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Stalins Terror

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Die zweite große Lebenskatastrophe Michail Gorbatschows ereignete sich im Sommer 1937, als auch der geliebte Großvater Pantelej mitten in der Nacht verhaftet und verschleppt wurde. Damals trafen Stalins sogenannte „Große Säuberungen“ großflächig und in voller Wucht die Bevölkerung, nachdem Verfolgungen, Verhaftungen und Erschießungen schon vorher begonnen hatten. Konstruiert wurden Beschuldigungen wie „wirtschaftliche Sabotage“ oder politische Vergehen wie Spionage, „konterrevolutionäre Tätigkeit“ oder die „Mitgliedschaft in einer illegalen rechtstrotzkistischen Organisation“ und vieles mehr. Stalin verwandelte das ganze Land in einen Ort der Angst, des Misstrauens, der Denunziation, der Paranoia, der völligen Willkür und Rechtlosigkeit. Erneut forderte sein Terror millionenfach den Tod unschuldiger Menschen.

Gorbatschows Großvater Pantelej Gopkalo wurde Opfer einer unfreiwilligen Denunziation. Ein Bezirksfunktionär der Kommunistischen Partei war zuvor verhaftet worden; der Tatvorwurf gegen ihn lautete, Mitglied einer trotzkistischen Organisation zu sein. Leo Trotzki war ein Mitstreiter Lenins, Anführer der Roten Armee und Hauptkonkurrent Stalins um die Nachfolge von Lenin nach dessen Tod. Stalin verdrängte ihn aus dem Machtzirkel und ließ ihn 1940 im mexikanischen Exil ermorden. Der Vorwurf, Mitglied einer trotzkistischen Organisation zu sein, kam 1937 fast immer einem Todesurteil gleich. Unter Folter machte der Bezirksfunktionär das falsche Geständnis, viele Komplizen gehabt zu haben, darunter auch Pantelej Gopkalo. Der war aber nicht nur ein überzeugter Kommunist, sondern auch Stalin-Anhänger und hatte inzwischen sogar eine Führungsposition im Bezirk inne. Mit Trotzki, dem Mitstreiter Lenins und Stalins Hauptkonkurrenten, hatte er nicht das Geringste zu tun. Dennoch wurde auch Gorbatschows Großvater Pantelej Gopkalo gefoltert. Doch er beugte sich nicht und bekannte sich auch nicht schuldig. Neben der Mitgliedschaft in einer trotzkistischen Organisation wurde ihm „subversive Schädlingsarbeit“ in der Kolchose vorgeworfen.

An diese erschütternden Kindheitserlebnisse erinnerte sich Michail Gorbatschow 78 Jahre später immer noch sehr klar:


3 Michail Gorbatschow als Sechsjähriger mit seinen Großeltern mütterlicherseits im Jahr 1937

Es war eine schreckliche Zeit, das Jahr 1937. Schrecklich! Der Großvater mütterlicherseits wurde verhaftet – als Saboteur und Volksfeind. 14 Monate war er eingesperrt und wurde verhört. Seine Frau – also meine Großmutter – zog zu uns. Nach seiner Verhaftung besuchte uns niemand mehr tagsüber. Unsere Verwandten konnten nur nachts kommen, fragten, was sie kaufen könnten, und halfen uns. Unser Haus war das Haus eines Volksfeindes! Nach Abschluss des Verfahrens gegen meinen Großvater lautete das Urteil: Erschießen! Doch dann trat glücklicherweise 1938 eine neue Richtlinie in Kraft, dass die Erschießungsurteile von der lokalen Staatsanwaltschaft bestätigt werden müssten. Großvater wurde freigesprochen! Ich kann mich an das Gespräch erinnern, das er am Abend seiner Rückkehr führte. Am großen Tisch im Dorf saßen alle Verwandten, und er erzählte, wie es gewesen war. Es war erschütternd. Alle weinten. Er hatte es geschafft, alle Folter zu ertragen.8

