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5 ABFAHRT

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Luan quetschte sich aus der gläsernen Gondel. Er hastete an einem Mann in grauer Jacke vorbei. „Entschuldigung“, murmelte Luan, als er ihn mit dem Board rammte. Dort hinten waren die Toiletten. Luan riss die Tür auf und zog sie blitzschnell hinter sich zu. Sein Herz raste. Er hielt die Luft an. Luan hörte Schritte trampeln. Sipos? Mit einem Satz war er am Fenster. Luan zerrte es auf. Er flankte über das Fensterbrett. Im Sprung hielt er das Board unter seine Schuhe und ließ die Magnetverschlüsse zuschnappen. Der künstliche Schnee begann sofort zu pulsieren und neigte sich steiler. Luan drückte sich ab. Er hörte noch das Krachen der Toilettentür.

In geduckter Haltung nahm Luan Fahrt auf. Auf der anderen Seite des Hangs standen die beiden Mädchen, diese blöden Kühe. In seiner Sandkastenfreundin hatte er sich gründlich getäuscht. Sie leugnete sogar, ihn zu kennen.

Jetzt streckte Sansibar ihren Arm aus. Sie zeigte auf etwas hinter Luan. Luan drehte sich um.

Verdammt, die Sipos waren ihm auf den Fersen. Alle vier standen schon auf ihren Boards. Der Berg ließ ihnen freie Bahn.

Vor Luan brach der Berg in einen Steilhang ab. Luan schwang über die Kante hinunter, raste direkt ins Tal. Nur Geschwindigkeit zählte. Je schneller er fuhr, umso steiler neigte sich der Berg. Luan wagte einen Blick zurück. Für einen Moment hatte er seine Verfolger abgeschüttelt. Doch schon tauchten die Sipos über die Kante in den Steilhang ein. Sie machten Zentimeter um Zentimeter gut. Sie waren einfach schneller. Luan wusste, er würde den Vorsprung nicht bis unten durchhalten. Sie würden ihn erwischen.

Luan strich in rasender Fahrt über sein ceeBand, wechselte das Programm. Er hatte sich wieder in den Computer des Golden Surfers eingeloggt. Er sah den pulsierenden Berg auf dem Bildschirm, jeden Millimeter, jede Zehntelsekunde. Wenn er die Daten des Bergs nur verändern könnte. Hektisch startete er seinen Passwortscanner. Ohne das richtige Passwort hatte er keine Chance, auch nur eine einzige Schneeflocke zu beeinflussen.

Der Steilhang bog sich jetzt zu einer Buckelpiste. Die Buckel pumpten im Rhythmus seines Herzschlags. Dort, wo gerade ein zwei Meter hoher Buckel herausragte, gähnte nun ein tiefer Trichter. In scharfen Schwüngen riss Luan sein Board um die Trichter und Buckel.

Die Sipos blieben ihm auf den Fersen. Er konnte sie nicht abschütteln. Sie kamen immer näher. Die Sipos zogen engere Kurven um die Hindernisse, schienen nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. Dabei lächelten sie so höflich, als würden sie einer alten Frau über die Straße helfen.

Nervös blinzelte Luan auf sein ceeBand. Der Passwortscanner raste durch die Möglichkeiten. Vor Luan stülpte sich mit einem Ploppen der nächste Buckel aus. Eine Schneefontäne spritzte in die Luft. Luan riss sein Board nach rechts. Der Schnee wurde härter. Er knirschte unter den Kanten. Und wieder knirschte es. Diesmal war es nicht sein Board. Luan warf einen Blick über die Schulter. Ein Sipo lächelte ihm zu, keine fünf Boardlängen entfernt. Er streckte seine Hand aus, bereit, Luan zu packen.

Luan fuhr einfach zu langsam. Vor ihm lag ein großer Trichter. Er hielt darauf zu, wich keinen Millimeter aus. Und dann raste er direkt in den Trichter hinein.

Sein Verfolger bremste im allerletzten Moment ab und schwang links um den Trichter.

