Читать книгу Streifzüge durch meine Heimat - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8

Die Gosener Berge

Оглавление

Ich habe in »meinem« Gosen nie gelebt, aber es geht die Sage, dass ich auf den Höhen der Gosener Berge gezeugt worden bin. Es muss im Mai 1937 gewesen sein. Zu Hause hatten es meine Eltern schwer, sich ungestört zu lieben, denn in ihrer Familien-WG am Neuköllner Weichselplatz lebten sie mit den Eltern meiner Mutter, meinem Urgroßvater sowie der Schwester meiner Mutter nebst deren Mann zusammen. Nur in ihrem Faltboot waren sie allein. Allerdings, ich hatte selbst solch ein Boot und wage die These, dass sich mitten auf einem Gewässer nur erfahrene Akrobaten erfolgreich paaren können. Also werden meine Eltern, Hildegard und Otto, von Schmöckwitz her über den Seddinsee kommend, wohl auf Gosener Territorium angelegt und sich in einer schützenden Sandkuhle unter märkischen Tannen ans Werk gemacht haben.

Gosen, heute Gosen-Neu Zittau, liegt im Bundesland Brandenburg, das am nordöstlichen Ufer des Seddinsees so richtig imperialistisch dem großen Berlin ein Stück Land abgenommen hat. Gegründet worden sein soll es im Jahre 1752 von Friedrich dem Großen als »Spinnerdorf«. Nicht etwa, dass der Preußenkönig die damalige Kreativszene Berlins hierher umsiedeln wollte – nein, es sollten hier Maulbeerbäume angepflanzt und ihre Wolle versponnen werden. Die Gosener Berge nun, bis zu achtzig Meter hoch, gehören zum Teil noch zu Berlin. Dies gilt auch für das Areal, auf dem in den Jahren 1905/06 das Ausflugslokal »Schillerwarte« mit einem Aussichtsturm errichtet worden ist. Diese Schillerwarte war für mich, als wir über den Seddinsee schipperten und ich als Kleinkind vorn im Faltboot meiner Eltern saß, etwas so Großartiges, dass ich sie heute noch deutlich vor Augen habe, wenn ich in Friedrich Schillers Die Kraniche des Ibykus lese: Schon winkt auf hohem Bergesrücken / Akrokorinth des Wandrers Blicken … Leider ist die Schillerwarte in den 1970er-Jahren verfallen und abgetragen worden, und Akrogosen ist heute nur noch eine chaotische Wildnis. Aber gleich nach der deutschen Wiedervereinigung haben sich meine Wanderfreunde und ich, nachdem wir mehrere verrostete Zäune überwunden hatten, noch unter der berühmten Wurzelkiefer gegenseitig fotografiert.

Der Blick ringsum ist, sofern man eine Sichtschneise gefunden hat, noch immer faszinierend, und es kommt einem das Heimatlied des Neu Zittauer Hauptlehrers Gause in den Sinn:

Stehst du am Rande jener Hügel,

da wo die Heide weit sich dehnt,

hättest dem Schauen weite Flügel

für diesen Anblick schnell entlehnt.

Vorn ducken sich die Häuser nieder,

dort hinten schlängelt sich der Fluss.

Wald, Wiese, Hügel grüßen wieder

– ein prächtig Bild, das ewig bleiben muss.

Gosen klingt nach Bibel. Der Pharao bot Joseph an, sich mit seinem Vater und seinen Brüdern in diesem besten Teil des Landes anzusiedeln: … du sollst im Lande Gosen wohnen und nahe bei mir sein … (2. Buch Mose, 45,10). Manche allerdings nehmen an, dass Gosen im Osten des alten Nildeltas lag.

Vielleicht hat diese Verbindung zwischen Brandenburg und Ägypten Ernst Lubitsch im Jahre 1922 bewogen, bei den Dreharbeiten für seinen Film Das Weib des Pharao in die Gosener Berge zu gehen und hier die Schlachtszenen zwischen den Ägyptern und den Nubiern spielen zu lassen (so jedenfalls der Tagesspiegel vom 25. Januar 2017, für den allerdings die Äthiopier die Gegner des Pharao sind).

Die Gosener Berge sind auch ein Stück deutscher, genauer ein Stück DDR-Geschichte: In ihren Tiefen verbargen sich die Bunkeranlagen der zentralen Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit, und am Rande Gosens erstreckten sich die Gebäude der MfS-Hochschule zur Ausbildung von Auslandsagenten.

Einige Hundert Meter von der Stelle entfernt, auf der einst die Schillerwarte stand, gab es ein Hotel- und Kongresszentrum, in dessen großem Saal ich am 21. Juni 1991, organisiert von der Humboldt-Universität, am frühen Vormittag einen organisationssoziologischen Vortrag halten sollte. Anzureisen war schon einen Tag vorher, also am Donnerstag, dem 20. Juni 1991. An ebendiesem Tage wurde im Bonner Bundestag bis in den späten Abend darüber diskutiert, ob man nun nach erfolgter Wiedervereinigung den Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin verlegen solle oder nicht. Die Debatte dauerte zehn Stunden und wurde in die Lobby des Hotels übertragen. Für mich als geborenen und bekennenden Berliner war das spannender als jedes Fußball-WM-Endspiel mit deutscher Beteiligung. Endlich nahm der Bundestag den Antrag zur »Vollendung der Einheit Deutschlands« mit 338 zu 320 Stimmen an. Hurra! Wolfgang Schäubles Rede hat wohl den Ausschlag für Berlin gegeben, und ihn liebe ich, obwohl seit 51 Jahren SPD-Genosse, noch heute dafür.

