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3.

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Am Nachmittag gegen vier Uhr schlich Stolle in Holms Zimmer und bat fast unterwürfig: «Könnten Sie bitte helfen? Wir schaffen es nicht mehr.»

«Was packen Sie nicht mehr?»

«Die Zeugen. Da sind zwei neue erschienen, und alle meine Leute sind schon bis zur Halskrause beschäftigt.»

Ohne große Begeisterung stimmte Holm zu, aber Stolle war mit seinen Gedanken viel zu weit weg, um das Zögern zu bemerken. Im Hause galt Stolle als guter Mann, etwas langsam, aber gründlich und zuverlässig, doch ein Chef, der im Ersten Kommissariat anordnete und kontrollierte, delegierte und Ideen entwickelte, würde er nie werden. Holm hatte ihn oft beobachtet, war bis jetzt jedoch nicht zu einem abschließenden Urteil gekommen. Er vermutete, dass es Stolle an Initiative und Autorität fehlte, aber dank der allgemeinen Abneigung gegen den neuen Kriminalrat ließen sich seine Kommissionen nicht hinter die Kulissen blicken.

Heimlich stöhnend klappte er die Akte zu und stand auf. So ganz ehrlich war das nicht; er zupfte sich am Ohrläppchen; dieses Arbeiten an und mit und aus Akten langweilte ihn gelegentlich schon sehr, er vermisste immer noch die Praxis.

Mit Ingeborg Wendel hatten sie noch einen wüsten Zirkus erlebt. Die Abgeordnete - auf der Fahrt ins Krankenhaus legte sie plötzlich Wert darauf, ihre Bedeutung herauszustreichen - hatte das verletzte Mädchen als ihre Tochter Sara identifiziert und dann darauf bestanden, unter vier Augen mit dem Arzt zu reden. Sie konnte nicht ahnen, dass Holm und Cordula Matthies nur zum Schein protestierten, in Wahrheit erleichtert, dass ihnen diese Aufgabe abgenommen wurde. Und weil der Arzt nicht wusste, mit wem er sprach, hatte er der Mutter ungeschminkt dargestellt, was mit dem Mädchen geschehen war. Wie eine Furie war sie danach zu ihnen ins Zimmer gestürzt: «Wer sind die Täter? - Wie konnte das geschehen? - Ich verlange, dass Sie diese Schweine sofort verhaften!»

Zuerst hatten sie diesen fast impertinenten Befehlston der verständlichen Erregung zugeschrieben, aber im Laufe der nächsten Stunde stellten sie fest, dass die Abgeordnete wirklich glaubte, sie könne die Kripo herumkommandieren und beschimpfen. Holm wurde grob, sie schrien sich an, dass die Fetzen flogen, es wurde ein absurder Machtkampf zwischen ihnen, den er wohl gewann, aber zu einem hohen Preis: Hasserfüllt drohte sie ihm mit beruflichen Konsequenzen, bevor sie sich endlich bereit erklärte, zweckdienliche Aussagen zu machen. Es kostete eine zweite Auseinandersetzung, bis sie zustimmte, mit ihnen in den Waldsaum zu fahren, um festzustellen, ob und was aus dem Haus Nummer 44 bei dem Einbruch gestohlen worden war. Das Wort «Strafe» fiel häufiger als der Name «Sara».

Cordula Matthies hatte sich unsichtbar gemacht.

Gestohlen war offenkundig nichts; Bernd Klopfer hatte die Täter gestört. Übrigens hatte die Mutter ihrer Tochter Sara den Umgang mit diesem «Proleten» verboten. Der «Prolet», achtzehn Jahre alt, war Feinmechaniker und hatte seine Lehre vor wenigen Monaten mit Auszeichnung abgeschlossen, er arbeitete seitdem in einer Elektrofirma. Nach den ersten Auskünften ein ordentlicher, gewissenhafter Bursche mit dem besten Leumund. Sara ging noch zur Schule. Beide hatten nicht aussagen können, und bei beiden war ungewiss, ob sie je würden berichten können, was im Waldsaum 44 geschehen war. Das Mädchen hatte, so stand zu befürchten, neben den Verletzungen einen geistigen oder seelischen Schaden davongetragen. Bernd Klopfer kämpfte immer noch mit dem Tode.

