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10 ALLES GEHEIM
ОглавлениеSeit einigen Wochen schon hatte Sansibar nun Kristallunterricht bei Doktor Tornham.
Die ganze Klasse fieberte auf Montagmorgen hin. Alle liebten den Unterricht von Doktor Tornham. Nur Sansibar hatte das Gefühl, dass Tornham sie überhaupt nicht mochte. Dabei gab sie sich immer solche Mühe, bereitete sich gut auf den Unterricht vor und meldete sich, wann immer sie etwas wusste. In der letzten Stunde hatten sie gelernt, wie viele Punkte ein einzelner Gedanke brachte und wie viele Punkte man brauchte, damit sich die Farbe des Kristalls änderte.
Für einen einfachen Gedanken konnte man bis zu 500 Punkte erzielen. Ein großer Gedanke oder eine echte Erfindung brachte 5000 Punkte oder mehr. Selbst für einen leeren Gedanken bekam man noch 10 Punkte, sozusagen im Schlaf. Ein automatisiertes Beurteilungssystem sorgte für die gerechte Zuteilung der Punkte.
Ein zartes Gelb, hatte Doktor Tornham erklärt, stellt sich nach einer Million Punkte ein.
Marella bestand felsenfest darauf, dass ihr Kristall bereits eine leichte Gelbfärbung zeigte. Sansibar konnte dieses Gerede nicht mehr ertragen. Natürlich war Marellas Kristall glasklar, durchsichtig wie Luft.
An diesem Morgen rollte Doktor Tornham einen fahrbaren Tisch in den Unterricht. Darauf war ein grauer Computer montiert. Neugierig tuschelten die Kinder. Doch als Doktor Tornham ein einziges Mal auf den Zehen wippte, herrschte augenblicklich Ruhe in der Klasse.
„Das ist ein Gedankenrecorder“, erklärte Doktor Tornham.
„Ein was?“, fragte Moritz, ohne sich zu melden.
„Ein Gedankenrecorder, damit zeige ich euch heute, wie einfach und effizient die Aufzeichnung von Gedanken funktioniert. So wie es später euer Protrektor für RUHL machen wird.“
Doktor Tornham hielt ein breites Stirnband hoch. Über ein Lichtkabel war es mit dem Computer verbunden.
„Dieses Stirnband überträgt die Gedanken an den Computer. Ein Übungsprotrektor ist eingebaut. Wir werden einen kleinen Test durchführen. Einer von euch darf das Stirnband aufsetzen und versuchen, all seine Gedanken zu notieren. Gleichzeitig wird der Übungsprotrektor die Gedanken aufzeichnen. Obwohl der Übungsprotrektor nicht auf euch eingestellt ist, arbeitet er einigermaßen genau. Wir werden die aufgezeichneten Gedanken vergleichen. Lasst euch von dem Ergebnis überraschen. Und das Beste dabei ist: Ihr erhaltet für diesen kleinen Test bereits 500 Punkte, die euch zur Kristallfeier gutgeschrieben werden. Na, wer möchte es als Erstes versuchen?“
Fast alle Finger schnellten hoch. Sansibar hatte ein komisches Gefühl. Sie musste an ihre Mutter denken, und genau diesen Gedanken wollte sie nicht mit der Maschine teilen. Ansonsten alles. Aber nicht, wenn sie an ihre Mutter dachte. Sie hatte doch nur dieses eine Bild von Mama.
„Moritz, du darfst anfangen“, sagte Doktor Tornham.
Moritz strahlte. Er riss seinen Stuhl um, als er aufsprang und nach vorne sauste.
Doktor Tornham lächelte nachsichtig. Er drückte Moritz das Stirnband auf den Kopf, brachte es in die richtige Position und startete den Computer.
„Und was ist? Merkst du etwas?“, rief Hannah.
Moritz schüttelte den Kopf.
„Du musst deinen Kopf schon stillhalten“, mahnte Doktor Tornham. „Der Übungsprotrektor ist nicht an dich angepasst. Er muss genau auf der richtigen Position sitzen, sonst kann er die Gedanken nicht genau lesen.“ Doktor Tornham rückte das Stirnband ein paar Millimeter nach links.
„Moritz, zur Kontrolle gibst du jetzt alle Gedanken mit der Tastatur in den Computer ein. Auf drei geht es los. Eins, zwei, drei!“
Moritz schnappte sich die Tastatur und legte los. Die Tasten klapperten. Moritz tippte rasend schnell.
Gespannt saß die Klasse da. Keiner sagte ein Wort. Niemand tuschelte.
