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3 IM LUNAPARK
ОглавлениеSansibar ließ die Verschlüsse ihrer Schuhe zuschnappen und warf ihre Tasche über die Schulter. Vor dem Spiegel zupfte sie ein paar lila Haarsträhnen zurecht, die zwischen ihren glatten haselnussbraunen Haaren hervorleuchteten. Sie achtete peinlich genau darauf, dass ihre Haare das linke Ohr bedeckten. Sansibar mochte es nicht, wenn man ihr Ohrläppchen sah, denn das war unten so komisch eingekerbt. Als kleines Kind hatte sie einen Unfall gehabt. Papa hatte es ihr erzählt. Sie selbst konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sansibar war beim Spielen mit dem Ohrring an der Schraube eines Klettergerüsts hängen geblieben. Sie hatte es nicht gemerkt und war in den Sand gesprungen. Dabei war der Ohrring herausgerissen. Es musste ziemlich wehgetan haben, vielleicht waren deshalb ihre Erinnerungen daran verschwunden. Den zweiten goldenen Ohrring trug sie immer noch am rechten Ohr.
Sansibar strich über den Bildschirm, der sich wie ein breites Band um ihr Handgelenk zog. Ein TwaddleBand. Nicht gerade das neueste Modell, aber als Kommunikator taugte es noch allemal.
„Papa, ich gehe mit Marella in den Lunapark. Sie nimmt mich auf ihrem neuen Scooter mit“, tippte Sansibar und wusste, dass ihr Vater nichts dagegen haben würde. Ihr Vater verbot nie etwas. Er konnte sich darauf verlassen, dass sie keinen Blödsinn machte. Dazu war sie viel zu vernünftig.
Auf dem Bildschirm erschien ein Mann mit grau durchzogenen Locken. Er hatte seine widerspenstigen Haare mit Gel in eine ordentliche Frisur gezwungen. Auf seinem schwarzen Stirnband schimmerte ein dunkelroter Kristall. Corrado Arbani lächelte Sansibar durch seine Hornbrille an: „Ich wünsch dir viel Spaß, mein Schatz. Bitte denk dran, dass du bis 10 Uhr zu Hause bist, auch wenn heute Freitag ist. Und schick mir ein paar Bilder vom Lunapark. Du weißt, Mama und ich hatten uns damals dort kennengelernt.“
„Klar, mach ich“, sagte Sansibar. Sie dachte an Mama. Sansibar hatte nur ein einziges Bild ihrer Mutter vor Augen. Mama im orangefarbenen T-Shirt. Eine große lila Blume aufgedruckt. Es war damals vor zehn Jahren, mitten in der Nacht.
„Bei mir wird es heute Abend spät werden. Ich habe noch einen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch liegen“, sagte Herr Arbani. „Den Antrag zum Versicherungsschutz der Verwaltungsvereinbarung muss ich heute noch unbedingt bearbeiten. Das ist im Übrigen eine ganz interessante Sache: eine Vereinbarung, die ohne Versicherungsschutz auf Regionalebene …“
Sansibar schluckte, wenn Papa erst einmal anfing zu erzählen, konnte sie ihn kaum noch bremsen. Er war der liebste Papa der Welt, aber eine ziemliche Plaudertasche.
Auf Sansibars TwaddleBand blinkte nun das Bild eines blonden Jungen und wollte Sansibars Vater zur Seite schieben. Dabei verformte es sich wie ein Gummiball, der auf den Boden aufschlug.
„Muss auflegen, Papa. Mika meldet sich.“
Sansibar strich über den Bildschirm. Das Bild ihres Vaters verblasste.
„Kannst du mir Karamellsticks vom Lunapark mitbringen?“
„Klar, mach ich, Mika.“
„Mir bitte auch, Gruß Hannah“, legte sich ein Schriftzug über Mikas Bild. Das Video eines Mädchens mit Helm drängelte sich in den Vordergrund: „Kommst du endlich runter, Sansibar. Ich warte schon eine halbe Ewigkeit vor eurem Haus.“
„Hallo, Marella, bin sofort unten.“
Sansibar öffnete die Wohnungstür und trat hinaus in den schneeweißen Hausgang. Er roch frisch geputzt, nach Kaugummi. Sansibar dachte an früher. Mama hatte das gleiche Putzmittel verwendet. Ich liebe Kaugummiduft, tippte sie auf ihren Bildschirm. Ein paar Freunde schickten Bilder mit nach oben gereckten Daumen.