Und dann die Schießerei auf dem Ebertdamm. Ein Querschläger hatte eine Kollegin erwischt, Christa Oldenberg, 28 Jahre alt, auf der Stelle tot. Die Täter waren entkommen; das heißt, einer war zu Fuß geflüchtet, die drei anderen waren mit einem Lieferwagen davongerast, und nach den Zeugenaussagen musste einer von ihnen verwundet sein.

*


«BITTE KOMMEN SIE HEREIN.»

Weil sie unfreundlich die Stirn runzelte, fügte er schnell hinzu: «Entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten, aber bei uns ist heute die Hölle los. Wir wissen nicht mehr, wo uns der Kopf steht.»

Offenbar überzeugte sie sein Ton, ihre Stirn glättete sich wieder, und als er sie auf einen Stuhl komplimentiert und ihr Kaffee angeboten hatte, schien sie sogar recht vergnügt zu sein. Das Tonband lief, und er fischte einen Formularbogen aus einer Schublade. Name, Geburtsdatum, Anschrift ... «Ebertdamm 133?»

«Ja, ich wohne in dem Haus, in dem heute eingebrochen wurde. Vor dem heute Morgen die Schießerei stattfand.»

«Bitte erzählen Sie!»

Gegen 9.30 Uhr war sie zur Haustür hinuntergelaufen, weil der Postbote bei ihr geklingelt hatte, traf dort eine Nachbarin, mit der sie ein paar Sätze wechselte, und wollte dann ihr Fach aufschließen. «Da kamen zwei Männer die Treppe hinunter. Sie schleppten eine Teppichrolle.»

Holm atmete tief durch. Sie beobachtete ihn gespannt, und er gewann den Eindruck, dass sie intelligent und zuverlässig war, jedenfalls ruhiger und überlegter als die meisten Zufallszeugen.

«Was sind Sie von Beruf, Fräulein Eggert?»

«Fotografin.» Ihr schnelles Lächeln verriet, dass sie ihn durchschaut hatte. «Vorher habe ich malen gelernt, aber zur Künstlerin hat’s nicht gereicht.»

«Was heißt: malen gelernt?»

«Ganz altmodisch, nach toten und lebendigen Vorlagen. Mit allem Drum und Dran - Anatomie, Perspektive, Farben.»

«Sie haben zwei Leute im Treppenhaus gesehen?»

«Ja. Ich stand innen, im Flur, neben der Haustür, und wollte an meinen Briefkasten. Da kamen sie von oben herunter. Der Kleinere, der voranging, drehte mir den Rücken zu, aber den Größeren konnte ich genau betrachten.»

«Wieso - betrachten?»

«Aus Ärger.» Sie rümpfte die Nase. «Er hatte so eine ... so eine plumpe Art. Der Vordermann war schon fast unten, er stand noch oben auf dem Absatz und rief: <Junge Frau.>» Holm schmunzelte, was sie nach einigem Zögern erwiderte. «So alt bin ich nun doch wirklich nicht, dass man mich <junge Frau> rufen muss. Das hat mich so geärgert, dass ich richtig überlegt habe, ob ich ihm den Gefallen tun und die Haustür öffnen sollte.»

«Was Sie dann doch getan haben.»

«Ja, sicher.» Sie funkelte ihn böse an. «Wenn ich für jedes dumme Anquatschen einen Groschen bekäme, bräuchte ich nicht mehr zu arbeiten. Na ja. Ich wollte halt nicht so sein - und der Teppich war wirklich schwer. Der Kleine keuchte wie ein Blasebalg, und selbst der Große schwitzte mächtig.»

«Woher wollen Sie das wissen?»

«Weil ich’s gesehen habe - heija, ich habe die Haustür hinten in den Schnapper gedrückt und musste mich dann an die Wand quetschen, damit die beiden an mir vorbeikamen. Dabei habe ich mir den Größeren genau angeschaut.»

«Aus einem bestimmten Grund, Fräulein Eggert?»

«Komisch, dass Sie das fragen!» Sie kicherte verlegen. «Ja, ich hatte einen Grund. Der Mann sah nämlich nicht wie ein Handlanger aus.»