Genau in dem Augenblick, als Luan den tiefsten Punkt des Trichters erreicht hatte, stülpte sich dieser aus und katapultierte Luan in die Höhe. Wie ein Skispringer flog Luan davon und landete mit einem Vorsprung von gut 30 Metern. Er schlug hart auf. Seine Knie knirschten, aber er hatte wertvolle Meter gewonnen. Luan suchte die Piste nach weiteren Trichtern ab, stürzte sich in den nächsten und ließ sich erneut nach vorne schleudern. Luans Herz pumpte. Er hatte keine Kraft mehr. Seine Oberschenkel zitterten. Er konnte sich kaum noch auf dem Board halten. Er würde keinen weiteren Sprung mit einem Trichter durchstehen. Der Berg schien dies zu erkennen. Die Piste vor ihm neigte sich flacher. Die Buckel und Vertiefungen verschwanden fast völlig. Er verlor an Geschwindigkeit.

Für die Sipos blieb die Piste steil und Luans Vorsprung schmolz wie Vanilleeis in der Sonne.

Da piepste Luans ceeBand. Luan drehte sein Handgelenk und sah: Passwort korrekt. Zugang zum Zentralrechner des Golden Surfers genehmigt.

Auf dem Display pulsierte der Berg immer noch mit all den Zahlen, Millimetern und Sekunden, aber jetzt konnte er die Zahlen selbst verändern. Er verschob den Wert für einen klitzekleinen Trichter vor ihm. Dahinter lag eine riesige Gletscherspalte. Luan zog den Trichter tiefer und tiefer. Ein letzter Sprung. Luan stürzte in den Trichter. Für einen Augenblick verschwand er darin vollkommen. Dann spürte er einen Schlag, als würden seine Oberschenkelmuskeln zerreißen. Wie eine Rakete schoss er heraus und flog über die Gletscherspalte. Er hatte keine Kraft mehr, die Landung durchzustehen. Er überschlug sich. Er stürzte. Der eisige Schnee war plötzlich überall. In seiner Nase, in seinen Ohren und unter dem T-Shirt. Er spuckte aus, wischte sich den Schnee vom Gesicht.

Auf der anderen Seite der Gletscherspalte bremsten die vier Sipos scharf ab. Ruhig standen sie dort und lächelten. Sie wechselten kein Wort, als wüssten sie haargenau, was zu tun sei. Auch eine Gletscherspalte war in der Welt des Golden Surfers nicht von Ewigkeit. Sie würde sich gleich wieder auflösen, verändern, verschieben.

Luan strampelte sich aus dem Schnee frei. Er tastete nach seinem linken Handgelenk. Beruhigt fühlte er die glatte Oberfläche des ceeBands. Er streifte den Schnee ab.

Auf dem kleinen Display sah er, wie die Gletscherspalte, die ihn für den Augenblick von den Sipos trennte, langsam wieder zusammenwuchs. Luan rieb seine Hand am T-Shirt trocken, so gut es eben ging. Dann berührte er die Zahlen, die sein Display für die Gletscherspalte anzeigte. Er zog sie tiefer, immer tiefer und breiter hinüber zu den Sipos. Die standen einfach nur da und sahen den Rand der Gletscherspalte auf sich zukommen, wie ein riesiges Ungeheuer, das seinen Rachen aufriss und alles verschlang. Sie schenkten der Gletscherspalte keine Aufmerksamkeit. Sie schienen überzeugt, dass die Gletscherspalte vor ihnen stoppen würde. Bis zum letzten Augenblick standen die Sipos regungslos da. Und dann fielen sie einfach hinein, in den Schlund der Gletscherspalte, verschwanden darin, wie aufgefressen.

Luan atmete nervös. Er musste nur noch die Zeit verändern. Er verlängerte die Dauer der Gletscherspalte auf eine halbe Stunde. Das würde reichen. Dann loggte er sich aus dem Zentralcomputer des Golden Surfers aus. Niemand sollte seine Spuren entdecken.

Luan klopfte den restlichen Schnee ab. Er versuchte aufzustehen. Seine Beine zitterten. Die Muskeln brannten. Er konnte sich kaum aufrichten. Eine Ewigkeit verging, ehe er wieder auf den Füßen stand. Seine Knie schwammen. Es fühlte sich an, als würden seine Beine jeden Augenblick zusammenklappen. Zitternd tastete er nach seinem Board. Schob seine Füße vorsichtig darüber. Das schmatzende Geräusch der Magnetverriegelung beruhigte ihn. Als beide Beine wieder fest auf dem Board standen, atmete Luan erleichtert auf. Ganz sanft neigte sich die Piste vor ihm. Luan drückte sich ab. Langsam glitt er talwärts. Vor jedem Schwung hatte er Angst, dass er es nicht mehr schaffen würde. Doch irgendwie half der Berg mit und hievte Luan um die Kurven.

