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7-Glücksfee-
ОглавлениеDas eiskalte Badewasser und ein Weltmeister-Kater waren am anderen Ende des Zeitlochs. Immerhin hatte die Wassertemperatur meine Gehirnzellen heruntergekühlt und den noch funktionierenden Restzellen ein Stückchen Vernunft eingehaucht. Der Rest war ein gedanklicher Blitzeinschlags, der eine Million Gründe in meinem Hirn spontan entzündete, weshalb ich endlich aus der Wanne raus und mich in einen vorzeigbaren Menschen verwandeln musste, so schwer mir das in meinem miserablen Zustand auch gefallen war.
Hast du schon einmal versucht, mit einer klitschnassen Vollbekleidung aus einer Wanne zu kommen? Das ist alles andere als einfach, wenn die Textilien wie Blei an deinem Körper zerren wie das Biest aus der Tiefe eines Horrorfilmes. Ich gewann den Kampf mit diesem Biest und stand eine entsprechende Weile später vor dem optischen Resultat meiner Badewannennacht.
Dem Lichtschalter hatte ich es zu verdanken, dass er das sprichwörtliche Licht ins Dunkel meiner geistigen Wiederauferstehung brachte. Die Rollos waren ritzenlos geschlossen, das schwachrote Standby-Lämpchen des unverwüstlichen Dual-Plattenspielers war mein winziger Orientierungspunkt. Ich hatte verdammtes Glück gehabt, dass die Kerzen abgebrannt waren, ohne mich dabei selbst abgefackelt zu haben. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Auch das wertete ich als ein Zeichen für den Beginn meiner Glücksserie. Über den zugemüllten Boden kugelten leere Flaschen. Geschirr- und Kochutensilien standen, lagen wahllos verteilt im Irgendwo des Wohn-Schlafzimmers herum, die Küchenspüle war gefüllt mit dem Inhalt des Papierkorbes, den ich auf meiner Lottoquittungssuche umgestülpt hatte. Kurz, es sah aus wie nach einer Straßenschlacht in Bagdad. Eigentlich war das verdammt egal, eigentlich wollte ich schon vor einer Woche ausziehen, aber dann hatte es sich wegen Strapsi von selbst erledigt.
Eine komplette Kanne Kaffee, zwei Schmerztabletten und drei Rühreier später kapierte ich, dass aus dem Montag- Morgen-Vormittag ein Dienstag-Mittag geworden war. Mehr als Vierundzwanzig Stunden traumloses Niemandsland lagen hinter mir, hoffentlich mehr als vierundzwanzig Jahre in Saus und Braus vor mir. Aber davor hatte ich noch die wichtigste Aufgabe meines Lebens zu erledigen und das in meinem desolaten Zustand.
Die warme Dusche und die notgedrungene Auswahl aus dem bescheidenen Inhalt meiner Kleiderstange machten wieder ein menschliches Wesen aus mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass ein einziges Möbelstück von der Unordnung verschont geblieben war. Der kleine Beistelltisch war fein säuberlich aufgeräumt, nur der Lottoschein lag dort wie auf dem Präsentierteller und lachte mich an, oder lachte er mich aus? Nein, er stellte mir Fragen. Brauche ich einen Tresor, eine Alarmanlage, oder eine Diebstahlversicherung und wo verstecke ich die Kohle? Ein ganzer Fragenkatalog ratterte plötzlich durch meinen angeschlagenen Brummschädel und versuchte mir Angst einzujagen. Stopp, Alexa, hol das Geld ab, bring es in Sicherheit… Quatsch, am liebsten hätte ich noch schnell einen kleinen Schluck als Relaxer zu mir genommen, aber das Getränkefach im Kühlschrank war so was von ausgetrocknet wie ein Bachbett im Hochsommer. Kein Tropfen Alkohol auf Sechzig Quadratmeter, selbst der alte Flachmann war staubtrocken. Nein und gut so. Ich musste kühlen Kopf bewahren, entschied mich, die Stones-Platte, die noch auf dem Plattenteller lag, abzuspielen und mich wieder zu beruhigen. Das Album „through the past darkly“ passte irgendwie zur Situation und war die gedankliche Ausgangstür meines Unglücksraben-Lebens.