«Höre ich da ein gewisses Vorurteil gegen die handarbeitende Klasse heraus?»

Die Unterstellung amüsierte sie: «Der Verdacht liegt nahe, aber das war’s nicht. Erstens hatte er ein intelligentes Gesicht - ja, ja, ich kann’s nicht besser umschreiben -, und zweitens erinnerte er mich an einen Bekannten, mehr im Typus als individuell.»

«Er scheint Sie beeindruckt zu haben.»

«Hat er auch.»

«Gut. Aber erlauben Sie mir einen Einwand - diese ganze Begegnung hat doch keine dreißig Sekunden gedauert. Und trotz dieser kurzen Spanne erinnern Sie sich noch so gut an ihn?»

«Moment!», verwahrte sie sich. «So war’s nicht. Die Geschichte geht weiter.»

«Entschuldigung.»

«Bitte, bitte! Also, die Haustür stand ja offen. Ich habe den beiden Männern nachgeschaut, und da warteten die beiden Polizisten hinter dem Lieferwagen. Offenbar gab’s Ärger.»

Holm bejahte: «Die Streife machte Stunk, weil der Lieferwagen in der zweiten Reihe geparkt war.»

«Ah so. Na schön, anscheinend konnten sie sich einigen, der Große öffnete die Tür, sie verstauten den Teppich, und ich holte meine Post und ging in meine Wohnung hoch. Im dritten Stock. Da hatte ich den Großen ... nicht vergessen, ich meine, ich dachte schon nicht mehr an ihn und die <junge Frau>. So, nach zwei oder drei oder vier Minuten wollte ich das Fenster schließen. Und da hält dieser Lieferwagen wieder vor dem Haus. Wieder in der zweiten Reihe. Plötzlich läuft mein Typ vorne um das Auto herum, ziemlich eilig - nein, aufgeregt. Ich bin stehen geblieben, ich bin neugierig - und dann brach die Hölle los. Jemand schrie, es knallte ein paarmal, und mein Typ fiel um, das heißt, er wäre gefallen, aber ein anderer Mann fing ihn auf, zog ihn in den Wagen, also in das Führerhaus, es war ein fürchterliches Durcheinander, na ja, und gleich danach brauste der Lieferwagen davon.» Sie kaute auf ihren Lippen. «Deshalb ist mir der Typ im Gedächtnis geblieben.»

«So gut, dass Sie ihn genau beschreiben können?»

Jetzt lachte sie verhalten, und Holm staunte über ihren Charme. «Besser noch, Herr Kommissar, ich kann ihn zeichnen.»

«Sie können ... Fräulein Eggert, wenn Ihnen das gelingt, haben Sie einen Wunsch frei.»

«Ich würdige die gute Absicht, Herr Kommissar, aber leichtsinnig sind Sie doch.»

Fünf Minuten später war sie mit allem Nötigen ausgerüstet, einschließlich einer Kanne Kaffee, und auf ihren Wunsch hin ließ man sie allein. Holm gab das Band zum Abschreiben. Zum Schluss hatte sie eine sehr präzise Beschreibung des großen Mannes gegeben, der bei der Schießerei offensichtlich verwundet worden war; zu den anderen Beteiligten konnte sie nicht viel beisteuern, aber das wenige deckte sich mit den Beschreibungen der anderen Zeugen. Vier Männer. Ein Zufall? Und zeitlich konnte es passen ...

Auf dem Gang hielt ihn Kommissar Schmied fest, stotternd vor Aufregung: «Herr Holm, kommen Sie mal mit? Ich glaube, wir haben einen Volltreffer gelandet.»

Den Mann schätzte Holm auf Mitte dreißig. Er hatte ein schmales Gesicht, dünne Haare mit jetzt schon hohen Geheimratsecken, blaue Augen hinter einer randlosen Brille und einen sauber gestutzten Oberlippenbart, der ihn trotz der prächtigen Größe nicht würdiger erscheinen ließ. Denn auch die Pfeife änderte nichts an dem Eindruck eines großen, liebenswürdigen Jungen.

«Das ist Dr. Klaus Fehlisch. Kriminalrat Holm.»