Sansibar versuchte, den Gedanken an ihre Mutter zu verscheuchen, aber je mehr sie sich bemühte, umso stärker drängte sich das Bild mit dem orangefarbenen T-Shirt in den Vordergrund. Es wollte einfach nicht verschwinden.
Nach fünf Minuten unterbrach Doktor Tornham die tastenklappernde Stille: „Ich denke, das reicht für unseren kleinen Test.“
Moritz streifte das Stirnband ab und schüttelte die Finger aus.
„Kinder, lasst uns nun das Ergebnis ansehen. Was denkst du, Moritz, wie viele deiner Gedanken hast du aufgeschrieben?“
„Na alle. Ich habe alle Gedanken aufgeschrieben. Keiner ist mir durchgerutscht“, sagte Moritz. „Ich kann schnell genug tippen.“
„Bist du dir sicher?“
„Klar, ganz sicher.“ Moritz nickte. „Ich weiß doch, was ich denke.“
Doktor Tornham drückte den Ergebnisschalter. Ein kleines Hologramm leuchtete über dem Computer und zeigte: „45%. Gratulation, Moritz, du hast es geschafft, fast die Hälfte deiner Gedanken aufzuschreiben.“
„Das kann nicht sein. Ich habe alle Gedanken notiert“, beschwerte sich Moritz. „Welche Gedanken soll ich denn vergessen haben?“
Doktor Tornham ging zu Moritz und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Die Hälfte, das ist ein sehr guter Wert. Nicht viele schaffen das auf Anhieb. Was du vergessen hast, kann ich dir leider nicht sagen. Die Gedanken werden verschlüsselt. Das dient zu deinem eigenen Schutz. Nur du kannst sie abrufen, niemand sonst. Möchtest du sie sehen?“ Doktor Tornham reichte Moritz eine Bildschirmbrille. Hier, damit kannst du dir deine Gedanken alleine ansehen.“
Das Hologramm erlosch, als Moritz die Brille überstülpte. Plötzlich wurde Moritz bis über beide Ohren rot. Er stotterte und klang verwirrt: „Nein, nein, das habe ich nicht gedacht. Bestimmt nicht. Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, nicht daran zu denken.“
„Das macht doch nichts, Moritz“, sagte Doktor Tornham. „Das geht jedem so. Aber deine Gedanken bleiben dein Geheimnis. Niemand außer dir kann sie ansehen. Gratuliere, Moritz. Du hast gerade 500 Punkte verdient.“
Sansibar verstand das nicht. Es ließ ihr keine Ruhe. Sie reckte ihre Hand in die Höhe und schnippte: „Aber wie helfen meine Gedanken RUHL, wenn nur ich sie sehen kann?“
„Gute Frage“, sagte Doktor Tornham. „Kein anderer Mensch kann auf deine Gedanken zugreifen, aber RUHL selbst nutzt sie für die Verbesserung der Wissensdatenbank.“
„RUHL erfährt wirklich alles, was ich denke?“, fragte Sansibar. Ihre Stimme zitterte, obwohl sie gelassen klingen wollte.
„Das ist überhaupt nicht schlimm“, platzte Marella dazwischen. „Du merkst es nicht einmal und kein anderer Mensch wird jemals deine Gedanken erfahren.“
Doktor Tornham nickte Marella aufmunternd zu und erklärte weiter: „RUHL speichert alle Gedanken anonym ab. Das heißt, deine Gedanken werden im Zentralcomputer gespeichert, aber dein Name dazu wird gelöscht. Das ist, als würde RUHL augenblicklich vergessen, dass es dein Gedanke war. Niemand außer dir weiß, was du gedacht hast.“
„Ich sag doch, das ist überhaupt kein Problem“, ereiferte sich Marella.
„Wer möchte als Nächster den Gedankentester ausprobieren?“, fragte Doktor Tornham.
Als nun alle Finger in die Höhe schnellten, wusste Sansibar, sie musste mitmachen. Ganz vorsichtig hob sie ihren Arm, nur ein bisschen. Sie versuchte sich klein zu machen. Hoffentlich würde Tornham sie nicht bemerken.
Doktor Tornham rief Hannah auf. Und auch für den Rest dieser Stunde gelang es Sansibar, unbemerkt zu bleiben. Endlich erlöste sie der Schulgong.
„Als Hausaufgabe“ sagte Doktor Tornham, „notiert ihr bitte drei Stunden eure Gedanken und wiederholt Kapitel 1 bis 18: Entwicklung und Erfolg von RUHL.“
Sansibar stöhnte. So viele Hausaufgaben gab es sonst nie. Aber schließlich hatten sie bald ihre Kristallprüfung.