Читать книгу Die Schattensurfer - Hubert Wiest - Страница 6

2 NIE MEHR HÄPPY

Оглавление

Luan hatte keine Ahnung, wie er in sein Bett gekommen war. Er wusste nicht, wie lange seine Ohnmacht gedauert hatte. Minuten, Stunden oder Tage? Sein Kopf dröhnte, als führe eine Autobahn mitten hindurch. Er fühlte sich an wie auf doppelte Größe angeschwollen. Luan ertastete einen turbandicken Verband. „Du hast eine schwere Gehirnerschütterung erlitten“, sagte die Krankenschwester.

Nach zehn Tagen ließ das Hämmern in seinem Kopf endlich nach. Luan konnte kaum noch liegen. Alles tat ihm weh, egal ob er sich auf den Bauch, den Rücken oder die Seite drehte. Stundenlang starrte Luan auf die beiden Poster in seinem Zimmer: Marc Bodin und Eva Hanberg, die besten Computerprogrammierer der Welt. Beide waren erst 20 Jahre alt. Eva Hanberg arbeitete mittlerweile als Chefprogrammiererin für den Computerhersteller Mermox. Marc Bodin war vor einem Jahr verschwunden und blieb seitdem verschollen.

Auf Luans Schreibtisch stapelten sich Computerbauteile. Aus ihnen baute Luan neue Computer, programmierte sie oder reparierte Geräte von Bekannten. Luan legte Wert darauf, dass es Bekannte waren, denn Freunde hatte er keine. Luan traute niemandem. Zu oft war er enttäuscht worden. Die anderen von den Häppy Kidz hatten ihm oft übel mitgespielt. Nur wenn sie Probleme mit Computern hatten, dann kamen sie wieder an.

In den vergangenen Tagen hatte Luan immer wieder überlegt, was er Mama Berta sagen würde, wie er sich verteidigen könnte. Satz für Satz hatte er geplant.

Aber Mama Berta kam nicht. Irgendwann beschloss Luan, selbst zu ihr zu gehen.

Wackelig stand Luan vor dem kleinen Waschbecken in seinem Zimmer. Er begann den Verband von seinem Kopf zu lösen. Links an der Stirn hatte er eine verkrustete Platzwunde. Luan versuchte sein Spiegelbild anzulächeln und verzog die Augen zu Schlitzen. Er streifte sein Lieblings-T-Shirt über, das mit der ceeBand-Werbung.

Dann ging er zur Tür. Luan griff nach dem runden Knauf. Doch der Knauf ließ sich nicht drehen. Die Tür war abgesperrt, verschlossen wie eine Zelle. Luan rüttelte daran, zerrte, riss und drückte. Er polterte gegen die Tür. Er donnerte mit den Fäusten auf den schweren Kunststoff und schrie: „Aufmachen. Ich muss hier raus.“ Immer lauter, aber niemand schien ihn zu hören, als würde kein Laut nach außen dringen.

Plötzlich leuchtete der Bildschirm auf, der über dem Schreibtisch in die Wand eingelassen war. Aus den Lautsprechern drang ein Räuspern und vom Bildschirm lächelte ihn Mama Berta an, zumindest hatte sie ihren strichdünnen Mund ein wenig in die Breite gezogen.

Luan erschrak. Noch nie hatte Mama Berta die Computerkamera genutzt. Das tat sie aus Prinzip nicht. Sie wollte den Leuten lieber direkt in die Augen sehen, nicht durch eine Glasscheibe. Oft genug hatte sie das erwähnt.

Luan ging hinüber zum Bildschirm. Das rote Kameralämpchen blinkte. Mama Berta blickte ihn regungslos an, doch Luan war fast sicher, dass sie zumindest ein wenig lächelte.

„Mama Berta“, haspelte Luan. „Ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen. Ich schwöre, ich werde das Geld zurückzahlen. Immer habe ich meine Schulden beglichen. Schon fünf Mal habe ich mir Geld ausgeliehen. Aber nicht einen Cent bin ich schuldig geblieben. Bitte prüfen Sie es nach! Fragen Sie die Köchin! Es fehlt nichts. Gar nichts. Und auch diesmal hätte ich das Geld zurückgezahlt. Alles. Vertrauen Sie mir!“

Luans Geständnis schien Mama Berta nicht zu beeindrucken. Ernst blickte sie Luan vom Bildschirm herab an. Luan war ganz sicher, dass sie zumindest ein wenig lächelte. Das gab ihm Mut. Er holte Luft und fuhr fort: „Sie wissen doch, ich repariere Computer, helfe Bekannten und dafür muss ich Ersatzteile kaufen: Prozessoren, Speicherbausteine, Controllerchips und all die anderen Tausendfüßler. Tausendfüßler, so nennt man die elektronischen Bauteile. Schwarze Chips mit vielen silbernen Beinchen dran.“ Luan lachte unsicher.

„Luan, du hast uns belogen und bestohlen. Nicht nur einmal, sondern wieder und wieder. Ich habe das überprüfen lassen. Du gehörst nicht mehr zu uns, nicht zu den Häppy Kidz.“

„Das stimmt nicht“, schrie Luan. Er sprang auf und stellte sich vor Mama Bertas Blick. Sie nahm keine Notiz von ihm.