«Guten Tag», grüßte Holm freundlich, Fehlisch nahm die Pfeife aus dem Mund und verbeugte sich im Sitzen: «Sehr erfreut.»

«Dr. Fehlisch ist Arzt. Er hat - ach, erzählen Sie doch bitte.»

«Gerne.» Der Arzt hatte eine feste Stimme und in seinem Beruf genug Geduld erworben. «Ich bin am Marienkrankenhaus beschäftigt und hatte gestern Nacht Dienst in der Ambulanz. Weil gegen Morgen noch ein hässlicher Arbeitsunfall eingeliefert wurde, habe ich das Krankenhaus erst nach neun Uhr verlassen und bin nach Hause gelaufen.»

Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Holm, dass die Angaben zur Person schon aufgenommen waren. Das Tonband drehte sich lautlos.

«Ich wohne in der Erzbergerstraße und bin durch den Ebertdamm gegangen, ja, als diese Schießerei passierte, war ich keine hundert Meter entfernt. Was da ablief, konnte ich nicht sehen, nein, Einzelheiten habe ich nicht erkannt.» Er schien es ernsthaft zu bedauern. «Aber aufgefallen ist mir ein Mann, der von dem ... von dem Unglücksort fortraste. Und zwar genau auf mich zu. Als ob jemand hinter ihm her wäre! Ein kleiner Mann, höchstens 1,60 Meter groß. Und so schmächtig, dass ich ihn auf höchstens 50 Kilo schätzen würde. Mitte dreißig, oder zweite Hälfte dreißig. Feuerrote Haare. Eine merkwürdige Erscheinung - wie unterernährt. Aber das Auffälligste war der nicht ausgeheilte Hüftlux.»

«Der bitte was nicht?»

«Luxatio coxae congenita. Eine angeborene, gar nicht mal so seltene Anomalie des Hüftgelenks. Wird sie nicht frühzeitig behandelt, sieht es später so aus, als sei ein Bein kürzer als das andere, und der Betroffene scheint zu hinken. Wenn er dann noch rasch läuft, beschreibt das Bein eine Bewegung, als ob ... Sie kennen doch den Spruch, jemand laufe über den großen Zeh? Ja? Der Mann war fast ein Musterbeispiel dafür.»

«Hüftlux», wiederholte Holm elektrisiert. Das konnte weiterhelfen, wenn der Mann jemals festgenommen und ärztlich untersucht worden war. Oder gar gesessen hatte.

«Es kommt noch besser!», verkündete Schmied, und der Arzt brummte zweifelnd: «Na ja, besser - der Zwerg raste also direkt auf mich zu, ich habe mir nichts Arges gedacht, verstehen Sie, es war eher ein medizinisches Interesse - und dann rempelte er mich an, so in Eile, dass er mich glatt übersehen hatte. Und statt sich zu entschuldigen, dreht er sich um und kräht: <Pass doch auf, du Arschb...>»

«Krähen?»

«Ja, krähen.» Fehlisch nickte energisch. «Wie ein Kastrat.»

«Mitte bis Ende dreißig, rote Haare, höchstens 1,60 Meter groß, höchstens $0 Kilo, ein nicht ausgeheilter Hüftlux und eine Kastratenstimme.» Am liebsten hätte er gejubelt. Damit mussten sie den Mann finden! «Würden Sie den Zwerg wiedererkennen?»

«Vielleicht. Ich bin nicht sicher. Verstehen Sie, auf sein Gesicht habe ich nicht geachtet, die anderen Einzelheiten fielen mir sehr viel mehr auf.»

«Natürlich. Sie haben uns sehr geholfen. Darf ich Sie bitten, die restlichen Formalitäten mit meinem Kollegen Schmied zu erledigen?»

Fehlisch war zu höflich, um mehr als Verwunderung zu zeigen. Holm brach wie ein Sturmwind in die Zentrale ein, schnappte sich eine der Tastenmäuse, die er heftig vor ein Terminal schubste, und diktierte die Angaben. Zuerst hatte sie gegen seine handgreifliche Eile protestieren wollen, aber als er brüllte «Fall Oldenberg», schwieg sie.

«Bringen Sie mir den Ausdruck sofort in mein Zimmer!»

«Selbstverständlich, Herr Rat.»

