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4-unglaublich-
ОглавлениеKennst du so einen Tag, an dem du mit dem falschen Fuß aufgestanden bist, dir mit dem anderen so fest die große Zehe an der Bettkante angestoßen hast, dass der höllische Schmerz wie ein Pfeil durch deinen ganzen Körper sticht; du beim Duschen auf der Seife ausrutschst und volle Kante mit dem Hinterkopf gegen die altmodischen Fliesen krachst, dir anschließend eine volle Tasse brühend heißen Kaffees über das frisch gebügelte weiße Oberhemd schüttest; dir ein Rechtsabbieger den Parkplatz wegschnappt, für den du schon unzählige Minuten als Linksabbieger in der Warteschleife stehst und du am liebsten wie ein HB-Männchen in die Luft gehen möchtest; wie du nach zusätzlichen dreißig Minuten Weiter-Parkplatz-Suchen mindestens fünfhundert Meter weit zur Arbeit hetzt, während es wie aus Gießkannen zu schütten begonnen hat und du klitschnass wirst, weil du wie selbstverständlich den Regenschirm zu Hause vergessen hast? Natürlich hast du auch kein passendes Kleingeld für den Parkautomaten dabeigehabt und damit einen deftigen Strafzettel riskiert. Genau so ein Tag muss es gewesen sein, als mich die Gebärmutter zusammen mit ein paar zuvor ausgelaufenen Litern Fruchtwasser gnadenlos ausgespuckt hat in eine Welt, die mit einem Güterzug voller Missgeschicken auf mich gewartet hat um die Katastrophen und Pechsträhnen wie einen Bandwurm durch mein Leben ziehen zu lassen … bis zu diesem denkwürdigen Sonntagvormittag, dreiundvierzig Jahre später, als die Radiostimme sechs Zahlen und eine Zusatzzahl aufzählte.
Nein, ich konnte es einfach nicht glauben. Wieder und wieder stelle ich mir diese Frage, warum genau ich, warum genau jetzt, nach einem Leben, das nicht mehr wert war als ein Hundehaufen am Bürgersteigrand. Warum plötzlich diese wahnsinnige Wende in meinem Leben, in dem das Wort Glück ein Fremdwort gewesen war? Vierzig Jahre eines Lebens, das prall gefüllt war wie ein Fotoalbum mit Erinnerungen an Niederlagen, Enttäuschungen und Reinfällen. Ganz ehrlich, nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich, ausgerechnet ich, der Superlooser meines Jahrgangs. Das war so verdammt abwegig wie eine Kondompflicht beim E-Roller-Fahren, der Eberhofer als weibliche Teilnehmerin bei Guido Kretschmer`s Shopping-Queen, oder eine Friday-for-Future-Demo-Plicht für Außerirdische.
Okay, ich wollte mich ja nicht dagegen wehren, geschweige denn beschweren, keinesfalls, ich wäre ja völlig irre gewesen. Das war alles nur so gigantisch unfassbar gewesen. Doch wie ich über mein bisheriges Leben nachgedacht hatte und das, was mir alles widerfahren war … ja, genaugenommen ich hatte es verdient und zwar so was von verdammt richtig verdient, nachdem das Glück lange genug einen Riesenbogen um mich gemacht hatte. Nun war es nichts anderes als eine Gerechtigkeit die längst überfällig war. Überfällig für mich und um ein Vielfaches mehr gerechtfertigt, als für jeden anderen Lottogewinner auf dieser ungerechten Welt, endlich den großen Wurf zu machen, endlich sorglos auf dem Zebrastreifen meines künftigen Lebens zu wandern.
Hätte mich jemand gefragt, wie ich mich dabei gefühlt habe, ob ich das Bedürfnis hatte, wie ein geköpftes Huhn im Kreis herumzulaufen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr so genau. Wie hätte ich diesen wahnsinnigen Glücks-Meilenstein mit viel zu banalen Worten treffend beschreiben sollen? Irgendwie war ich noch gefangen im Biotop meiner erfolglosen Vergangenheit, als ob ich die alten Fesseln nicht abschütteln könnte. Dabei lag der Schlüssel für meine neue Freiheit direkt neben mir. Ich brauchte ihn nur benutzen, statt mich immer noch mit den idiotischen Gedanken eines Vergangenheits-Versagers zu beschäftigen. Die Karten meiner Zukunft waren neu gemischt worden und diesmal war es mein Joker gewesen.
Die Bilder sind in meinem Kopf immer noch präsent, als ob es gerade passiert wäre. Der Regisseur in meinem Kopf drückt auf den Knopf und spult den ganzen Film noch einmal ab. Meine Augen sitzen in der ersten Reihe einer überdimensionalen Kino-Leinwand in 3D.