Endlich sah er die Talstation. Alle Surfer kamen dort unten an. Dicht drängten sie sich um den Ausgang. Hier musste jeder durch.

Ausgelaugt rutschte Luan den letzten Hang hinunter. Es wurde immer voller. Vor dem Ausgang standen Buden, die Krimskrams und Süßigkeiten verkauften. Ein Duft von Blaubeerpfannkuchen wehte herüber. Die hatte es bei den Häppy Kidz nur an Weihnachten gegeben. Luan griff nach seinem ceeBand, 30 Euro waren darauf geladen. Nur einen einzigen Blaubeerpfannkuchen.

Luan bremste mit einem letzten Schwung vor den Buden ab. Er löste die Verschlüsse seines Boards und ließ es wie alle anderen einfach liegen. Hungrig humpelte er zum Pfannkuchenstand. Jeder Schritt tat ihm weh. Doch der Duft nach Blaubeerpfannkuchen zog ihn unwiderstehlich an.

„Bitte einen Blaubeerpfannkuchen“, bestellte er bei der rundlichen Verkäuferin. Diese lachte ihn fröhlich an und sagte: „Du siehst aus, als könntest du zwei vertragen.“

„Ja, aber ...“, stammelte Luan.

„Schon in Ordnung“, sagte die Frau und strich die Blaubeermarmelade besonders dick auf die Pfannkuchen. „Der zweite geht auf Kosten des Hauses.“

„Danke“, hauchte Luan, als sie ihm die gerollten Pfannkuchen in die Hand drückte. Luan bezahlte. Erschöpft ließ er sich neben der Bude in den Schnee fallen und biss in den ersten Pfannkuchen. Klebrige Marmelade quoll heraus. Er leckte sie ab. Für einen Augenblick vergaß Luan alles um sich herum. Er fühlte sich wie an Weihnachten. Luan schloss die Augen und biss noch einmal ab. Diesen Moment konnte ihm niemand nehmen. Nicht Mama Berta, nicht die Sipos und nicht die beiden Mädchen, die ihn verraten hatten. Jeden Bissen genoss Luan, bis der letzte Krümel in seinem Bauch verschwunden war. Luan öffnete die Augen. Er sah nur Schuhe und Beine vor sich. Sie wimmelten durcheinander, als gehörten sie nicht einmal paarweise zusammen. Dann sah Luan Beine, die in Trainingsanzügen steckten, ein Zickzackmuster an der Seite. Sie liefen nicht planlos hin und her. Ganz ruhig schritten sie durch die Menge und kamen dabei immer näher.

Hastig sprang Luan auf. Er drückte sich hinter die Pfannkuchenbude. Gebückt drängte er sich weiter bis zum nächsten Stand. Hier herrschte ein furchtbares Geschiebe. Luan quetschte sich hinein. Nicht einmal die Richtung konnte er noch selbst bestimmen. Die Menge presste ihn einfach voran. Egal ob er wollte oder nicht. Für einen Moment fühlte sich Luan sicher. Doch dann sah er das Schild, in dessen Richtung er gedrückt wurde. In goldenen Buchstaben blinkte dort das Wort Ausgang. Luan wollte nicht zum Ausgang. Am Ausgang würden sie sicher stehen. Natürlich würden sie dort warten. Nicht zum Ausgang!

Luan stemmte sich gegen die Masse, versuchte, einfach stehen zu bleiben, wie ein Sack Kartoffeln. Doch er würde höchstens zu Kartoffelbrei zerquetscht werden. Aus diesem Sog gab es kein Entkommen.

Luan sah die verspiegelten Brillengläser aufblitzen und dann die beiden Sipos in ihren Trainingsanzügen, direkt neben dem Ausgang. Hatten sie ihn schon entdeckt? Er nahm seine letzte Kraft zusammen und kämpfte sich zur Seite. Mit jedem Schritt vorwärts gelang ihm ein halber Schritt nach rechts. Er musste dem Sog entkommen. Doch wie ein einzelner Wassertropfen in einem Strudel wurde er einfach mitgezogen.

Die Schattensurfer

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