Eine Viertelstunde später hatte er alles auf dem Tisch: eine Zeichnung, die den großen Teppichträger lebendig erscheinen ließ, und einen Ausdruck, auf dem er einen Namen rot einkringelte: Hans Jukisch, mit Spitznamen Juke, 37 Jahre alt, dreimal vorbestraft wegen Einbruchs, gelernter Schlosser, Größe 1,58 Meter, Gewicht 46 Kilogramm bei der letzten ärztlichen Untersuchung in der Haftanstalt Bruchsal, rote Haare, Kastratenstimme, verkürztes Bein rechts. Bilder gab es noch nicht, aber die waren, wie die verschiedenen Akten, bereits angefordert; Juke hatte mehrere Justizverwaltungen der Bundesrepublik beschäftigt. Sie hatten ihre erste heiße Spur.

Mit Schmied redete er zwischen Tür und Angel: «Herr Schmied, besorgen Sie sich die Blutgruppe von diesem Juke. Alle Kollegen an Jukes früheren - hm - Arbeitsplätzen sollen sofort rumhorchen, ob er als sexuell gewalttätig aufgefallen ist. Oder mit Leuten verkehrt hat, die einschlägig bekannt sind.»

«Sexuell - ach, Sie denken an den Waldsaum?»

«Möglich. Da war eine Bande tätig, am Ebertdamm hat eine Bande zu geschlagen.»

Schmied sauste davon.

Kurz vor halb sieben schaltete er den Fernseher ein. Früher hatten ihn die Regionalnachrichten im Dritten Programm nie interessiert, aber auf seinem neuen Posten wurde von ihm erwartet, dass er die «Darstellung der Polizei in der Öffentlichkeit» sorgfältig verfolgte. Die Teppichboden-Ebene, wie im Präsidium die Führung verspottet wurde, legte großen Wert auf positive Resonanz. Holm hatte einige Zeit gebraucht, bis ihm klar wurde, dass oben im Hause Kritik gefürchtet wurde, und zwar dann besonders, wenn Kritik angebracht war. Und noch viel später durchschaute er, dass die örtlichen Redaktionen erstaunlich gut informiert waren, besser und ausführlicher, als die ohnehin schon offenherzige Pressestelle es tat. Den zwingenden Schluss, dass es eine undichte Stelle gab, wollte freilich niemand ziehen. Nur nicht anecken! Die älteren Kollegen lästerten zwar über den «Schmusekurs», machten ihn aber mit; Anpassung wurde in diesem Präsidium erstaunlich groß geschrieben.

Der Moderator war ein alter Profi, und seine Darstellung vermied jede Übertreibung oder Sensationshascherei, anders als die Magazin-Sendungen des Rundfunks über Mittag. Auch an den beiden Filmen über den Einbruch am Waldsaum und die Schießerei auf dem Ebertdamm war nichts auszusetzen; Holm grunzte nur einmal, als der Name des vergewaltigten Mädchens nicht genannt wurde. Natürlich wusste die Redaktion längst, dass es sich um die Tochter einer Landtagsabgeordneten handelte. Aber manche Gründe sprachen dafür, unter diesen Umständen vorsichtig zu sein. Mit einer Ingeborg Wendel legte sich auch eine öffentlich-rechtliche Anstalt nicht unnötig an.

Stutzig wurde er bei der Überleitung des Moderators: «Festzustehen scheint, dass es sich bei der Verbrecherbande um Leute von außerhalb handelt, und das wirft die Frage auf, ob es sich hier wieder um organisiertes Verbrechen - ob hier wieder ein Fall organisierten Verbrechens vorliegt.» Ein kleiner Versprecher, eine winzige Unsicherheit, dieser Satz hatte offenbar nicht im Manuskript gestanden. Nachdenklich schaltete er aus und nahm sich seine Handakte vor. Die Häuser Ebertdamm 127 bis 133 hatten sechs Stockwerke und jeweils achtzehn Mietparteien. Die Einbrecher hatten in den vier Häusern fünf Wohnungen geöffnet, offenbar in aller Seelenruhe, und zwar durch einen Profi. Den Türschlössern war nichts anzusehen, nicht einmal ein winziger Kratzer. Gestohlen hatten sie sieben wertvolle Teppiche, außerdem Bargeld und Goldschmuck. Andere Wertsachen hatten sie nicht angerührt, zumindest sah es bis jetzt so aus. Mit einer Ausnahme: Eine kostbare Rarität, ein Paar venezianischer Löwen aus Murano-Glas, Ende des 14. Jahrhunderts geblasen, war verschwunden. Zum Glück hatte der Eigentümer nicht nur eine präzise Beschreibung mit allen Maßen, sondern auch eine Reihe von Bildern liefern können; das Material wurde schon an Antiquariate, Sachverständige und Auktionshäuser verteilt. Ihre kleine Chance bestand darin, die Einbrecher in dem Glauben zu wiegen, der Diebstahl sei nicht bemerkt worden. Denn der Knabe war ein Kenner - ein Laie hätte das Löwenpaar für einen verunglückten Jahrmarktsscherz gehalten.