Sansibar fuhr in der gläsernen Aufzugskapsel nach unten. Die Türen zischten auf und direkt davor wartete Marella mit ihrem nagelneuen Scooter. Er schwebte eine Handbreit über dem Boden. Sanft wie auf Wellen schaukelte er in der Luft. Der Rahmen glänzte milchkaffeefarben. Darum rankten sich hellblaue Blumenmuster. Sie leuchteten. Lässig, als würde sie schon jahrelang Scooter fahren, hielt Marella den weit nach oben geschwungenen Lenker. An den Griffen hingen hellblau blinkende Fransen.
Marella grinste glücklich. Sie hatte den Scooter von ihren Eltern zum Kristallfest bekommen.
Aber noch viel wichtiger war das funkelnagelneue Lackstirnband mit dem klaren Kristall. Er saß vorne, ganz in der Mitte. Jeder erhielt so einen zum Kristallfest. Marella hatte die Prüfung erfolgreich bestanden. Jetzt war sie Mitglied der Gesellschaft. Sie war Teil von RUHL. Noch glänzte der Kristall farblos. Er war durchsichtig wie Fensterglas. Sansibar wusste, dass er seine Farbe ändern würde, wenn Marella der Gesellschaft half. Aber es würde Monate dauern, bis er ein erstes zartes Gelb annehmen würde. Und bis zum Ende der Schulzeit verfärbte sich der Kristall bei den meisten nur in ein kräftiges Zitronengelb. Kaum jemand erreichte ein Dottergelb oder gar Orange. Orange war die nächste Stufe. Manche Erwachsene kamen Zeit ihres Lebens nicht über ein Zitronengelb hinaus. Die vertrockneten Zitronen, wie sie genannt wurden, hatten kaum etwas für die Gesellschaft geleistet. Sie wären auch mit einem Granit gut bedient gewesen. Hinten auf dem Stirnband saß der Protrektor, das technische Herz. Er schickte die freien Gedanken an RUHL.
Bewundernd ging Sansibar um den Scooter: „Der ist echt cool“, sagte sie und pfiff durch die Zähne. „Zu meinem Kristallfest wünsche ich mir auch einen Scooter.“
„Das ist ein Aeroflair 125“, hauchte Marella. Sie strahlte. „Das neue Modell mit Pentussekantrieb.“
„Der fliegt bestimmt wahnsinnig schnell.“
Marella nickte. „Eigentlich schon. Aber meine Eltern haben das Sicherheitspaket installieren lassen. Zu meinem sechzehnten Geburtstag wird es deaktiviert. Das haben sie versprochen.“
Vorsichtig strich Sansibar über das hellblaue Blumenmuster. Der Lack fühlte sich glatt an.
„Nun steig endlich auf“, drängelte Marella. „Du wirst sehen, er fliegt fantastisch.“
Sansibar schwang sich hinter ihrer Freundin auf die Sitzbank. Der Scooter federte weich. Marella startete den surrenden Motor und beschleunigte sanft. Sie lehnte sich in die Kurve und zog auf die Scooterspur. Als wäre Marella schon immer Scooter geflogen, schwebten sie zwischen all den anderen. Lässig nahm Marella eine Hand vom Lenker.
Der Fahrtwind ließ die Hitze des Tages vergessen. Sansibar lehnte sich zur Seite, an Marella vorbei, um mehr von der herrlichen Luft einzuatmen. Sie träumte davon, endlich fünfzehn zu werden, und konnte ihre eigene Kristallfeier gar nicht mehr erwarten. Papa hatte schon angedeutet, dass sie vielleicht auch einen Scooter bekäme. Sicher keinen Aeroflair, aber selbst ein alter Scooter mit Bersolantrieb wäre fantastisch.
Sansibar schaltete die Kamera ihres TwaddleBands ein. Riesige Häuser, deren Spitzen viel zu hoch waren, um auf das Bild zu passen, sausten vorbei. Sansibar richtete die Kamera auf Marella. Ihre Freundin lachte, als gehöre ihr die ganze Welt.
„Das nächste Mal nehmt ihr mich aber auch mit“, meldete sich Hannah. Viele Freundinnen schickten Nachrichten auf Sansibars TwaddleBand. Manche ihrer besten Freundinnen kannte Sansibar nur über den Bildschirm, hatte sie noch nie getroffen.
Marella parkte den Scooter vor dem Lunapark neben all den anderen. Aber nur wenige Scooter sahen so cool aus wie der Aeroflair.