Ich erinnere mich, dass ich noch ein letztes Mal die Lottozahlen verglich, bevor ich mich auf den Weg in mein neues Leben machte. In der Gewissheit, dass ich diesen Abend völlig neu eingekleidet in einem schönen Hotel verbringen würde, verließ ich mein heruntergekommenes Etablissement mit einer leeren Reisetasche in der Hand, so wie es die Bad Boys in den Action-Streifen immer machen, wenn sie ihre Beute einsacken. Und dann stand ich endlich vor dem Lottoladen, immer noch mit flauem Magen, aufgewühlt wie ein grummelnder Vulkan, extrem nervös und angespannt, ohne zu wissen, wie ich genau dahingekommen war. Nur der Stones-Song -Good bye ruby Tuesday- klang noch immer in meinen Ohren.
Ich wartete und wartete, sie kam nicht. Auch nicht Fünfzehn Minuten, nachdem der Film bereits begonnen hatte. Ich war die arme Sau, die nicht glauben wollte, dass Strapsi mich versetzt hatte. Deprimiert stand ich vor dem Kino mit meinen unerfahren sechzehn Jahren und hatte nicht begriffen, dass noch jemand scharf auf meine pretty woman gewesen war. Ausgerechnet mein Freund, Blutsbruder und Kumpel, dieser dreckige Hundesohn. Musste ja so sein. Sie hatte mir ungeniert am Tag darauf erzählt, dass sie sich lieber mit Fix verabredet hatte, weil er damit angegeben hatte, dass er ein paar Leute aus dem Showgeschäft kennt, die ihr vielleicht bei ihrer Modelkarriere behilflich sein könnten.
Diese Enttäuschung ging tief in mich hinein, tief genug, um die Freundschaft mit Fix abzubrechen. Damals konnte ich nicht wissen, dass es nicht das einzige Mal bleiben sollte. Erst ein ganzes Jahr später habe ich ihn dann doch zur Rede gestellt, mit welchen angeblichen Kontakten er so eine große Lippe riskiert hatte. Was sollte es mich eigentlich wundern, es war tatsächlich nur die steinzeitalte Geschichte von seinem Vater, der aushilfsweise als Roadie auf der zweiundachtziger Tour der Stones Keith Richards kennengelernt hat und ein T-Shirt von ihm geschenkt bekam. Ich habe ihn ausgelacht „Mann, die Geschichte ist doch uralt!“
Fix musste genauso lachen „Ja, das hat Strapsi auch gemeint und ist beleidigt abgezogen“
Es war die Stunde des Siegers, es war meine Stunde. Dazu hatte ich eine Million Gründe, mit leuchtenden Augen und erwartungsverheißender Zuversicht das Lottogeschäft zu betreten. Doch in Wahrheit fühlte ich mich trotz meiner dreiundvierzig Lebensjahre unbeholfen wie ein kleiner Junge, der gerade seine Mutter verloren hat und bar jeder Vorstellung, wie das nun alles ablaufen wird.
Ich war einzig und allein ein fieberndes Nervenbündel, das gerade vor der Lottotante stand wie vor der Lehrerin, der ich auswendig ein benotetes Gedicht aufsagen sollte, das ich vergessen hatte. Und scheiße nochmal, auch meine größte Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Ausgerechnet an diesem Dienstag war die Lotto-Tussi im Laden, die mich nicht leiden konnte. Du spürst das, wenn dich jemand nicht leiden kann. Sie tat es sogar mit ausgesprochener Leidenschaft, jedes Mal, wenn ich regelmäßig wie der Vollmond alle vier Wochen aufgekreuzt bin. Von wegen Susanne Glück, wie auf ihrem Namensschild stand, bei ihr hatte ich noch nie Glück gehabt. Diese Kröte war alles andere als meine Glücksfee. Ich konnte es an ihrem Brillengesicht ablesen, dass ich in ihren Augen nur ein hoffnungsloser Fall in der Armee der einkommensschwachen Unglücksritter war, der seinen zwecklosen Lottoeinsatz besser in einem Pappbecher sammeln sollte. Okay, vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht bei meinem beschissenen Karma. Es war auch nicht meine Idee gewesen, Lotto zu spielen, sondern die glorreiche Schnapsidee von Fix. Aber das lag schon eine Weile zurück.
Nun war das alles egal. Nur zu gerne hätte ich ihre Gedanken lesen wollen, als ich wie immer am Lottoschalter auftauchte. Dabei bin ich mir mit meiner lächerlichen Reisetasche eher wie ein dämlicher Bankräuber vorgekommen als ein Lottogewinner. Ohne die geringste Spur von Souveränität -das Gefängnis der Vergangenheit war noch immer in meinem Kopf gegenwärtig- kramte ich meine Lottoquittung umständlich aus der Hosentasche. Weder konnte ich meinen Schweißausbruch noch das Zittern meiner heiser gewordenen Stimme unterdrücken. Wie ein programmierter Roboter schob ich das lädierte Stück Papier über die verglaste Ladentheke und versuchte dazu artig meinen Text abzuspulen. Aber mehr als ein viel zu zaghaft verkümmertes „ ... ich habe sechs Richtige…“ kam nicht über meine Lippen.
