte der Direktor, kratzte sich den Kopf und schlurfte dann doch auf Holm zu. Sein Gesicht verriet, dass ihm diese Begegnung unangenehm war: «Wann geht’s denn los?»

«Wir sind in der letzten Phase der Erprobung. Morgen, spätestens übermorgen.»

«Ja, so, gut. Sehr beeindruckend.» Sein Blick irrte ab, er schmatzte unabsichtlich und knetete die Finger. Ein abstoßendes Bild, schoss Holm durch den Kopf, und typisch für dieses ganze Präsidium. Was könnte ein Mann in der Position des Direktors alles verändern, verbessern, reformieren ...

«Sie sind doch mit der Leitung dieser SoKo zufrieden?»

Wer hatte dieser Ruine bloß so brutal jeden Schneid, jede Selbstachtung abgekauft? «Ja, bin ich», erwiderte er ausdruckslos. War es wirklich nur eine ehrgeizige Frau, deren Ansprüchen er nicht mehr genügte?

Der Direktor stülpte die Lippen vor und zurück, seine Augen waren trüb, und in seinen Mundwinkeln bildeten sich winzige Bläschen. «Wir dürfen uns das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen!», orakelte er unvermittelt und schaukelte Richtung Tür. Holm sah ihm erstaunt nach.

Zwei Stunden später erschien Lincke, tiefe Ringe unter den Augen und vor Müdigkeit zum ersten Mal unkonzentriert. Trotzdem erledigten sie gemeinsam den Papierkrieg des Tages.

«Sie können einen Cognac gebrauchen, Herr Lincke.»

«Wenn Sie einen ordentlichen anbieten ...»

In seinem Zimmer erzählte Holm von der merkwürdigen Begegnung mit dem Direktor, Lincke ließ die goldbraune Flüssigkeit in seinem Glas kreisen und erkundigte sich sachlich: «Sie sind erst zwei Jahre hier?»

«Noch nicht mal.»

«Ja, dann - er ist vor drei Jahren in einem Korruptionsfall belastet, aber nicht überführt worden - ach nein, das ist kein Geheimnis, Herr Holm. Er kam sauber genug aus der Untersuchung heraus, um nicht abgelöst zu werden, aber es blieb so viel an ihm hängen, dass er seitdem abgemeldet ist - nicht nur bei seiner Frau. Seitdem verkehrt er in den falschen Kreisen.»

«Frauengeschichten?»

«Das auch. Halbseidenes Milieu, nicht strafbar, aber auch nicht ... reputierlich.»

Lincke hatte vor dem Ausdruck so lange gezögert, dass Holm gluckste: «Es freut mich, dass in diesem Hause noch ein Mensch so altmodisch treffende Wörter benutzt.»

«Er müsste in den Ruhestand geschickt werden.»

«Ein angeschlagener Mann in leitender Position kann sehr wertvoll sein. Weil er knetbar ist.»

Darauf schwieg Lincke lange, trank mit düsterer Miene aus und beschloss das Gespräch: «Tja, der Fisch beginnt immer am Kopf zu stinken.»

Am fünften Tag stand die Organisation. Die Zentrale war voll besetzt, alle Männer und Frauen schauten auf Holm, der einen Knopf drückte, den ihm Schultheiß gezeigt hatte: «Zeus an alle. Bitte kommen.»

Vor ihm blinkten eine Reihe von Lichtern auf. Die Beobachtungsposten für Alpha, Beta, Gamma und Delta. Die Einsatzwagen, die Zivilstreifen, die Verbindungsstellen. Allein die Funkverbindung war ein technisches Meisterwerk.

«Also dann, Aktion Olymp beginnt. Hals- und Beinbruch.» Irgendwo schnarrte ein Drucker los. Holm streckte sich und schaute aus Übermut auf das Endlospapier: «Montag, 22. August, 17.30 Uhr. Beginn Aktion Olymp.»

Er lachte laut los.

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