Im Lunapark schossen Achterbahnen durch die Luft wie sich windende Drachen. Sie schienen ständig zusammenzustoßen und wichen dann doch in letzter Sekunde aus. Dabei spien sie Lichtflammen und drehten sich vorwärts und rückwärts oder rollten zur Seite. Sansibar liebte den Höllenritt durch die Luft. Von alten Bildern wusste sie, wie der Lunapark früher ausgesehen hatte. Schwerfällig und schrecklich langsam waren die Achterbahnen damals gefahren. An starre Stahlgestelle gebunden, konnten sie ihren Kurs nicht verlassen, jedes Mal dieselbe Fahrt. Musste das langweilig gewesen sein.
Der Eingang führte durch einen riesigen, orangefarbenen Feuermond. Mitarbeiter in lila Uniformen begrüßten alle Gäste einzeln. Ein Junge, nicht älter als 16, seine roten Haare quollen unter der lila Schirmmütze hervor, eilte auf die beiden zu. Auf seiner Stirn leuchtete ein blassgelber Kristall. Der Junge lächelte Marella an: „Einen wunderschönen guten Abend, Marella. Wir freuen uns, dass du den Lunapark besuchst. Ganz besonders möchte ich dir heute den Golden Surfer empfehlen. Er wird dir gefallen.“
„Woher kennst du den?“, fragte Sansibar ein bisschen neidisch, denn ihren Namen wusste der Junge nicht.
Marella tippte auf ihren wasserklaren Kristall. „Damit bin ich immer eingeloggt: Sie wissen, wer ich bin und welche Fahrgeschäfte besonders gut zu mir passen.“
„Cool“, nickte Sansibar.
„Heute Mittag hat mir der Kristall auch schon geholfen“, erzählte Marella begeistert. „Ich hatte meine Einkaufsliste zu Hause vergessen, aber der Kristall wusste genau, was ich kaufen musste. Und meine ersten zwanzig Punkte habe ich von RUHL auch schon bekommen. Das ist nicht schwierig. Du merkst nicht einmal, wenn deine Gedanken für die Gemeinschaft arbeiten.“
Der Junge mit den roten Haaren drückte Sansibar ein Formular in die Hand. „Du hast leider noch keinen Kristall. Du musst bitte das Formular ausfüllen.“
Sansibar trug alle Daten ein. Was die alles wissen wollten, und trotzdem konnte ihr der Rothaarige nicht ein einziges Fahrgeschäft empfehlen, das zu ihr passte. „Du findest sicher etwas“, sagte er knapp. Dann verschwand er hinter einem Tresen aus Mondstein. Mit einer großen Tüte kam er zurück. Sie war mit blauen Klumpen gefüllt. Lächelnd ging er auf Marella zu, hatte nicht einen einzigen Blick für Sansibar übrig.
„Bitte sehr, Marella, dein Lieblingspopcorn, pflaumenblau, doppelt gezuckert und Mandelgeschmack. Mit besten Empfehlungen vom Lunapark.“
Marella lächelte ihre Freundin an und sagte: „So ist das, wenn man zur Gesellschaft gehört. Man gibt und bekommt von RUHL.“
Sansibar platzte fast vor Neid. Pflaumenmandelpopcorn, einfach so, geschenkt. Nächste Woche würde auch ihr Unterricht für die Kristallprüfung beginnen. Sie konnte es gar nicht erwarten. Endlich. RUHL ist cool, tippte sie in ihren Bildschirm am Handgelenk. Lauter nach oben gereckte Daumen blinkten auf.
Sansibar drückte dem Jungen das ausgefüllte Formular in die Hand. Es dauerte, bis er alles registriert hatte, aber dann durften sie endlich in das Vergnügen eintauchen.
Marellas pflaumenblaues Popcorn schmeckte fantastisch. Das nächste Mal würde Sansibar die gleiche Mischung bestellen.
„Als Erstes gehen wir zum Weltraumschwein. Dann fahren wir den Golden Surfer“, schwärmte Marella. Sansibar nickte. Trauben von Menschen schoben sich durch den Park. Die meisten waren furchtbar aufgeregt, hatten rote Gesichter und plapperten, ohne Luft zu holen. Sansibar starrte dem dicken Paar in den aufblasbaren Anzügen nach und dort drüben den Jugendlichen, die sich an Lianen durch den kleinen Dschungel schwangen. Nur mit einer Hand hielten sie sich fest. Sicher wie Gibbons sprangen sie von Ast zu Ast. Erst jetzt bemerkte Sansibar, dass nicht die Jugendlichen nach den Lianen griffen, sondern sich die Lianen um deren Arme wickelten und sie dann durch den Wald schwangen, bis die nächste Liane übernahm.