Ich kannte das übliche Susanne-Glück-Ritual nur zu lange und zu gut. Es war stets ein kurzer konzentrierter Blick durch die Brillengläser auf meinen Schein gewesen -die Zahlen kannte sie offensichtlich immer auswendig- und noch bevor sie den Schein in den Scanner steckte, sagte sie mit unverhohlener Genugtuung ihr monotones Sprüchlein auf: „Kein Gewinn, nochmal spielen?“
Dieses Mal sagte sie gar nichts, nicht eine einzige piepmatzkleine Silbe. Dafür galt ihr abfälliger Blick dem Zustand des zerknitterten Lottoscheins. Und anstatt endlich etwas zu sagen oder einfach nur zu gratulieren, streifte Frau Lottoglück unablässig mit ihrer Hand bügeleisenartig über des weiße Zettelchen, das sich vehement dagegen wehrte, das Aussehen eines frisch gebügelten Herrenhemdes anzunehmen. Sie war noch immer ungewöhnlich still geblieben, als sich das sonnengebräunte Susanne-Glück-Gesicht mit ihrem dunkelhaarigen Pferdeschwanz in ein leichenblasses Schaufensterpuppengrau verwandelte.
„Zusatzzahl! …„mein Gott, der Jackpot!“
Keinen einzigen Buchstaben von dem, was sie gerade gesagt hatte, konnte ich auf Anhieb einordnen. Ich war immer noch der stupide Roboter, der programmiert war, einfach diesen Schein abzugeben und als Gegenleistung eine Million mitzunehmen.
Sie stupste nervös an ihrer Brille herum, während ich immer noch wie festgeschraubt dastand, unfähig, das zu kapieren und ergänzte ihre Feststellung nach einem hörbaren Schnaufgeräusch.
„Achtzehn Komma zwei Millionen!“
Ich begriff gar nichts, oder doch? Sagte sie nicht gerade etwas von Achtzehn Millionen Komma nochwas oder so? Was sollte ich nun zuerst tun, die Reisetasche öffnen und auf den Schalter stellen, einen Freudentanz aufführen und den Tarzanschrei versuchen? Nein, ich tat nichts von dem. Mein Körper reagierte auf seine Weise, nur eine winzige Unpässlichkeit und auch nur ein paar kleine Tröpfchen Pisse, die mir unbemerkt entwichen waren.
Ungeachtet davon und jeglicher Sprechfähigkeit beraubt sah ich auf die schmalen Susanne-Glück-Lippen. Sie bewegten sich unaufhörlich. Zu viele Buchstaben schleuderten mir entgegen, so, als ob sie auf eine altmodische Schreibmaschine einhacken würde. Doch meine Fähigkeit, noch irgendetwas davon zu verstehen, geschweige denn zu begreifen war längst verloren gegangen. Völlig wehrlos und ungeschützt ließ ich das Gewitter von Wortfetzen auf mich niederprasseln. Worte wie Form… lar… aus… fü…en Adre… U…schrift Ko… numm… Bera… stelle ...gaben Post …sendung …Zehn … Komma … Millionen … hatten keinerlei Bedeutung und flogen an mir mit der Geschwindigkeit einer Flipperautomaten-Kugel vorbei. Das einzige, was ich festhalten konnte, waren die beiden Wörter: Achtzehn Millionen. Sie hatten sich in meinen Gehörgang festgebohrt. Mein Gott, eine ganze Million und das Achtzehn mal. Ich fieberte, ich fühlte eine aufkommende Schwäche in meinen Beinen, meine Motorik funktionierte nur mehr eingeschränkt, ich begriff gar nichts mehr. Was sollte es mich im Zustand meiner geistigen Vollbremsung auch kümmern, dass Susanne Glück plötzlich ganz anders aussah und warum sich ihr letzter Satz wie ein Fluchen angehört hatte und dass sie danach stumm wie ein Fisch geworden war.
Die ganze Szenerie überrollte mich wie eine gewaltige Lawine. Mir war schon eine ganze Weile schummrig gewesen und nur meine aufgestützten Ellbogen verhinderten, dass ich nicht schon längst weggekippt war. Doch dann ist mir endgültig schwarz vor den Augen geworden, Licht aus.