Holm begann, Fragen zu notieren. Ein Antiquitäten-Kenner auf Einbruchstour oder vorher ein präziser Tipp? Warum nur diese fünf Wohnungen? Gab es in den anderen keine Teppiche von Wert? Zufallsauswahl oder auch hier Vorarbeit durch einen Tipp-Geber? Wer hatte die fünf Wohnungen ausbaldowern können?

Der Lieferwagen war höchstwahrscheinlich gestohlen - Nachfrage in Flensburg. Der schwarzhaarige Schutzpolizist hatte sich den angeblichen Geschäftsnamen gemerkt: «Erich Kummer». Ein Teppichgeschäft dieses Namens gab es weder in der Stadt noch in der näheren Umgebung. Gefälschte Kennzeichen - auch das sprach für eine von langer Hand vorbereitete Aktion. Im Lieferwagen hatten viele Teppiche gelegen, ein gutes Dutzend, hatten die Streifenbeamten geschätzt. Rundfrage: Wo waren gestern oder heute noch Teppiche gestohlen worden?

Vor vielen Jahren hatte sich Holm angewöhnt, solche Fragen sofort zu notieren. Er wusste, dass seine Technik bei den Kommissariaten nicht beliebt war; die Leute empfanden es als Kontrolle oder Bevormundung, wenn er mit seinem Zettelpacken erschien und Fragen ablas. Noch weniger behagte ihnen, dass er nicht erst Abschlussberichte zu laufenden Fällen lesen, sondern ständig informiert sein wollte. Sein Vorgänger hatte das alles sehr viel lascher gehandhabt.

Das Zivilfahnderpaar, Christa Oldenberg und Stefan Maiwald. Sie hatten einen bis jetzt nicht identifizierten Ausländer verfolgt, der im Verdacht stand, mit Rauschgift zu handeln. Gegen 8.20 Uhr hatte er das Haus Ebertdamm 127 betreten. Laut Aussage von Obermeister Maiwald waren sie schon stutzig geworden, als Mitarbeiter eines einzigen Teppichreinigungsunternehmens gleich sechs oder sieben Teppiche auf einmal «abholten». Und als dann der Lieferwagen, offenkundig nur einmal um den Block gefahren, wieder an derselben Stelle anhielt, um zwei Männer ohne Teppiche, aber mit einer großen Tragekiste aufzunehmen ... Vier Männer. Einer war zu Fuß geflohen. Maiwalds Beschreibungen taugten nicht viel, aber das war verzeihlich. Nach dem Tod seiner Kollegin war er ausgerastet.

Die Waldsaum-Geschichte. Mindestens drei Männer; die serologischen Untersuchungen liefen noch. Eigentlich mussten es vier gewesen sein - drei im Haus, einer am Steuer des Autos, mit dem die Beute abtransportiert werden sollte. Wo hatte das Auto geparkt? Wie hatten die Leute die Beute fortschaffen wollen? - Aus einem Haus, von dem alle Nachbarn wussten, dass es zurzeit unbewohnt war? Warum war das Haus mit seinem wertvollen Interieur nicht mit einer Alarmanlage gesichert? Wie, zum Teufel, konnte es solchen Profis passieren, dass sie alles ausgespäht hatten und dennoch nicht wussten, dass sich in dieser Nacht ein junges Paar im Haus aufhielt? Okay, sie hatten sich für den Garten und den Wald entschieden, um eine möglichst kurze Strecke mit offener Sicht zu laufen - wohin hatten sie sich von der Lücke im Zaun gewandt? Links? Rechts? Welche der vom Waldsaum abzweigenden Sackgassen lag näher?