„Luan, du weißt, wir geben allen eine zweite Chance“, sagte Frau Bertowa nüchtern, als würde sie eine Gebrauchsanweisung für Waschpulver vorlesen. „Aber keine vierte oder fünfte. Meine Entscheidung steht fest. Du wirst von der Kristallfeier endgültig ausgeschlossen. Betrüger bekommen keinen Platz in unserer Gesellschaft. Du wirst ein Leben ohne Computer führen müssen.“

Luan krallte sich an der Tischplatte fest. Er flehte: „Nein, Mama Berta, bitte nicht. Ich habe nicht gestohlen! Niemals!“

Doch Frau Bertowa verschwand im dunklen Glas des Monitors. Sie hatte einfach aufgelegt, ihm nicht die kleinste Chance gegeben. Die Monitorscheibe glänzte matt.

Luan stürzte auf sein Bett. Er heulte und schrie. Er packte sein Kissen und donnerte es gegen die Wand. Immer wieder, bis es platzte und Schaumperlen durch das Zimmer rieselten.

Ohne Kristallfeier konnte er vergessen, jemals Programmierer zu werden. Er dürfte nicht einmal einen Computer besitzen und sein ceeBand würden sie ihm abnehmen. Wer es bis zum 17. Geburtstag nicht geschafft hatte, die Kristallprüfung abzulegen, dem wurde der Zugang zu Computern für immer verboten. Dessen Gedanken störten den Geist der Gemeinschaft. Sie waren verdorben wie Müll, hatte er in der Schule gelernt.

Er konnte nicht bei den Häppy Kidz bleiben und abwarten, bis sein 17. Geburtstag ohne Kristallprüfung verstrich. Er musste weg hier, verschwinden. Heute noch. Ein Bekannter hatte einmal erzählt, dass es im Lunapark immer eine Möglichkeit gäbe unterzutauchen. Niemand fragte im Lunapark so genau nach, wenn es darum ging, Fahrgeschäfte zu reinigen oder in den riesigen Kantinen Kartoffeln zu frittieren. Der Lunapark war sein Strohhalm. Dorthin würde er fliehen und Luan fasste einen Plan.

Als würde er schlafen gehen, schlüpfte Luan aus seiner Hose. Ordentlich gefaltet legte er sie über den Stuhl, wie jeden Abend. Dann stieg er in sein Bett und zog die Decke über den Kopf, so wie er es immer tat, wenn er schlief. Er wartete ein paar Minuten, dann wälzte er sich zur Seite, hin und her, wie jede Nacht. Er schnarchte. Es sollte so aussehen als würde er schlafen. Währenddessen rief er unter der Decke von seinem ceeBand die exakte Uhrzeit ab: 18:35.

Luan stellte mit seinem ceeBand eine Verbindung zum Überwachungscomputer der Häppy Kidz her. Nach dem dritten Versuch knackte sein ceeBand das Passwort und Luan war drinnen. Er wählte die Überwachungskamera seines Zimmers aus. Nun musste er nur noch die Liveaufnahme beenden und stattdessen die Aufzeichnung von 18:32 bis 18:35 abspielen. Immer wieder, in einer Endlosschleife. Die Wachmannschaft würde Luan in seinem Bett sehen, wie er schlief und sich hin und her wälzte. Frühestens morgen würde es auffallen, wenn er nicht aufstand. Und dann wäre er längst im Lunapark untergetaucht.

Luan kletterte aus dem Bett und zog sich an. Er ging zum Fenster. Fingerdicke Stahlbolzen verriegelten es von außen. Mit Gewalt ließ sich da nichts machen. Luan setzte einen starken Elektronikmagneten von innen gegen die Scheibe, konzentrierte die Magnetleistung auf die Stahlbolzen und schob sie wie von Geisterhand zu Seite. Jetzt ließ sich das Fenster ohne Widerstand öffnen.

Luan sprang aus dem Fenster. Er ließ sich von den riesigen Blättern der Bananenstaude auffangen und glitt hinunter auf den weichen Boden. Nervös suchte er den Park von Häppy Kidz ab. Da war niemand. Sie saßen alle beim Abendessen. Es war genau der richtige Moment. Luan sprang auf und jagte im Zickzack durch den Park. Er wusste, wo er den Überwachungskameras verborgen blieb. Sein ceeBand zeigte ihm den Weg bis zum Tor.

Am Eingang stand Frau Bertowas Scooter. Es war ein burgunderroter Zweisitzer. Die Polster waren mit braunem Samt bezogen und der vergoldete Bersolantrieb glitzerte im Straßenlicht. Den Code könnte er lässig knacken. Diebstahl, schoss es Luan durch den Kopf. Dann hätte die Bertowa vielleicht doch recht gehabt, ihn von der Kristallfeier auszuschließen. Nein, den Gefallen würde er ihr nicht tun.

Er atmete ganz tief durch. Sein ceeBand zeigte den Fußweg zum Lunapark an. Er würde 57 Minuten und 12 Sekunden brauchen.

Die Schattensurfer

Подняться наверх