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen echten Vater hätte haben wollen. Ganz ehrlich, einen Vater, der sich nicht aus dem Staub gemacht hat und einen Vater, der mehr als ein Fragezeichen gewesen wäre. Ich hätte nur einen stinknormalen Vater haben wollen, einen zum Anfassen, einem, dem ich das alles erzählt hätte, den ich um seine Meinung gefragt hätte. Doch das konnte ich eben nicht.
Auch nicht meinen Opa, der war tot. Und meine Mutter? Nein, die hörte doch nur auf diesen Arsch von Stiefvater Willi, der King Kong aller Arschlöcher. Mein kleiner Stief- … nein er war sogar mein Halbbruder, das Herzigrazzi meiner Halbeltern, danke und auch oh nein. Mit ihnen allen hatte ich schon lange mehr kein Wort gesprochen und das aus gutem Grund. In ihren Augen war ich immer nur der Problem-Stephan, das Sorgenkind, der blöde Bengel. Echt scheiße Leute, ausgerechnet jetzt hatte dieser blöde Bengel aber verdammt viel Geld, echt blöd für Euch, dass ich Euch alle genau so wenig leiden kann…
Warum fummelte dieser Mann mit der orangefarbenen Weste an mir herum? Das war das erste gewesen, was ich mir dachte, als ich nach meinem kurzen Knock-out versuchte mich hochzurappeln. Dann bemerkte ich auch die anderen Leute, die um mich herumstanden, sehr neugierig und sehr tatenlos. Die Lotto-Susi dagegen war aus meinem Blickfeld verschwunden.
Restalkohol, es war der verfluchte Restalkohol, der mich im Lottoladen einen undefinierbaren Zeitraum lang zu Boden geschickt hatte. Warum hatte ich einen Kugelschreiber in der Hand? Ach ja, ich habe etwas unterschrieben oder ausgefüllt, aber keine Ahnung was und wie. Gerade noch hatte sich alles gedreht, das Susanne-Glück-Gesicht, das Formular, der Lottoschein, meine Kontonummer, alles ist plötzlich in meiner Gedanken-Wasch-maschine durcheinander gewirbelt worden mit dem Ergebnis, dass am Ende einige Erinnerungsteile verschwunden waren wie die berühmte fehlende Socke nach dem Schleudergang.
Ich musste mir eingestehen, dass ich diese kleinen Aussetzer schon öfters gehabt habe. Es war also nicht das erste Mal und auch keine Seltenheit. In der Suchtklinik haben sie es Begleiterscheinung genannt. Verdammter Blödsinn, es kommt nicht vom Begleiten, sondern vom Saufen. Egal, ein Anlass wie dieser, Entschuldigung, das war etwas ganz -nämlich achtzehn Millionen mal- anderes.
Immer noch quatschte der Sanitäter unnachgiebig wie ein kommunaler Parkplatzüberwacher auf mich ein. Dann sah es für einen dramatischen Moment lang so aus als ob er mir mit seiner Taschenlampe ein Auge ausstechen wollte. Aber zum Glück leuchtete er damit nur direkt in meine Augen und dann hatte ich eine Idee, warum diese Lotto-Susanne so eigenartig geworden war. Natürlich, sie hatte bestimmt deshalb geflucht, weil ich mich so idiotisch angestellt habe als ich dieses Gewinnformular ausfüllte. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass ich sie damit an die Verzweiflungsgrenze gebracht habe. Im Nachhinein empfand ich das sogar verflucht geil, auch wenn es genau in meinem Erinnerungsschatten passiert war. Es war meine kleine Rache für ihr jahrelanges Gehabe gewesen. Aber darauf war geschissen, ich wollte endlich weg, die Millionen spazierten von selbst auf mein Konto, was sollte mich also diese Glück-Susanne, dieser Sanitäter mit seiner Taschenlampen-Waffe und der verdammte Rest noch großartig jucken. Es war höchste Zeit für meinen Abgang.
Ich hatte das, was ich wollte, nämlich soviel Geld, dass ich es gar nicht zählen konnte. Für jemand wie mich, dessen einziges Kapital eine XXL-Mülltonne voller überflüssiger Erfahrungen gewesen war, war das einfach irr und absolut überwältigend wie ein achtes Weltwunder. Keine Überraschung also, dass mir das alles den Boden unter den Füssen weggezogen hatte. Die Wende in meinem Leben hatte in diesem Moment begonnen, der sagenhafte Moment der absoluten Freiheit. Mir war immer noch etwas schwindelig gewesen und ich war noch etwas unsicher auf den Beinen. Aber das alles war ohne Belang. Ich wollte nur weg, nur vorbei an dem Krankenwagen, der mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Eingang zwecklos auf einen Mitreisenden wartete. Ich hatte nur ein einziges Ziel vor Augen.