Fragen, Fragen, Fragen. Leise seufzend packte er zusammen. Morgen musste er sich entscheiden, ob er die beiden Fälle getrennt oder zusammen untersuchen ließ. Vier Männer, und in beiden Fällen gewalttätig. Das eben passte nicht zusammen - intelligente Planung respektive Vorbereitung und so brutale Ausführung. Zweimal brutal - im Waldsaum und auf dem Ebertdamm. Scheißspiel.

Er schaute bei Cordula Matthies vorbei, die sofort ab winkte: «Leider nichts Neues.»

Es wäre auch zu schön gewesen. «Wenn was ist - rufen Sie mich ruhig an.» Für alle Beamten der Mordkommission würde es eine lange Nacht werden, und er empfand einen Anflug von schlechtem Gewissen, dass er jetzt schon verschwinden konnte.

«Klar», entgegnete sie zerstreut. «Sagen Sie mal, Herr Rat, waren das nun zwei Banden oder nur eine?»

«Ich habe keine Ahnung.»

«Bei der Brutalität will mir nicht in den Kopf, dass sie aus dem Waldsaum nichts mitgenommen haben. Nachdem sie den Jungen halb totgeschlagen und das Mädchen ...» Sie brachte den Satz nicht zu Ende, und deswegen musterte er sie aufmerksam. Auch diese Frage hatte er sich notiert: Wenn sie schon nicht geflohen waren, als der junge Mann sie im Parterre überraschte - warum hatten sie die Zeugen nicht umgebracht? Oder waren sie - und warum - sicher, dass Bernd Klopfer und Sara Wendel sie nicht identifizieren konnten?

Einen Teil seiner Gedanken hatte sie erraten: «Alle Leute sind unterwegs und erkundigen sich, ob neue Typen in der Stadt aufgetaucht sind.»

«Sehr gut.» Sie fahndeten nach Hans Jukisch, «Juke» genannt. Alle Zivilfahnder durchkämmten heute Nacht die Stadt, alle Spitzel, Informanten und Zuträger konnten sich in den nächsten Stunden etwas verdienen. In einer Gewaltaktion war diese Zeichnung der Fotografin noch vervielfältigt worden, damit alle Streifen und Kriminalpolizisten sie vorzeigen konnten. Natürlich war es jetzt ein Wettlauf mit der Zeit; Juke und der verletzte Unbekannte würden so weit türmen wie eben möglich.

«Die Oldenberg war sehr beliebt», setzte sie unvermittelt hinzu und griente schräg.

Holm stöhnte heimlich, weil er die Botschaft verstanden hatte. Wenn es einen Kollegen oder eine Kollegin erwischt hatte, funktionierte der Korpsgeist der Polizei. Unter solchen Umständen praktizierten die Übereifrigen eine gewisse Härte, was ihre «Kunden» genau wussten und in Grenzen auch akzeptierten. Auf der anderen Seite zogen es manche vor, in diesen Fällen lieber nicht mit der Polizei zu reden und für einige Zeit abzutauchen.

«Der Mann auf der Zeichnung ist verwundet worden», erinnerte er gedehnt. «Sind alle Ärzte und Krankenhäuser ...?»

«Sicher, als Erstes», unterbrach sie ihn bissig.

«Na schön, dann gehe ich.» Unzufrieden schloss er die Tür. Der Apparat lief auf Hochtouren, und es war jetzt seine Aufgabe, den Apparat funktionstüchtig zu erhalten, nicht mehr, ihn selbst zu steuern. Auf der Treppe versuchte er sich zu erklären, warum er zum Abschied mit der Oberkommissarin Cordula Matthies und nicht mit dem Leiter des 1. K., Hauptkommissar Wilfried Stolle, gesprochen hatte. In der Eingangshalle gestand er sich dann ein, dass er der Frau gern helfen, den Mann jedoch im eigenen Saft schmoren lassen wollte.

Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau

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