Nach Gosen, so sehe ich gerade auf meiner Karte, kann man mit dem Bus der Linie 369 von Müggelheim aus anreisen, aber auch von Erkner aus mit dem 424er-Bus, der bis zur Haltestelle Schillerhöhe fährt. Den habe ich wohl genommen, als ich vor etwa zwanzig Jahren zu einer Lesung in der Heimatstube Gosen, einem kleinen Museum, angereist bin.

Wer als Kenner der Gegend den Namen Gosen hört, denkt sofort an den Gosener Graben und den Gosener Kanal. Beide verbinden den Seddin- mit dem Dämeritzsee, aber der eine ist Natur pur, der andere eine schnurgerade künstliche Schifffahrtsstraße.

Wenn ich von Schmöckwitz her mit schon etwas müden Paddelschlägen an das Ende des Seddinsees gekommen war, ging es links in den Kanal und rechts, nicht leicht zu finden, in den Graben. Erst kam die Straßenbrücke, dann das Forsthaus Fahlenberg. Ein paar Hundert Meter weiter begann das Sumpf- und Wiesengebiet, das man auch als ein Delta der Spree bezeichnen kann oder als einen Spreewald en miniature. Rechts mündete ein schmaler Wasserlauf, kaum breiter, als ein Paddel lang ist, in den Gosener Graben. In den bin ich etwa 1956 mit meinem Vater an Bord eingebogen, aus reiner Neugier. Wir paddelten immer parallel zur Gosener Landstraße entlang und mussten uns im Boot lang ausstrecken, um unter einem niedrigen Holzsteg hindurchzukommen. Plötzlich ein Aufschrei. Oben auf der Straße stand ein schwarz-rot-goldenes Schilderhäuschen der DDR-Grenzpolizei, denn hier verlief die Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR – und in diese einzureisen, hätte uns als West-Berlinern eine saftige Strafe eingebracht. Was nun? Zu wenden war in dem engen Rinnsal unmöglich. Also paddelten wir im Rückwärtsgang wieder zum Gosener Graben.

Vom Gosener Graben zweigte auch der sogenannte Große Strom ab, und auf dem erreichte man in der Nähe von Schönschornstein die richtige Spree. Nebenbei: Aus Schönschornstein bei Erkner kommt auch Paul Quappe, der in den Romanen der Reihe Es geschah in Preußen als komischer Hausdiener eine dankbare Nebenrolle spielt.

Auf den nächsten Kilometern gab es dann seltene Tiere, Pflanzen und Bauern zu bestaunen. Letztere beim Heumachen. An einigen kleinen »Ablagen« – so wurden früher sandige Stücke am Ufer genannt – konnte man gut anlegen und Pause machen, jedenfalls so lange, bis eine offenbar nicht ganz ausgelastete untere Behörde der DDR beschlossen hatte, den Gosener Graben mittels einer Spundwand aus eingeschlagenen Pflöcken von seiner Urwüchsigkeit zu befreien. Das hinderte uns aber nicht daran, aus dem Boot zu steigen, um unser Margon-Tafelwasser aus dem Schmöckwitzer Konsum zu trinken. Belegte Brote hatten wir uns immer aus Schmöckwitz mitgebracht. Bei einer Fahrt mit dem Frohnauer Freund Dr. Jürgen Zingler aus West-Berlin hatte ich stattdessen einen Müsliriegel dabei. Als ich in den biss, schrie ich derart auf, dass mein Begleiter, der Internist war, befürchtete, ich hätte einen Herzinfarkt erlitten. Doch ich hatte nur eine teure Brücke aus ihrer Verankerung gelöst und sie um ein Haar verschluckt. »Das wäre ein schöner Bolustod für dich gewesen und hätte dir als Kriminalautor hohe PR-Werte gebracht«, sagte er gelassen. »Allerdings hätte ich dich mit dem Heimlich-Handgriff noch gerade gerettet.«

Bisweilen schlugen wir bei der Fahrt durch den Gosener Graben wild um uns. Die Bremsen hatten uns entdeckt und wollten ihre stilettartigen Saugrüssel in unsere Rücken versenken. Schafften sie es und delektierten sich an unserem Blut, dann hatte man es stundenlang mit irre juckenden »Flatschen« auf der Haut zu tun. Gosen war nichts für Mimosen.

Vom Gosener Graben kam man auf den Dämeritzsee. Durch ihn verlief die Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR, und auf einem Prahm saßen die Grenzposten, um die Papiere zu kontrollieren. Wir West-Berliner mussten nach links abbiegen, wo sich in Hessenwinkel an einem Arm der Müggelspree gut rasten ließ. Zurück nahmen wir dann, ausgebremst im Graben, lieber den Weg über den insektenfreien Kanal.

Streifzüge durch meine Heimat

Подняться наверх