Als Gorbatschow Jahrzehnte später als lokaler Parteifunktionär die Möglichkeit gehabt hätte, die Vernehmungsprotokolle einzusehen, schreckte er davor zurück – zu groß sei die psychologische Barriere damals noch gewesen. Erst in seinem letzten Amtsjahr als Staatschef der Sowjetunion forderte er die Akten zu seinem Großvater an. Dass ihn die Verhaftung des anderen Großvaters hingegen scheinbar kalt ließ, ist leicht zu erklären. 1934, als Andrej Gorbatschow nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert wurde, war Michail gerade mal drei Jahre alt. Als Pantelej Gopkalo verhaftet wurde, war er hingegen sechseinhalb und somit in einem erinnerungsfähigen Alter. Außerdem wohnte er damals schon mehrere Jahre bei ihm, als das Verhaftungskommando kam. Andrej Gorbatschow, der 1935 wieder nach Priwolnoje zurück durfte, war zudem stets sehr viel strenger mit dem Jungen und hatte ihm aufgrund seiner Armut weit weniger Annehmlichkeiten zu bieten.

Mit seinem Großvater Pantelej hatte Gorbatschow auch seine erste Begegnung mit Deutschen, die ihm gut in Erinnerung blieb. Im Nachbardorf gab es eine deutsche Siedlung, wo Lebkuchen verkauft wurde. „Da hörte ich zum ersten Mal überhaupt von Deutschen, und da sie diesen wohlschmeckenden Kuchen backten, war ich überzeugt, es müssten gute Menschen sein.“9 Erst mit der Einschulung im September 1938 sorgten die Eltern dafür, dass ihr Sohn Michail nicht mehr bei den Großeltern, sondern ständig bei ihnen wohnte. Das Leben normalisierte sich: Stalin ließ den Terror gegen die eigene Bevölkerung weitgehend einstellen und bestrafte jetzt diejenigen, die das Morden in seinem Auftrag ausgeführt hatten – unter ihnen Nikolaj Jeschow, Volkskommissar für innere Angelegenheiten. Er wurde Ende 1938 abgesetzt und 1940 erschossen. Auf diese Weise gelang es Stalin, sich zu entlasten, und selbst Pantelej Gopkalo, der nicht nur verhaftet, sondern auch gefoltert worden war, war zeitlebens felsenfest davon überzeugt, der „große Führer“ habe von all den Ungerechtigkeiten nichts gewusst. Dieses Stalin-Bild übernahm der Enkel von seinem Großvater und hegte es noch in den ersten Jahren seines Studiums in Moskau. Die prägenden Kindheitsjahre in dessen Haus und auch die tiefe Gläubigkeit seiner Mutter Maria waren Ursachen dafür, dass Gorbatschow in seiner Amtszeit als Kreml-Chef erst vorsichtig, dann ganz offen und schließlich sogar durch Gesetze die Religionsfreiheit im Land zuließ und auch festschrieb. Vorher wäre das nicht möglich gewesen, denn entsprechende Vorstöße als Lokalpolitiker hätten das Ende seiner Parteikarriere bedeutet.

Bei seinen Großeltern mütterlicherseits wuchs er zwar in einer Atmosphäre auf, in der politisch nur das Wort der kommunistischen Partei galt, doch führten bei ihnen Bücher von Marx, Engels, Lenin oder Stalin eine friedliche Koexistenz neben Ikonen und Heiligenbildern. Großmutter Wasilisa war sehr gläubig und hatte dies ihrer Tochter Maria erfolgreich weitergegeben. Hinzu kam, dass Großvater Pantelej Religiosität tolerierte, obwohl sie mit der kommunistischen Ideologie an sich nicht vereinbar war. Der junge Michail oder Mischa, wie er daheim und in der Schule genannt wurde, besuchte die Dorfschulen in Priwolnoje: während der ersten vier Jahre ein Gebäude, das inzwischen ein Wohnhaus ist; von der fünften bis zur achten Klasse die „neue“ Schule.10

Es wird nicht überraschen, dass Gorbatschow ein guter Schüler war, auch wenn er die Schule „nur“ mit einer Silbermedaille abschloss, weil er in Deutsch die Bestnote verfehlte. Einige seiner Lehrerinnen gaben nach seinem Machtantritt in Moskau an, er sei schon in der Schulzeit diskussionsfreudig und nie ein Raufbold gewesen, sondern habe immer nur Argumente sprechen lassen. Außerdem habe er Balalaika und Ziehharmonika gespielt und dabei gern und schön gesungen.11

Gorbatschow

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