„Zu den Schlinglianen gehen wir später“, drängelte Marella und zerrte an Sansibars Arm, als wäre er eine Liane. Sie schob Sansibar in die kleine Gasse neben dem Dschungel. Vor einer Hütte, die wie ein Schweinestall aussah, wartete eine lange Schlange. Ein Misthaufen türmte sich neben dem Eingang auf. Wenigstens stank er nicht. Überall grunzte und quiekte es.
Endlich waren sie an der Reihe. Sansibar bekam ein lilafarbenes Weltraumschwein mit Zottelfell und Astronautenhelm. Sie kletterte auf den hellblauen Sattel. Das Schwein fühlte sich wie ein lebendes Tier an, warm und weich, aber Sansibar wusste, es war nur eine Maschine, obwohl sogar ein Floh über das Fell hüpfte.
Ein Mitarbeiter vom Lunapark, gekleidet wie ein Schweinehirte, streifte Sansibar ein Geschirr aus Gurten über und hakte das Geschirr am Sattel ein. Dann wünschte er: „Wilde Fahrt“ und klatschte mit einer Rute auf das Hinterteil des Schweins.
Das lila Zottelschwein schoss wie eine Rakete aus dem Stall. Es stieg senkrecht in die Luft und kreiste dabei um die eigene Achse. Dann machte es Bocksprünge in schwindelerregender Höhe.
Sansibar kreischte und schrie. Sie krallte sich am Zottelfell fest. Ihr Herz raste. Sie hatte schreckliche Angst abzustürzen. Im nächsten Augenblick raste Marella vorbei, so dicht, dass sie Sansibar fast heruntergerissen hätte. Marella streckte ihre Arme weit von sich und jauchzte. Auf einmal stürzte Sansibars Schwein in die Tiefe. Es trudelte, überschlug sich, drehte sich wie ein Propeller. Sansibar verlor den Halt, ihre Finger rutschten ab. Sie schrie. Für einen Moment glaubte sie zu fallen. Doch mit einem Ruck hing sie in den Gurten, die sie sicher hielten. Der Ritt war der absolute Wahnsinn. Nach viel zu kurzer Zeit landete das Zottelschwein auch schon sanft im Schweinestall. Sansibars Gesicht glühte wie Lava. Sie sprudelte schier über. „Ich liebe das Weltraumschwein“, tippte Sansibar in ihren Bildschirm am Handgelenk.
„Ganz schön mutig“, meldete sich ihr Papa.
„Komm schon, lass uns jetzt zum Golden Surfer gehen, der ist noch viel besser“, drängelte Marella.
Die beiden Mädchen drückten und schoben sich durch die Menge, ans andere Ende des Parks, dort, wo ein gleißend weißer Berg den ganzen Lunapark überragte. Ein dreidimensionaler Hologramm-Schriftzug schwebte funkelnd darüber: Golden Surfer.
Hunderte von Menschen warteten davor. Vier Sipos standen neben dem Eingang.
„Was machen die hier?“, fragte Sansibar. Obwohl Sansibar nichts ausgefressen hatte, meldete sich ihr schlechtes Gewissen beim Anblick der Sicherheitspolizisten. Dabei waren Sipos ausgesprochen höflich. Sie waren im freundlichen Umgang mit den Bürgern geschult. Immer lag ein Lächeln auf ihren Lippen und meistens hatten sie Zeit für einen lockeren Spruch. Wenn man Probleme hatte, halfen sie gerne. Sipos trugen keine militärischen Uniformen mit Schulterklappen, Schirmmütze und Pistolengurt, sondern einen sympathisch blauen Trainingsanzug mit Zickzackmuster an den Seiten, dazu eine blau verspiegelte Brille. Ihre Kristalle saßen auf Frottee-Stirnbändern. Keiner der vier war über ein Orange hinausgekommen.
„Zum Glück sind die Sipos da“, ereiferte sich Marella und nickte wie zur Bestätigung. „Sie sorgen für unsere Sicherheit. Wenn sie nicht hier wären, würden meine Eltern mich niemals alleine in den Lunapark gehen lassen.“
Natürlich hatte Marella recht, aber irgendwie waren Sansibar die Sipos unheimlich. Sansibar mochte sie nicht. Sie wollte ihnen nicht zu nahe kommen. Wenn sie in der Stadt welche sah, wechselte sie immer die Straßenseite. Aber jetzt musste sie ganz dicht an ihnen vorbeigehen. Sansibar dachte an Mama. Wieder tauchte ihr Bild mit dem orangefarbenen T-Shirt auf.
„Lass uns ein Eis in der Surferbar essen. Wenn wir mehr als 30 Euro ausgeben, dürfen wir den V.I.P.-Eingang zum Golden Surfer nehmen. Das geht viel schneller“, schlug Marella vor.